Leitsatz (amtlich)

›Ordnet der Vorsitzende in den Mitwirkungsgrundsätzen an, daß der Spruchkörper in Sachen mit bestimmter Endziffer ohne ihn entscheidet, so liegt darin in der Regel die Feststellung, wegen Überlastung mit Rechtsprechungsaufgaben an der Mitwirkung in allen Sachen verhindert zu sein. Eine solche Feststellung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden und ist für das Revisions- und das Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich bindend.‹

 

Gründe

I. Durch Beschluß vom 26. November 1992 (VII ZR 250/91) hat der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes die Revision der damaligen Beklagten und jetzigen Antragstellerin gegen das Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 19. September 1991 nicht angenommen. An dieser Entscheidung war nach den mit Wirkung vom 1. September 1992 geänderten senatsinternen Mitwirkungsgrundsätzen vom 14. August 1992 der Vorsitzende nicht beteiligt. Die entsprechende Bestimmung sah vor, daß der Senat über Revisionen mit der Endziffer 0 in einer Sitzgruppe unter dem Vorsitz des stellvertretenden Senatsvorsitzenden entscheidet. Eine vergleichbare Regelung ist in den Mitwirkungsgrundsätzen für das Jahr 1993 nicht enthalten.

Gegen den Nichtannahmebeschluß hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 25. Juni 1993 Nichtigkeitsklage erhoben. Sie macht geltend, der VII. Zivilsenat sei bei seiner Entscheidung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil in der Person des Vorsitzenden eine Verhinderung im Sinne des § 21 f Abs. 2 GVG (wie etwa Krankheit, Beurlaubung, anderweitige dienstliche Verpflichtungen) nicht vorgelegen habe. Grund für seine unterbliebene Mitwirkung sei allein die Sitzgruppenbestimmung in den Mitwirkungsgrundsätzen gewesen. Diese verstoße aber gegen das Gesetz. Dem Vorsitzenden sei es nicht gestattet, nach § 21 g GVG im voraus eine bestimmte Zahl von Sachen zu bestimmen, an welchen er entgegen § 21 f Abs. 1 GVG nicht teilnehme. Von dieser Anordnung habe ihr Prozeßbevollmächtigter erstmals am 3. Juni 1993 Kenntnis erlangt.

Die Antragstellerin beantragt,

1. den Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 26. November 1992 - VII ZR 250/91 - aufzuheben,

2. a) das mit der Revision angefochtene Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 19. September 1991 - 2 U 4084/90 - aufzuheben, soweit mit ihm zum Nachteil der Antragstellerin erkannt worden ist,

b) auf die Berufung das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 15. November 1990 - 12 O 9360/85 - abzuändern und die Klage abzuweisen sowie die Anschlußberufung zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Nichtigkeitsklage abzuweisen.

II. 1. Die als Wiederaufnahmeantrag anzusehende Klage ist statthaft. Ein Nichtannahmebeschluß beendet das Verfahren wie ein Urteil und unterliegt deshalb auch dem Wiederaufnahmeverfahren (vgl. BVerfG, NJW 1992, 1030, 1031; BGH, Beschl. v. 30. März 1993, X ZR 51/92, NJW 1993, 1596). An die Stelle der Nichtigkeitsklage tritt ein entsprechender Antrag, über den durch Beschluß zu entscheiden ist (BVerfG aaO.; BGH, Beschl. v. 18. November 1982, III ZR 113/79, NJW 1983, 873; BAG, Beschl. v. 18. Oktober 1990, 8 AS 1/90, NJW 1991, 1252, 1253; BFHE 152, 426; BFH, Beschl. v. 29. Januar 1992, VIII K 4/91, NJW 1992, 1062, 1063; Alternativkomm. ZPO/Greulich § 578 Rdn. 30; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann aaO. Grundz. § 578 Rdn. 14; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht 15. Aufl. § 159 III 3; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl. vor § 578 Rdn. 40).

2. Der am 28. Juni 1993 bei Gericht eingegangene Antrag ist rechtzeitig innerhalb der Monatsfrist des § 586 Abs. 1 ZPO gestellt worden, weil der Prozeßbevollmächtigte der Antragstellerin von den Mitwirkungsgrundsätzen des VII. Zivilsenats erst am 3. Juni 1993 Kenntnis erhalten hat.

3. Die Antragstellerin hat schließlich, was Zulässigkeitsvoraussetzung ist (RGZ 75, 53, 56; BGH, Beschl. v. 30. März 1993, X ZR 51/92, NJW 1993, 1596; BFH, Beschl. v. 29. Januar 1992, VIII K 4/91, NJW 1992, 1062; Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Albers, ZPO, 52. Aufl., § 579 Rdn. 2; MünchKomm-ZPO/Braun, § 589 Rdn. 7; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO 21. Aufl. § 589 Rdn. 1; Zöller/Schneider, ZPO 18. Aufl. § 589 Rdn. 1), einen gesetzlichen Wiederaufnahmegrund, nämlich die fehlerhafte Besetzung des VII. Zivilsenats, schlüssig behauptet. Sie macht der Sache nach geltend, die Vertretungsregelung in den Mitwirkungsgrundsätzen sei gesetzwidrig, weil es hierfür an einem Verhinderungstatbestand fehle. Dies reicht, um die Zulässigkeit des Antrags zu begründen.

III. Der Antrag hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

1. Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt der Antragstellerin, daß der Vorsitzende eines Senats gemäß §§ 21 f Abs. 1, 139 GVG grundsätzlich in allen Sachen den Vorsitz zu führen hat. Ist er dauernd verhindert, so ist es gemäß § 21 e Abs. 3 GVG Sache des Präsidiums, die Geschäftsverteilung der durch die Verhinderung entstandenen Situation anzupassen (BGH, Urt. v. 27. September 1988, 1 StR 187/88, NJW 1989, 843 m.w.N.). Eine Vertretung des Vorsitzenden durch den vom Präsidium bestimmten stellvertretenden Vorsitzenden ist gemäß § 21 f Abs. 2 GVG nur dann zulässig, wenn der Vorsitzende zur Führung des Vorsitzes tatsächlich oder rechtlich vorübergehend nicht in der Lage ist. An diese Bestimmung ist der Vorsitzende bei seiner Anordnung nach § 21 g Abs. 2 GVG gebunden (BGHZ 9, 291, 293; BGHSt 21, 131, 133; BGHZ 96, 258, 260; BGH, Urt. v. 17. November 1967, 4 StR 452/67, NJW 1974, 512, 513; Urt. v. 28. Mai 1974, 4 StR 37/74, NJW 1974, 1572 f; BFH, Urt. v. 7. Dezember 1988, I R 15/85, NJW 1989, 3240; Kleinknecht/Meyer, StPO 41. Aufl. § 21 f Rdn. 4; Kissel, GVG 2. Aufl. § 21 g Rdn. 16 und § 59 Rdn. 7; Löwe-Rosenberg/Schäfer, StPO 24. Aufl. § 21 f Rdn. 14; MünchKomm-ZPO/Wolf § 59 GVG Rdn. 9 und § 21 f GVG Rdn. 6; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 551 Rdn. 4; Zöller/Gummer, ZPO 18. Aufl. § 21 f GVG Rdn. 5; Müller, NJW 1974, 2242, 2244; Sangmeister, EWiR 1993, 993 f). Er kann jedoch in der Anordnung eine in seiner Person bestehende - vorübergehende - Verhinderung selbst feststellen und die für diesen Fall erforderliche Zusammensetzung des Spruchkörpers bestimmen, wenn die Verhinderung entweder wie im Urlaubs- oder Krankheitsfall offenkundig oder durch Rechtsprechungsaufgaben in dem Spruchkörper veranlaßt ist und Vertreter aus einem anderen Spruchkörper nicht benötigt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 21. März 1989, 4 StR 98/89, StRV 1989, 338; v. 5. April 1989, 2 StR 39/89, StRV 1989, 338, 339; Beschl. v. 22. Juni 1993, X ZB 16/92, ZIP 1993, 1340). Die Vertretungsregelung hat allerdings die für die Mitwirkungsgrundsätze allgemein bestehenden Anforderungen (vgl. BGH, Beschl. v. 5. Mai 1994, VGS 1-4/93, NJW 1994, 1735, 1738 f.) zu beachten. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

2. a) Mit der in den Mitwirkungsgrundsätzen vom 14. August 1992 enthaltenen Anordnung seiner turnusmäßigen Vertretung für 1/10 der Revisionen hat der Vorsitzende sowohl seine Teilverhinderung festgestellt als auch die zur Entscheidung berufene Sitzgruppe nach einem abstrakten Merkmal, nämlich der Endziffer 0, im voraus bestimmt. Eine solche Inzidentfeststellung ist zulässig. Denn die Feststellung selbst bedarf keiner besonderen Form. Es reicht deswegen aus, daß sie in einer für das Wiederaufnahmegericht nachprüfbaren Weise nach außen erkennbar getroffen wird. Die Anordnung der turnusmäßigen Vertretung kann aber bei objektiver Betrachtungsweise von einem außenstehenden Beobachter nicht anders verstanden werden, als daß der Vorsitzende sich damit für verhindert erklärt, an allen Sachen mitzuwirken. Eine Begründung enthalten die Mitwirkungsgrundsätze allerdings nicht. Eine solche ist aber auch nicht vorgeschrieben. Sie ergibt sich hier für jedermann erkennbar aus den Umständen. Die von der Antragstellerin beanstandete Vertretungsanordnung ist lediglich für das letzte Tertial des Jahres 1992 erlassen worden. Weder für die Zeit vorher noch für das Geschäftsjahr 1993 hat der Vorsitzende eine entsprechende Regelung getroffen. Da die Änderung der Geschäftsverteilung innerhalb eines Spruchkörpers im Laufe des Geschäftsjahres nur unter den in § 21 g Abs. 2 GVG genannten Voraussetzungen möglich ist und die Tatbestände der ungenügenden Auslastung, des Wechsels oder der dauernden Verhinderung einzelner Mitglieder nach dem Inhalt der geänderten Mitwirkungsgrundsätze hier ausscheiden, kann die Anordnung seiner turnusmäßigen Vertretung für den Rest des Jahres 1992 bei verständiger Betrachtung nur bedeuten, daß der Vorsitzende sich wegen Geschäftsüberlastung - zeitlich begrenzt - für teilweise verhindert erklärt hat. Diese Feststellung ist hinsichtlich ihrer tatsächlichen Grundlagen für das Gericht im Wiederaufnahmeverfahren ebenso bindend (RGZ 115, 157, 159) wie in einem Revisionsverfahren. Sie kann nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der Verhinderung verkannt worden ist (BGH, Urt. v. 27. September 1989, 1 StR 187/88, NJW 1989, 843, 844; Urt. v. 5. April 1989, 2 StR 39/89, StRV 1989, 338, 339; Kissel, GVG, 2. Aufl., § 21 e Rdn. 31; Löwe-Rosenberg/Schäfer, StPO, 24. Aufl., § 21 f GVG Rdn. 18; Kissel, Festschrift Rebmann, 1989, S. 63, 74; Lerch, DRiZ 1988, 255; Rieß, NStZ 1982, 296; Schrader, StRV 1991, 540, 591; Schorn/Stanicki, Die Präsidialverfassung der Gerichte aller Rechtswege, 1975, S. 97; a.A. Roever, Diss. 1962, S. 100; Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil II, § 338 Rdn. 8) oder die Feststellung aus anderen Gründen auf Willkür beruht (vgl. BGH, Beschl. v. 5. Mai 1994, VGS 1-4/93, NJW 1994, 1735). Dies ist hier nicht der Fall.

b) Die Entscheidung des Vorsitzenden hat den Begriff der nur vorübergehenden Verhinderung im Sinne des § 21 f Abs. 2 GVG nicht verkannt. Dieser Tatbestand liegt nach gefestigter Rechtsprechung des Großen Zivilsenats des Bundesgerichtshofes u.a. auch dann vor, wenn der Zuständigkeitsbereich eines Senats nach der Geschäftsverteilung von vornherein so groß bemessen ist, daß nicht alle Sachen unter dem Vorsitz des ordentlichen Vorsitzenden entschieden werden können. In diesem Fall muß nur gewährleistet sein, daß der Vorsitzende mindestens 75 % seiner Aufgaben selbst wahrnimmt (BGHZ 37, 210, 214; 49, 64; BGH, Urt. v. 10. März 1970, VI ZR 234/68, NJW 1970, 901). Diese Rechtsprechung ist zwar zu § 66 Abs. 1 GVG a.F. entwickelt worden, sie gilt aber für § 21 f Abs. 2 GVG n.F. unverändert fort. Es ist daher nach wie vor zulässig, daß bei Geschäftsüberlastung der Vorsitzende in der Anordnung nach § 21 g Abs. 2 GVG im voraus seine turnusmäßige Vertretung unter Beachtung des notwendigen Umfangs seiner Mitwirkung im Senat regelt (Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Albers, ZPO, 52. Aufl., § 21 f GVG Rdn. 4; Kissel, GVG, 2. Aufl., § 21 g Rdn. 8; Löwe-Rosenberg/Schäfer, StPO, 24. Aufl., § 21 f GVG Rdn. 23; MünchKomm-ZPO/Wolf, § 21 f Rdn. 3; Schorn/Stanicki, Die Präsidialverfassung der Gerichte aller Rechtswege, 1975, S. 128; Zöller/Gummer, ZPO, 18. Aufl., § 21 f GVG Rdn. 3; Groß, NJW 1969, 1312; ebenso trotz grundsätzlicher Bedenken für den Fall eines überbesetzten BGH-Senats Müller, DRiZ 1974, 41, 47).

Ob und in welchem Umfang der Vorsitzende eines mit sechs Beisitzern besetzten Senats durch den Geschäftsanfall im Senat überlastet ist, ist - wie die Überlastung eines anderen Richters - im wesentlichen eine Wertungsfrage, weil Art und Umfang der zur Entscheidung anstehenden Sachen, sonstige Aufgaben und vor allem auch Arbeitsweise, Kenntnisse, Erfahrungen und persönliche Eigenschaften des Richters eine maßgebliche Rolle spielen (vgl. BGH, Urt. v. 5. April 1989, 2 StR 39/89, StRV 1989, 338, 339; Kissel, GVG, 2. Aufl., § 21 e Rdn. 130). Die Entscheidung lag deswegen hier im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden; dafür, daß er den bestehenden Ermessensspielraum überschritten hätte, fehlt jeder Anhaltspunkt. Da vorliegend auch der notwendige Umfang seiner Mitwirkung im Senat gewahrt wurde, wäre der Nichtigkeitsgrund der fehlerhaften Besetzung nur dann gegeben, wenn die Feststellung des Verhinderungsfalles auf Willkür beruhte. Dies ist aber weder behauptet worden noch ersichtlich.

Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist daher mit der Kostenfolge aus § 91 ZPO als unbegründet abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993295

NJW 1995, 335

BGHR GVG § 21f Abs. 2 Vertretung 1

ZIP 1994, 1885

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