Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit einer Zustellung bei unterlassenem Zustellungsvermerk auf der Sendung. Erlass von Einkommensteuer und Umsatzsteuer 1960 bis 1962

 

Leitsatz (amtlich)

Unterläßt der Postbedienstete den nach § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO vorgeschriebenen Vermerk des Tages der Zustellung auf der Sendung, so ist die Zustellung nicht unwirksam, jedoch werden die in § 9 Abs. 2 VWZG (§ 187 Satz 2 ZPO) bezeichneten Fristen nicht in Lauf gesetzt.

 

Normenkette

ZPO § 191 Nr. 6, § 195 Abs. 2 S. 2, § 187 S. 2; VwZG § 3 Abs. 3, § 9 Abs. 2

 

Tenor

Unterläßt der Postbedienstete den nach § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO vorgeschriebenen Vermerk des Tages der Zustellung auf der Sendung, so ist die Zustellung nicht unwirksam, jedoch werden die in § 9 Abs. 2 VwZG (§ 187 Abs. 2 ZPO) bezeichneten Fristen nicht in Lauf gesetzt.

 

Gründe

I.

Der I. Senat des Bundesfinanzhofs hat durch Beschluß vom 4. Juni 1975 I R 236/74 (BFHE 116, 257) das bei ihm anhängige Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Gemeinsamen Senat die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt,

ob der gemäß § 3 Abs. 3 VwZG i.V.m. § 195 Abs. 2 ZPO vorgeschriebene Datumsvermerk auf der zuzustellenden Sendung für die Wirksamkeit der Zustellung wesentlich ist.

Dem Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Dem Bevollmächtigten der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war das Urteil des Finanzgerichts ausweislich der Postzustellungsurkunde am 11. Oktober 1974 durch Übergabe an die Ehefrau zugestellt worden. Am 12. November 1974 hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Revision einlegen lassen. Die Revisionsschrift enthielt den Zusatz: "Zur Begründung beziehen wir uns auf den bisherigen Vortrag. Weitere Begründung erfolgt innerhalb von vier Wochen."

Auf den Hinweis des Vorsitzenden des I. Senats des Bundesfinanzhofs, daß die Revision verspätet eingelegt worden sei, beantragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 9. Dezember 1974 - beim Bundesfinanzhof eingegangen am 16. Dezember 1974 -, ihr wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Bevollmächtigte versicherte, er habe das Urteil des Finanzgerichts nicht am 11., sondern am 16. Oktober 1974 erhalten. Hinsichtlich des beurkundeten Zustellungsdatums halte er einen Irrtum oder Schreibfehler des Postbediensteten nicht für ausgeschlossen. Auf dem - von ihm vorgelegten - Briefumschlag sei weder ein Poststempel mit Datum angebracht, noch sei der Tag der Zustellung durch den Post bediensteten vermerkt worden. Er - der Bevollmächtigte - habe deshalb sofort das Empfangsdatum "16.10.74" handschriftlich auf dem Briefumschlag vermerkt. Die Zustellung sei unwirksam, weil der durch § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO vorgeschriebene Vermerk fehle; eine beglaubigte Abschrift der Zustellungsurkunde sei nicht übergeben worden. - Im übrigen enthält das Schreiben vom 9. Dezember 1974 Ausführungen zur Begründung der Revision.

Der vorlegende Senat hält die Revision für zulässig. Die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Revision seien nicht in Lauf gesetzt worden, weil das Urteil des Finanzgerichts dem Bevollmächtigten der Klägerin nicht wirksam zugestellt worden sei. Entgegen der herrschenden Meinung sei der durch § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO vorgeschriebene Datumsvermerk für die Wirksamkeit der Zustellung wesentlich. Die Frist sei daher nicht in Lauf gesetzt worden.

An einer entsprechenden Entscheidung sieht sich der I. Senat des Bundesfinanzhofs aufgrund § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes - RsprEinhG - vom 19. Juni 1968 (BGBl I, 661) gehindert, weil er von den nachfolgend bezeichneten Entscheidungen oberster Gerichtshöfe des Bundes abweichen würde:

  1. Beschluß des Bundessozialgerichts vom 1. Februar 1960 4 RJ 393/61, NJW 1962, 838,
  2. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. April 1964 IV ZR 127/63, Versicherungsrecht 1964, 746 und
  3. von dem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Februar 1972 IV B 114.71, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 340, § 3 VwZG Nr. 2, Die öffentliche Verwaltung 1972, 391.

Der IV. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden I. Senats des Bundesfinanzhofs nicht angeschlossen.

Die Klägerin und der Beklagte des Ausgangsverfahrens haben sich im Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat zur Sache nicht geäußert, jedoch ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

II.

Die Vorlage ist zulässig.

Gemäß § 2 Abs. 1 RsprEinhG entscheidet der Gemeinsame Senat, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofes oder des Gemeinsamen Senats abweichen will.

1.

Mit der Rechtsauffassung, die der vorlegende Senat der beabsichtigten Entscheidung über die Revision zugrunde legen will, würde er von der Rechtsauffassung, auf der der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts IV B 114.71 beruht, abweichen. Diese Entscheidung ist als letzte von den drei Entscheidungen ergangen, denen der Bundesfinanzhof nicht folgen will (vgl. dazu Beschluß des Gemeinsamen Senats vom 6. Februar 1973 GmS-OGB 1/72, BFHE 109, 206).

Mit dem erwähnten Beschluß hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Entscheidung beruht auf der Ansicht, § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO sei eine reine Ordnungsvorschrift, deren Verletzung nicht die Unwirksamkeit der Zustellung zur Folge habe. Die in § 3 Abs. 3 VwZG ausgesprochene Verweisung auf § 195 Abs. 2 ZPO lasse erkennen, daß das Verwaltungszustellungsgesetz diese Vorschrift in der Bedeutung und mit der Gewichtigkeit habe übernehmen wollen, die ihr im Rahmen des Zivilprozeßrechtes zukomme. Nach der ständigen - bis fast in die Entstehungszeit der Zivilprozeßordnung zurückreichenden - Rechtsprechung des Reichsgerichts und dem Schrifttum sei es, soweit ersichtlich, unbestritten, daß es sich bei der Forderung, den Zustellungstag zu vermerken, lediglich um eine Ordnungsvorschrift handele, deren Verletzung nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung führe.

2.

Das wortlautgemäße Verständnis der Vorlagefrage würde indessen der aus dem Vorlagebeschluß erkennbaren Absicht des Bundesfinanzhofs nicht gerecht. Der I. Senat des Bundesfinanzhofs hat - dies beweist die im Vorlagebeschluß angeführte Rechtsprechung - die Vorlagefrage mit dem oben dargestellten Wortlaut gestellt, weil er im Falle ihrer Bejahung in Abweichung z.B. von dem Beschluß des Bundessozialgerichts 4 RJ 393/61 und dem Urteil des Bundesgerichtshofs IV ZR 127/63 die Revision, da fristgerecht eingelegt, für zulässig halten möchte. In Wahrheit will der Bundesfinanzhof die Frage geklärt wissen, ob die Revisionsfrist in Lauf gesetzt wird, wenn der zustellende Postbedienstete den Vermerk des Tages der Zustellung der Vorschrift des § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO zuwider unterlassen hat. Unter III der Gründe des Vorlagebeschlusses hat der Bundesfinanzhof unter Hinweis auf § 9 Abs. 2 VwZG ausgeführt, die Revisionsfrist sei nicht in Lauf gesetzt worden, wenn die dem Vorlagebeschluß zugrunde liegende Rechtsansicht zutreffe.

Die entgegengesetzte Rechtsauffassung liegt dem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts IV B 114.71 zugrunde. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht in diesem Beschluß ausdrücklich nur ausgesprochen, daß eine Zustellung gemäß § 3 VwZG auch dann wirksam sei, wenn der Postbedienstete auf dem übergebenen Umschlag das Zustellungsdatum falsch vermerkt habe, und die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision deshalb zurückgewiesen. Ersichtlich liegt jedoch dieser Entscheidung die der Meinung des vorlegenden Senats des Bundesfinanzhofs entgegengesetzte Rechtsauffassung zugrunde, daß die Unterlassung des Vermerks nach § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Zustellung nicht unwirksam mache und deshalb die Rechtsmittelfrist in Lauf gesetzt worden sei. Dies zeigt der Hinweis auf den Beschluß vom 1.2.1971 BVerwG IV CB 147.68, DVBl 1971, 418 und das Urteil vom 7.1.1972 BVerwG IV C 41.70, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 406.11 § 30 Nr. 5, die sich auf den Lauf der Rechtsmittelfrist beziehen. Von der im Beschluß BVerwG IV B 114.71 angeführten Rechtsprechung des Reichsgerichts betreffen die Urteile vom 10.6.1902 VII 117/02, RGZ 52, 11, vom 23.3.1903 394/02 IV, JW 1903, 176, vom 9.3.1908 582/07 IV, JW 1908, 277 und vom 6.2.1919 IV 360/18, Warneyer 1919, 116, in denen die Wirksamkeit der Zustellung bejaht wird, den Lauf der Rechtsmittelfrist.

III.

Die vorgelegte Rechtsfrage, die nach dem oben unter II. 2 dargelegten Verständnis geklärt werden soll, ist gemäß § 9 Abs. 2 VwZG zu bejahen.

1.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgericht (vgl. außer den oben bezeichneten Entscheidungen die Urteil vom 5.10.1887 I 205/87, RGZ 19, 423, vom 6.6.1891 65/91 I, JW 1891, 386 und vom 15.6.1892 71/92 V, JW 1892, 331, die Beschlüsse vom 22.10.1898 B 182/98 IV, JW 1898, 640, vom 23.6.1900 B 83/1900 V, JW 1900, 564, vom 21.3.1929 VI B 7/29 RGZ 124, 22 und vom 23.4.1931 VIII B 15/31, JW 1931, 2365 sowie das Urteil vom 27.10.1931 II 329/31, RGZ 133, 365) ist eine Zustellung nicht deshalb unwirksam, weil es der die Zustellung bewirkende Bedienstete unterlassen hat, eine beglaubigte Abschrift der Zustellungsurkunde zu übergeben (§ 195 Abs. 2 Satz 1 ZPO) oder den Tag der Zustellung auf der Sendung zu vermerken (§§ 195 Abs. 2 Satz 2, 212 ZPO). Dieser Rechtsprechung sind das Bundessozialgericht (Beschluß 4 RJ 393/61), der Bundesgerichtshof (Urteil IV ZR 127/63) und das Bundesverwaltungsgericht (Beschluß vom 27.2.1956 (BVerwG V B 237.54)/(V C 245.54) und Beschluß IV B 114.71) gefolgt.

Der Gemeinsame Senat sieht keinen Anlaß, diese auch im Schrifttum überwiegend anerkannte Rechtsauffassung aufzugeben.

2.

Hieraus folgt indessen nicht, daß im Ausgangsverfahren die Revisionsfrist in Lauf gesetzt worden wäre. § 9 VwZG hat diese Rechtsfolge ausgeschlossen.

a)

§ 9 VwZG ist dem § 187 ZPO nachgebildet, der mit seinem heutigen Wortlaut durch die Verordnung zur Vereinfachung und Vereinheitlichung des Zustellungsrechts vom 9.10.1940 (RGBl I, 1340) in die Zivilprozeßordnung eingefügt und durch Art. 2 Nr. 20 (vgl. auch Art. 9) des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens- und des Kostenrechts vom 12.9.1950 (BGBl S. 455) bestätigt worden ist. Beide Vorschriften sind im gleichen Sinne auszulegen. Es ist kein Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, den gleichen Rechtsgedanken für verschiedene Gerichtsbarkeiten verschieden anzuwenden.

Gemäß § 9 Abs. 1 VwZG gilt ein Schriftstück, dessen formgerechte Zustellung nicht nachgewiesen werden kann, oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Dies gilt nicht, wenn mit der Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage, eine Berufungs-, Revisions- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt. Zum Schutze des Zustellungsempfängers schließt § 9 Abs. 2 VwZG für diese Fälle die durch Abs. 1 angeordnete Heilung des Zustellungsmangels aus; die Frage, ob die Zustellung als solche im Sinne der früheren Rechtsprechung wirksam oder unwirksam ist, ist in diesem Zusammenhange unerheblich (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8.10.1964 III ZR 152/63, NJW 1965, 104). Die Vorschrift verhindert lediglich den Eintritt des Fristlaufs für die in ihr bezeichneten Fristen.

b)

§ 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO, der gemäß § 3 Abs. 3 VwZG für Zustellungen nach Maßgabe des Verwaltungszustellungsgesetzes durch die Post gilt, ist eine zwingende Zustellungsvorschrift, ein zwingendes Gebot an den die Zustellung Ausführenden (Urteil des Reichsgerichts II 329/31, RGZ 133, 368). Dies ergeben der Wortlaut und der systematische Zusammenhang, in den die Vorschrift gestellt ist.

Nach § 195 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist von dem Postbediensteten eine Zustellungsurkunde aufzunehmen, in der bezeugt sein muß, daß die ihrer Anschrift und ihrer Geschäftsnummer nach bezeichnete Sendung sowie die Abschrift der Zustellungsurkunde übergeben worden sind. Gemäß Satz 2 der genannten Vorschrift kann die Übergabe der Abschrift der Zustellungs-Urkunde dadurch ersetzt werden, daß der Postbedienstete den Tag der Zustellung auf der Sendung vermerkt. Auch dies muß er urkundlich bezeugen.

Zwar schreibt § 195 Abs. 2 Satz 1 ZPO im Gegensatz zu § 190 Abs. 3 Satz 1 ZPO, der für die Zustellung durch den Gerichtsvollzieher gilt, nicht ausdrücklich vor, daß die Abschrift der Zustellungsurkunde (zusammen mit der zuzustellenden Sendung) übergeben werden muß; auch ordnet Satz 2 der Vorschrift nicht ausdrücklich an, daß der Tag der Zustellung auf der Sendung vermerkt werden muß. Das Gesetz setzt dies jedoch voraus. Das vorgeschriebene Zeugnis in der Zustellungsurkunde über die Übergabe der Abschrift dieser Urkunde oder über den Vermerk des Tages der Zustellung auf der Sendung sind nur auf der Grundlage zwingend vorgeschriebenen Vollzuges dieser Handlungen denkbar. § 212 ZPO, der für die Zustellung von Amts wegen gilt, bestätigt diese Auffassung. Nach dieser Norm ist für die Beurkundung der Zustellung § 195 Abs. 2 ZPO mit der Maßgabe anzuwenden, daß eine Abschrift der Zustellungsurkunde nicht zu übergeben, der Tag der Zustellung jedoch auf der Sendung zu vermerken ist.

 

Unterschriften

Dr. Fischer

Dr. v. Wallis

Dr. Fürst

Dr. Müller

Wannagat

Oppenheimer

Döllerer

Clauß

Meßmer

 

Fundstellen

Haufe-Index 1456181

JZ 1977, 105

Dieser Inhalt ist unter anderem im Erbschaftsteuergesetz-Kommentar enthalten. Sie wollen mehr?