Prof. Dr. Uwe Grobshäuser
Waren bisher ausländische Kapitalgesellschaften mit Sitz in der Europäischen Union an einer deutschen Kapitalgesellschaft beteiligt und waren die Dividenden in dem ausländischen Sitzstaat der Gesellschafterin steuerfrei (vergleichbar der deutschen Regelung in § 8b Abs. 1 KStG), so stellte sich stets das Problem der Anrechnung der deutschen Quellensteuer (Kapitalertragsteuer). Vergleichbar der deutschen Regelung in § 34c EStG erfolgt eine Anrechnung ausländischer Steuern nur dann, wenn die entsprechenden ausländischen Einkünfte einer Besteuerung unterliegen. Damit konnten die ausländischen Gesellschafterinnen die im Ausland gezahlte Quellensteuer in ihrem Sitzstaat regelmäßig nicht anrechnen lassen. Eine Abhilfe bot die Europäische Mutter-Tochter-Richtlinie, wonach bei einer Beteiligung von mindestens 10 % eine Quellensteuer (Kapitalertragsteuer) nicht erhoben werden darf, wenn die Gesellschafterin ihrerseits eine Kapitalgesellschaft ist. Problematisch waren aber diejenigen Fälle, in denen die Beteiligung unter der Grenze von 10 % lag. Hier kam es wegen § 43 Abs. 1 Nr. 1 EStG weiterhin zum Abzug einer Kapitalertragsteuer, obwohl diese im Sitzland der Gesellschafterin regelmäßig nicht angerechnet wurde. Der EuGH (Urteil vom 20. 10. 2011, C 284/09, DStR 2011, 2038) sah darin eine Diskriminierung ausländischer Gesellschafterinnen, da deutsche Muttergesellschaften die Kapitalertragsteuer im Rahmen ihrer Körperschaftsteuerveranlagung anrechnen lassen konnten. Zur Beseitigung der Diskriminierung standen mehrere Verfahren zur Diskussion (z. B. Verbot der Erhebung von Kapitalertragsteuer auch bei einer Beteiligung von unter 10 % – Änderung des § 43b EStG).
Der Gesetzgeber entschied sich dazu, § 8b Abs. 1 KStG dahingehend zu verschlechtern, dass für alle Streubesitzdividenden (d. h. Beteiligung unter 10 %) künftig nach § 8b Abs. 4 KStG die Steuerfreiheit der Dividende wegfällt. Dies bedeutet, dass alle Streubesitzdividenden, die ab 01. 03. 2013 zufließen, zu 100 % besteuert werden. Damit werden die Gesellschafterinnen schlechter gestellt als im Teileinkünfteverfahren (Erfassung nur zu 60 %). Des Weiteren tritt nun bei Beteiligungen über mehrere Ebenen der sog. Kaskadeneffekt ein.
Die M-GmbH ist zu 5 % an der T-GmbH beteiligt. Diese erhält ihrerseits 5 % der Anteile an der E-GmbH. Die E-GmbH erzielt einen Gewinn i. H. v. 1 Mio. EUR, den sie als Dividende an die T-GmbH ausschüttet. Diese schüttet die Dividende weiter an die M-GmbH aus. Diese schüttet die Dividende dann an die natürliche Person G aus. Von ursprünglich 1 Mio. EUR Gewinn landen dann beim Gesellschafter G:
Gewinn |
Steuer |
Mögliche Dividende |
E-GmbH:1 Mio. EUR |
Ca. 30 % (KSt + SolZ + GewSt) = 300 000 EUR |
der E-GmbH: 700 000 EUR |
Dividende T-GmbH: (Gewinn 700 000 EUR × 5 % =) 35 000 EUR |
Ca. 30 % = 10 500 EUR |
der T-GmbH: 24 500 EUR |
Dividende M-GmbH: 24 500 EUR |
Ca. 30 % = 7 350 EUR |
der M-GmbH: 17 150 EUR |
Dividende G:17 150 EUR |
25 % ESt + 5,5 % SolZ = 4 523 EUR |
Nettoertrag G: 12 627 EUR |
Von einem ursprünglichen Gewinn i. H. v. (1 Mio. EUR × 5 % =) 50 000 EUR verbleiben dem Gesellschafter aufgrund des Kaskadeneffekts lediglich 12 627 EUR (= 25,25 %). Die Steuerlast beläuft sich auf 37 373 EUR / 50 000 EUR = 74,75 % und ist daher mit dem Halbteilungsgrundsatz des BVerfG nicht mehr zu vereinen.
Damit die Dividende steuerfrei bleibt, muss die Mindestbeteiligung von 10 % nach dem Wortlaut von § 8b Abs. 4 KStG grundsätzlich zu Beginn des Kalenderjahres vorliegen, in dem die Ausschüttung beschlossen wird.
Die M-GmbH erwarb in 2015 15 % der Anteile an der T-GmbH. Im April 2018 veräußert die M-GmbH 8 % der Anteile. Im Mai 2019 beschließen die Gesellschafter der T-GmbH die Ausschüttung einer Dividende für das abgelaufene Wj. 2018.
LÖSUNG Da die M-GmbH am 01. 01. 2019 nicht zu mindestens 10 % an der T-GmbH beteiligt ist, fällt die Dividende unter § 8b Abs. 4 KStG und ist voll steuerpflichtig.
Der Erwerb von mindestens 10 % gilt als zu Beginn des Kalenderjahres erfolgt (§ 8b Abs. 4 Satz 6 KStG).
Die M-AG erwarb im Juni 2019 15 % der Anteile an der T-AG. Die Gesellschafter der T-AG beschließen im August 2019 eine Dividende für das abgelaufene Wj. 2018.
LÖSUNG Obwohl die M-AG am 01. 01. 2019 überhaupt nicht an der T-AG beteiligt war, wird zum 01. 01. 2019 eine Beteiligung von 15 % und damit mindestens 10 % fingiert. Die Dividende ist damit nach § 8b Abs. 1 KStG steuerfrei.
Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 8b Abs. 4 Satz 6 KStG gilt die Rückwirkungsfiktion nur bei Erwerb einer mindestens 10 %igen Beteiligung. Es ist daher nicht möglich, durch Aufstockung einer Streubesitzbeteiligung die Rückwirkung zu erreichen.
Die X-AG erwarb in 2017 6 % der Anteile an der Y-GmbH. Im Mai 2019 erwirbt sie weitere 12 %. Im August 2019 beschließen die Gesellschafter für das abgelaufene Wj. 2018 eine Dividende.
LÖSUNG Die Rückwirkungsfiktion greift nicht. Da die X-AG am 01. 01. 2019 nicht zu mindestens 10 % beteiligt ist, ist die Dividende für s...