Das Europäische Gesellschaftsrecht soll für den einheitlichen Binnenmarkt solche Rahmenbedingungen schaffen, dass die gesellschaftsrechtlich verfassten Unternehmen ihren Standort in Europa nach ökonomischen Kriterien wählen können. Die grenzüberschreitende Mobilität von Unternehmen hängt wesentlich von der Niederlassungsfreiheit ab. Der EGV schützt die Niederlassungsfreiheit als eine der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes (Art. 49 bis 55 AEUV). Besonders bedeutsam ist auch die Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 bis 62 AEUV. Ziel des europäischen Gesellschaftsrechts ist der Gesellschafter- und Gläubigerschutz (Art. 50 Abs. 2 Buchst. g AEUV). Das europäische Gesellschaftsrecht ist als Recht der Kapitalgesellschaften konzipiert. Personengesellschaften werden als erwerbstätige Rechtsträger in Art 54 AEUV erfasst und sind Träger der Grundfreiheiten (Kalss, EuZW 2015, 252). Bisher ist das Gesellschaftsrecht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der EU nicht einheitlich geregelt. Das anwendbare Gesellschaftsrecht richtet sich nach den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.
Nach der in Deutschland lange Zeit geltenden "Sitztheorie" unterstand die Gesellschaft stets dem nationalen Recht des Staates, in dem sie ihren Sitz, d. h. ihre tatsächliche Hauptverwaltung, hatte. Nach diesem nationalen Recht war vor allem die Rechtsnatur, die Rechtsfähigkeit und die Haftung bestimmend. Ein Wegzug in einen anderen Mitgliedstaat konnte nach dessen Rechtsordnung andere Wertungen zur Folge haben. In Deutschland wurden daher häufig ausländische Gesellschaften mit Sitz im Inland, welche die Gründungsvoraussetzungen nach deutschem Recht nicht erfüllten, als nicht rechtsfähig behandelt oder in deutsche Personengesellschaften umgedeutet. Damit wurde das Recht verwehrt, ein Gesellschaftsstatut mit Haftungsbeschränkung im ausländischen Recht zu wählen, das den Gesellschaftern geeigneter erschien als das deutsche Recht.
Dagegen gilt nach der "Gründungstheorie" dasjenige Recht, das von den Gründern der Gesellschaft als satzungsmäßiger Gründungsort bestimmt worden ist. Die Rechtsprechung des EuGH brachte Bewegung in den Meinungsstreit. Im "Centros-Urteil" stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass die "Sitztheorie" wegen Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit aufgegeben werden muss.
Im Mitgliedstaat A, nach dessen Gesellschaftsrecht die Einzahlung eines Mindestkapitals nicht gefordert wird, wird eine Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet. Die Gesellschaft ist eine Briefkastenfirma und übt im Staat A keine geschäftlichen Aktivitäten aus. Gesellschaftskapital wird nicht einbezahlt. Dafür wird im Staat B, in dem an sich strengere Vorschriften über die Mindestkapitalausstattung gelten, eine Zweigniederlassung gegründet und die Eintragung in das Gesellschaftsregister des Staates B beantragt. Der Staat B lehnt die Eintragung ab, weil er in der Gründung der Zweigniederlassung eine Umgehung seiner strengeren Vorschriften sieht.
LÖSUNG Die Weigerung der Behörden im Staat B, die Zweigniederlassung einzutragen, verstößt gegen die Niederlassungsfreiheit (EuGH vom 09. 03. 1999 Rs. C-212/97 NJW 1999, 2027, "Centros Ltd."). Die Absicht, die strengen Vorschriften im Staat B zu umgehen, indem dort lediglich eine Zweigniederlassung gegründet wird, steht dem nicht entgegen. Das Gläubigerschutzziel ist nach Auffassung des EuGH nicht erreichbar, weil auch bei einer Ausübung der Geschäftstätigkeit im Staat A die Zweigniederlassung einzutragen gewesen wäre, obwohl dadurch Gläubiger im Staat B ebenso gefährdet worden wären.
In der Entscheidung "Überseering" (EuGH vom 30. 09. 2003 Rs. C-208/00) ging es um die Sitzverlegung von Gesellschaften in einen anderen Mitgliedstaat als Ausprägung der primären Niederlassungsfreiheit. Der EuGH erklärte auch in dieser Entscheidung die Sitztheorie für EU-widrig. Die Entscheidung "Inspire Art" (EuGH vom 30. 09. 2003 Rs. C-167/01) betrifft – ebenso wie die "Centros"-Entscheidung – die Reichweite der sekundären Niederlassungsfreiheit in Form der Errichtung von Zweigniederlassungen von Gesellschaften in anderen Mitgliedstaaten als ihrem Gründungsort. Der EuGH erweiterte darin die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen im europäischen Binnenmarkt erneut und entzog der Sitztheorie endgültig den Boden.
Die Entscheidungen "Centros", "Überseering" und "Inspire Art" des EuGH beseitigten damit alle Barrieren gegen den Zuzug von Gesellschaften aus Mitgliedsländern der EU. Im Ergebnis führt die EuGH-Rechtsprechung dazu, dass ein Mitgliedstaat zwar den Wegzug von einer in seinem Land gegründeten Gesellschaft beschränken kann, ein anderer Mitgliedstaat aber bei einem Zuzug der Gesellschaft die Rechte des Mitgliedstaates und damit auch die Rechte der Gesellschaft beachten muss. Die Verlegung des Verwaltungssitzes einer Gesellschaft kann nicht mehr zum Verlust der Rechts- und Parteifähigkeit im Zuzugsstaat führen. Damit treten die nationalen Rechtsordnungen in einen Wettbe...