Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. David Markworth
A. Regelungsgegenstand der §§ 311–318 AktG im System des Aktienkonzernrechts
I. Regelungsanliegen des Rechts faktischer Unternehmensverbindung
Rn. 1
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Das Dritte Buch des AktG, das die "verbundenen Unternehmen" behandelt, stellt die UN-Verbindung durch UN-Verträge als Regelfall in das Zentrum der gesetzlichen Regelung (vgl. §§ 291ff. AktG). In der Praxis wird jedoch häufig auf die Legalisierung der Einflussnahme auf ein abhängiges UN durch einen BHV verzichtet. In der amtlichen Begründung des RegE zum AktG 1965 wurde die "wohl schwierigste Aufgabe des Konzernrechts" darin gesehen, bei einem solchen nicht vertraglich begründeten, rein tatsächlichen Beherrschungsverhältnis Benachteiligungen der beherrschten Gesellschaft zugunsten von Konzerninteressen zu verhindern (vgl. BT-Drs. IV/171, S. 215 (auch Zitat)). Das Aktienrecht lässt die nachteilig wirkende Ausübung von Leitungsmacht gegenüber einem nur faktisch abhängigen UN ausnahmsweise zu (vgl. zur umstrittenen Frage, ob die §§ 311ff. AktG den faktischen Konzern legalisieren oder nur bestimmte Formen der nachteiligen Einflussnahme sanktionslos stellen, HdR-E, Einf AktG §§ 311–318, Rn. 19f.; Habersack, in: FS Peltzer (2001), S. 139 (140); Joost, ZHR 1985, S. 419 (433); ADS (1997), Vorbemerkungen zu §§ 15–18 AktG, Rn. 18), statuiert aber in einem eigenständigen zweiten Abschn. des Dritten Buchs unter der Überschrift "Verantwortlichkeit bei Fehlen eines Beherrschungsvertrags" in den §§ 311–318 AktG enge Rechtfertigungsvoraussetzungen und Schutzmechanismen.
Rn. 2
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Zentrales Regelungsanliegen dieses Abschn. ist ebenso wie in den §§ 291ff. AktG der Schutz der abhängigen AG, KGaA bzw. SE, sowie ihrer außenstehenden Aktionäre und Gläubiger vor den Nachteilen, die sich aus der Einflussnahme durch ein anderes UN ergeben (vgl. Habersack, in: FS Peltzer (2001), S. 139; KonzernR (2022), § 311 AktG, Rn. 1f.; MünchKomm. AktG (2020), Vorbemerkungen zu § 311, Rn. 1). Im juristischen Sprachgebrauch hat sich zur Umschreibung dieser UN-Verbindung der ungenaue Ausdruck "faktischer Konzern" eingebürgert. Missverständlich ist dies für den Bereich des Aktienrechts schon deshalb, weil die Anwendbarkeit der §§ 311ff. AktG gerade kein durch die "einheitliche Leitung" des herrschenden UN definiertes Konzernverhältnis i. S. d. § 18 AktG bedingt. Der vorliegenden Darstellung wird daher der Begriff der faktischen UN-Verbindung zugrunde gelegt.
II. Überblick über den Regelungsinhalt der §§ 311ff. AktG
Rn. 3
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Die §§ 311–318 AktG versuchen das gesetzliche Schutzanliegen durch eine Mischung von Verbotsregelungen, Informationsrechten, neutralen Prüfungen und Sanktionsmaßnahmen in Form von Schadensersatzansprüchen zu verwirklichen. Im Mittelpunkt steht das in § 311 Abs. 1 AktG verankerte Verbot, faktisch abhängige Gesellschaften zu nachteiligen Rechtsgeschäften und Maßnahmen zu veranlassen, sofern nicht gleichzeitig ein Nachteilsausgleich erfolgt. Die Verletzung der Ausgleichspflicht ist durch einen Schadensersatzanspruch gegen die beherrschende Gesellschaft und deren gesetzliche Vertreter sanktioniert (vgl. § 317 AktG). Nur bei einer Mitverantwortung durch Verletzung ihrer Berichtspflicht trifft auch die Verwaltungsmitglieder der abhängigen Gesellschaft gemäß § 318 AktG eine gesamtschuldnerische Mithaftung. Die Effektivität der Sanktionsregeln setzt eine ausreichende Information der zu schützenden Personen über die zu ihrem Nachteil erfolgten Rechtsgeschäfte und Maßnahmen voraus. Flankierend tritt deshalb neben die Verbots- und Ausgleichsvorschriften die Verpflichtung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft, einen Abhängigkeitsbericht aufzustellen, der von dem AP im Rahmen seines allg. Prüfungsauftrags gemäß den §§ 316ff. AktG zu prüfen und dem AR vorzulegen ist (vgl. §§ 312–314 AktG). Geben der Abhängigkeitsbericht bzw. das entsprechende Prüfungstestat des AP Hinweise auf Unregelmäßigkeiten, so können sich die außenstehenden Aktionäre über eine Sonderprüfung die erforderlichen Informationen zur Vorbereitung eventueller Schadensersatzklagen verschaffen (vgl. § 315 AktG). Die Berichtspflichten der §§ 312–315 AktG entfallen, wenn zwischen der abhängigen Gesellschaft und dem herrschenden UN ein GAV abgeschlossen wurde (vgl. § 316 AktG), weil hier die strengeren Gläubigerschutzvorschriften der §§ 302ff. AktG greifen.
III. Entstehungsgeschichte
Rn. 4
Stand: EL 38 – ET: 01/2023
Das AktG 1937 kannte keine den §§ 311ff. AktG vergleichbare Vorgängerregelung. Schon vor Inkrafttreten der Aktienrechtsreform 1965 hatte sich jedoch die Ansicht durchgesetzt, dass die Schädigung einer abhängigen Gesellschaft ohne Nachteilsausgleich unzulässig sei (vgl. KK-AktG (2004), Vorbemerkungen zu § 311, Rn. 1; Luchterhandt, ZHR 1970, S. 1 (8)). Der RefE zur Aktienrechtsnovelle ging noch von einem Verbot jeder nachteiligen Weisung ohne UN-Vertrag aus und sah eine scharfe Erfolgshaftung des herrschenden UN und seiner Organmitglieder für jede von ihm veranlasste nachteilige Maßnahme der abhängigen Gesellschaft vor (vgl. hierzu eingehend Dettling (1997), S. 213ff., 224ff.). Schon der RegE des Jahres 1960 (vgl. BT-Drs. IV/171) hatte auf die heftige Kritik der Wirtschaft diese st...