Entscheidungsstichwort (Thema)
Beauftragung von Landwirten mit Kanalisationsarbeiten durch eine Gemeinde
Leitsatz (amtlich)
- Der Haftungsausschluß nach den §§ 636 ff. RVO betrifft auch Ansprüche aus Amtspflichtverletzung.
- Zur Frage der groben Fahrlässigkeit bei Herbeiführung eines Arbeitsunfalls (hier: Einsturz eines ungesicherten Kanalisationsgrabens).
- Die Subsidiaritätsklausel des § 839 Absatz 1 BGB findet auf Rückgriffsansprüche nach §§ 640, 641 RVO keine Anwendung.
- Der auf die §§ 640, 641 RVO gestützten Regreßforderung des SVT kann nicht entgegengehalten werden, daß der Verunglückte an dem Arbeitsunfall mitschuldig sei.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1; BGB § 839; RVO § 640 Abs. 1, §§ 641, 638 Abs. 1, § 642 Abs. 2; GG Art. 34; RVO §§ 1542, 636, 640
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. Juni 1971 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen der Beklagten zur Last.
Tatbestand
Die Beklagte, eine kleine, zum Amtsverband M. gehörende Gemeinde ließ im Winter 1963/64 unter ihrem damaligen Bürgermeister Vitus M. Kanalisationsarbeiten ausfuhren, durch die ein im Sommer 1963 neu errichtetes Haus an die gemeindliche Kanalisation angeschlossen werden sollte. Zunächst wurde beschlossen, die erforderlichen Arbeiten einem Tiefbauunternehmen zu übertragen. Davon nahte der Gemeinderat der Beklagten auf Anregung der in der Gemeinde ansässigen Landwirte S. und T. wieder Abstand und betraute stattdessen die vorgenannten Landwirte mit der Ausführung der Arbeiten.
Die Amtsverwaltung M. hatte zunächst keine Kenntnis von den beabsichtigten Kanalbaumaßnahmen. S. und T. führten die Arbeiten mit Unterstützung von vier weiteren Bewohnern der Beklagten durch; es handelte sich um die Aushebung eines etwa 190 m langen Grabens, in den Kanalrohre verlegt und der anschließend wieder verfüllt werden sollte. Sie benutzten für die Arbeiten lediglich Handwerkzeug; Verbaumaterial zur Abstützung des Grabens hatten sie nicht. Nach Beginn der Arbeiten erhielt die Amtsverwaltung M. Kenntnis von den Kanalbauarbeiten. Dem Bürgermeister M. wurde die weitere Ausführung wegen Fehlens der nach dem Landeswassergesetz erforderlichen Genehmigung untersagt. Dennoch ließ er die Arbeiten weiter betreiben. Er suchte die Baustelle fast täglich auf, um sich von der ordnungsgemäßen Ausführung der Arbeiten zu überzeugen.
Am 2. März 1964 kam es zu einem Unfall bei dem S. tödliche Verletzungen erlitt. S. und T. waren zusammen mit einem von ihnen als Hilfskraft zugezogenen Arbeiter damit beschäftigt, in den an der betreffenden Stelle etwa 2,80 m tiefen, an der Oberkante etwa 0,50 m breiten Graben Betonrohre zu verlegen. Die Grabenwände standen senkrecht ohne Verbau. Der Erdaushub lagerte bis an den Grabenrand. S. und T. befanden sich im Graben, der Arbeiter über ihnen auf dem Grabenrand, von wo aus er mit einem Drahtseil ein Betonrohr heruntergelassen hatte. Die gegenüberliegende Grabenwand gab nach und stürzte in einer Länge von 6 m ein. S., der in gebückter Haltung im Graben stand, wurde von den Erdmassen verschüttet und konnte nur noch tot geborgen werden. T. erlitt einen Schlüsselbeinbruch.
M. wurde wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt.
In einem von der Witwe S. gegen den Gemeinde-Unfall-Versicherungs-Verband Rheinland/Pfalz durchgeführten, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren hat das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz den Unfall als Arbeitsunfall im Sinne von § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO anerkannt.
Die klagende Landesversicherungsanstalt hat in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus der Rentenversicherung der Witwe S. bis zum 31. Mai 1968 Leistungen von insgesamt 7.532,90 DM erbracht. Mit vorliegender Klage verlangt sie, gestutzt auf die §§ 640, 641 RVO, von der beklagten Gemeinde Erstattung dieses Betrages nebst Zinsen und die Feststellung, daß die Beklagte auch künftige Aufwendungen aus diesem Schadensereignis zu erstatten habe.
Sie ist der Auffassung, der Bürgermeister Marx habe als seinerzeit vertretungsberechtigtes Organ der Beklagten den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt. Der Auftrag für die gefährlichen Ausschachtungsarbeiten habe nicht an S. und T. erteilt werden dürfen, da weder sie noch ihre Hilfskräfte über die erforderliche Sachkunde und das notwendige Arbeitsgerät und Verbaumaterial verfügt hätten. Zumindest habe M. für eine sachkundige Leitung und Aufsicht sorgen müssen. Auch habe er versäumt, auf die Einhaltung der von der Tiefbau-Berufsgenossenschaft erlassenen Unfallverhütungsvorschriften (im Folgenden UVV) zu achten. Er habe sich sogar über das von der Amtsverwaltung M. verfügte Verbot, die Arbeiten fortsetzen zu lassen, hinweggesetzt.
Die Beklagte hält die Klage nicht für begründet. Sie hat vorgetragen, alle an den Kanalbauarbeiten beteiligten Personen hätten die Grabungsarbeiten bei der steinigen und standfesten Beschaffenheit des Erduntergrundes für völlig ungefährlich gehalten, S. und T. hätten über hinreichende Kenntnisse und Erfahrungen für die Durchführung derartiger Erdarbeiten verfügt. Die Arbeiten seien ihnen als selbständigen Unternehmern übertragen worden, Daher sei die Beklagte nicht aufsichtspflichtig gewesen. Keinesfalls liege eine grobe Fahrlässigkeit ihres damaligen Bürgermeisters M. vor. Im übrigen überwiege das Mitverschulden des Verunglückten S., der über gute Erfahrungen in Kanalisationsarbeiten verfügt habe, so erheblich, daß daneben für eine Verantwortlichkeit der Beklagten kein Raum mehr sei. Da überdies wegen der hoheitlichen Natur der durchgeführten Arbeiten überhaupt nur eine Amtspflichtverletzung im Sinne von § 839 BGB in Betracht gezogen werden könne, scheitere ein Anspruch der Klägerin wegen der Subsidiaritätsklausel durch die in ihrer Person begründete "anderweitige" Ersatzmöglichkeit (Satz 2 des § 839 Abs. 1 BGB).
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben.
Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht bejaht eine Haftung der beklagten Gemeinde nach, den §§ 640 Abs. 1, 641 RVO.
1.
Es stellt fest, das Verlegen der Kanalisationsrohre sei unter den gegebenen Umständen für die in dem Graben befindlichen Arbeiter lebensgefährlich gewesen. Der Erdaushub des ohnehin tiefen und schmalen Grabens habe bis zum Grabenrand hin gelagert und das Gewicht der Erdmassen, die auf die Grabenwände druckten, noch verstärkt. Die Arbeiten seien unmittelbar nach einer Frostperiode abgebrochen worden, Frostaufbruch aber sei erfahrungsgemäß geeignet, die Standfestigkeit des Bodens zu beeinträchtigen. Auf einen Verbau des Grabens habe unter diesen Umständen allenfalls dann verzichtet werden dürfen, wenn der Boden im Grabungsbereich wirklich standsicher gewesen wäre. Das sei jedoch, wie das Berufungsgericht dem in dem Strafverfahren gegen den Bürgermeister erstatteten Gutachten des Sachverständigen Dipl. Ing. Heiles entnimmt, nicht der Fall gewesen. Bis zu einer Tiefe von etwa 1 m habe der Boden aus schiefrigem Lehmboden bestanden. Darunter habe plattiges, zerklüftetes und brüchiges Schiefergestein angestanden, das mit dem Pickel habe gelöst werden können. Über eine ausreichende Sachkunde habe keine der an den Arbeiten beteiligten Personen verfügt. Sie alle seien Landwirte gewesen. Eine Ausbildung im Tiefbau habe keiner besessen. Ihre Erfahrungen hätten bloß darin bestanden, daß sie einige Male bei Tiefbauarbeiten ausgeholfen hätten. Daß der Verunglückte oder einer der übrigen Beteiligten zu irgendeiner Zeit den Bau eines Kanalgrabens, wie er hier herzustellen gewesen sei, verantwortlich durchgeführt habe, werde von der Beklagten selbst nicht behauptet.
2.
Von diesen Feststellungen ausgehend kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, daß der Bürgermeister M. objektiv grob fahrlässig gehandelt habe, als er die Kanalisationsarbeiten in eigener Regie ohne fachliche Bauaufsicht habe durchfuhren lassen.
Auch in subjektiver Hinsicht könne ihm nicht der Vorwurf erspart, bleiben, in besonders schwerwiegender Weise die gebotene Sorgfalt außer acht gelassen zu haben. Zwar habe er weder über eine Ausbildung im Tiefbau, noch über einschlägige Erfahrungen verfügt. Auch als einem Laien habe ihm jedoch die Gefährlichkeit der Arbeiten auffallen müssen, zumal ihm aufgrund seiner mehrfachen Besuche an der Baustelle die gesamten, vorstehend geschilderten Umstände genau bekannt gewesen seien. Auf eine angebliche Sachkunde der an den Kanalbauarbeiten beteiligten Personen habe er sich nicht verlassen dürfen. Möge es sich auch um sonst zuverlässige Leute gehandelt haben, so habe er doch gewußt, daß keiner von ihnen über eine Ausbildung im Tiefbau und über hinreichende Erfahrungen im Bau eines so tiefen Kanalgrabens verfügt habe. Wenn M. sich heute damit zu entschuldigen suche, er habe S. und T. als selbständige Unternehmer angesehen und sich daher auch keiner Aufsichtspflicht bewußt sein können, so stehe dem schon entgegen, daß er die ordnungsgemäße Durchführung der Rohrverlegung anfänglich fast täglich kontrolliert habe. Auch habe er in der Unfallanzeige an den Gemeinde-Unfall-Versicherungs-Verband Rheinland/Pfalz eindeutig zum Ausdruck gebracht, die Arbeiten seien von der Beklagten "in eigener Regie" ausgeführt worden. Das rechtfertige die Feststellung, daß der Bürgermeister sich als verantwortlich für die Baustelle betrachtet habe. Sowohl objektiv als auch subjektiv habe für ihn deshalb dringende Veranlassung bestanden, eine sachkundige Person oder Verwaltungsstelle - etwa die Abteilung Bauamt bei der Amtsverwaltung M. - einzuschalten. Gerade letzteres habe besonders nahe gelegen, da nach § 10 Abs. 2 des Selbstverwaltungsgesetzes für Rheinland-Pfalz Teil B i.d.F. vom 5. Oktober 1954 die Amtsverwaltung ohnedies über die Beschlüsse der Gemeindevertretung bezüglich der Erweiterung der gemeindlichen Kanalisation und deren Durchführung hätte unterrichtet werden müssen.
II.
Die gegen diese Ausführungen des angefochtenen Urteils gerichteten Revisionsangriffe sind nicht begründet.
1.
Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, daß der tödliche Unfall S. ein Arbeitsunfall war. Das Landessozialgericht hat mit bindender Wirkung (§§ 638 Abs. 1, 642 Abs. 2 RVO) festgestellt, daß zwischen der beklagten Gemeinde und dem verunglückten S. ein Arbeitsverhältnis begründet war, somit ein Arbeitsunfall vorliegt, bei dem die Gemeinde die Stellung eines Unternehmers hatte.
2.
Es ist auch nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht die beklagte Gemeinde zu den privilegierten Personen der §§ 636 ff RVO rechnet. Der Haftungsausschluß dieser Bestimmungen betrifft auch Ansprüche aus Amtspflichtverletzung (Seitz, Ersatzansprüche der SVT nach §§ 903 und 1542 RVO 2. Aufl. S. 244 Nr. 7; Gesamtkommentar RVO § 636 Anm. 9; Glaser in Soergel/Siebert, BGB 10. Aufl. § 839 Rdnr. 165; vgl. für §§ 898, 899 RVO a.F. RGZ 167, 385, 390).
3.
Dem Berufungsgericht ist ferner darin beizupflichten, daß M. bei Erteilung des Auftrags zu den Kanalarbeiten und bei der Überwachung der Arbeiten in Ausführung der ihm als Bürgermeister obliegenden Aufgaben (§ 50 Selbstverwaltungsgesetz für Rheinland/Pfalz i.d.F. vom 5. Oktober 1954 Teil A - GVBl Rheinland-Pfalz 1954, 117) handelte, womit neben der Haftung des Bürgermeisters (§ 640 Abs. 1 RVO) auch eine Haftung der Beklagten begründet ist (§§ 640, 641 RVO), falls der Bürgermeister den Arbeitsunfall grobfahrlässig verursachte.
4.
Daß das Berufungsgericht die grobe Fahrlässigkeit bejaht, kann aus Rechtsgründen nicht beanstandet werden.
Über die Frage, ob eine Fahrlässigkeit im Einzelfall als grob anzusehen ist, hat der Tatrichter unter Würdigung aller Umstände nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu befinden. Daher kann seine Entscheidung in der Revisionsinstanz nur daraufhin geprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt ist, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt sind oder ob wesentliche Umstände unter Verletzung des § 286 ZPO nicht berücksichtigt sind. Ohne Erfolg versucht die Revision darzutun, daß dem Berufungsgericht hier solche Rechtsfehler zur Last fallen.
a)
Die Revision rügt zunächst, das Berufungsgericht habe nicht berücksichtigt, daß der Gemeinde-Unfallversicherungsverband bei Inanspruchnahme durch die Witwe S. selbst sich auf den Standpunkt gestellt habe, S. und T. hätten die Kanalbauarbeiten als selbständige Unternehmer durchgeführt. Auch das Sozialgericht habe diese Auffassung geteilt. Erst das Landessozialgericht sei zu einer anderen Würdigung gelangt. Dann aber könne auch dem Bürgermeister nicht daraus der Vorwurf grober Fahrlässigkeit gemacht werden, daß auch er S. und T. als selbständige Unternehmer angesehen und deshalb eine Aufsichtspflicht der Gemeinde verneint habe.
Die Rüge ist nicht begründet. Die Revision übersieht, daß das Berufungsgericht ausdrücklich feststellt, der Bürgermeister sei entgegen seiner späteren Darstellung damals selbst davon ausgegangen, die Kanalisationsarbeiten würden von der Gemeinde "in eigener Regie" durchgeführt. Diese Feststellung beruht auf keinem Rechtsfehler. Es mag zwar sein, daß die wiederholten Kontrollen, die der Bürgermeister an der Baustelle durchführte, für sich allein nicht den Schluß zuließen, er habe die Beklagte als verantwortlichen Unternehmer der Kanalisationsarbeiten angesehen. Das Berufungsgericht hat jedoch seine Überzeugung, M. habe bei den Kontrollgängen in Erfüllung der der beklagten Gemeinde obliegenden Aufsichtspflicht gehandelt, nicht nur auf die Ausübung der Kontrollen, sondern aufgrund weiterer Anhaltspunkte, insbesondere der eigenen Darstellung von Marx in der Unfallanzeige gewonnen. Hiergegen lassen sich rechtliche Bedenken nicht erheben.
Soweit die Revision die der genannten Unfallanzeige durch das Berufungsgericht zuteil gewordene Würdigung beanstandet, versucht sie in unzulässiger Weise, die Beweiswürdigung des Tatrichters durch ihre eigene Beurteilung zu ersetzen. Rechtsfehler vermag sie nicht aufzudecken.
b)
Die Revision rügt ferner, die Auffassung des Berufungsgerichts, für den Bürgermeister M. habe nach allen ihn bekannten Umständen dringende Veranlassung bestanden, eine sachkundige Person oder Verwaltungsstelle einzuschalten, beruhe auf Nichtbeachtung wesentlicher Umstände.
Auch das trifft nicht zu. Wie die an dem Kanalbau Beteiligten, insbesondere S. und T., und andere Ortseinwohner die Standfestigkeit des Erdreichs im Grabenbereich einschätzten, wäre für die Beurteilung des Verhaltens des Bürgermeisters nur dann von Bedeutung, wenn es sich dabei um das Urteil 1 von Personen handelte, die über hinreichende einschlägige Kenntnisse und Erfahrungen verfügten. Gerade das aber hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint. Damit erübrigte sich die Vernehmung der von der Beklagten zu ihrer Behauptung, das Erdreich im Grabungsbereich sei von allen Beteiligten als standfest angesehen worden, angebotenen Zeugen. Unerheblich ist auch, ob der Verunglückte und die übrigen an den Kanalisationsarbeiten Beteiligten als zuverlässige, mit Erdbauarbeiten bestehe vertraute Kräfte bekannt waren. Selbst wenn das zutreffen seilte, durfte der Bürgermeister sich darauf nicht verlassen. Ihm war bekannt, daß keiner der Beteiligten eine Ausbildung im Tiefbau erfahren hatte und ihre einschlägigen Erfahrungen sich auf gelegentliche Aushilfsarbeiten beschränkten. Zur verantwortlichen Durchführung eines Kanalbaus der gegebenen Art reichte das angesichts der damit verbundenen großen Gefahr für Leben und Gesundheit der beteiligten Arbeiter nicht aus.
III.
Nicht beigetreten werden kann der Auffassung der Revision, einer Inanspruchnahme der Beklagten stehe die Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB entgegen. Die in Urteil des Senats vom 19. Januar 1971 (VI ZR 251/69 = VersR 1971, 448) noch offengelassene Frage, ob den auf §§ 640, 641 RVO gestützten Ansprüchen die Subsidiaritätsklausel entgegengehalten werden kann, war nunmehr zu entscheiden. Sie ist zu verneinen.
1.
Es fehlt schon an den tatbestandlichen Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung des § 839 BGB i.V. mit Art. 34 GG, da der Bürgermeister keine ihm gegenüber der Klägerin obliegende Amtspflicht verletzt hat. Die Pflicht, die UVV zu beachten - insoweit kommt ein Verstoß gegen § 86 in Betracht - ist keine Amtspflicht, die ihm auch gegenüber der Berufsgenossenschaft oder der ihr gleichgestellten Verbände mit dem Zweck obliegt, diese vor geldlichen Aufwendungen zu schützen; vielmehr dienen die UVV in erster Linie dem Schutz der Arbeiter (vgl. BGH Urt. v. 7. Dezember 1967 - III ZR 178/65 = VersR 1968, 305 = LM BGB § 839 [Cb] Nr. 9).
2.
Die Auffassung der Revision, daß die die Beklagte im Falle einer Amtspflichtverletzung ihres Bürgermeisters schützende Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGS auch im Verhältnis zum klagenden Sozialversicherungsträger (SVT) gelten müsse, ist nicht sichtig.
a)
Soweit es um die Haftung der beklagten Gemeinde geht, kann der Gedanke der Schutzfunktion des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGS schon darum keine Anwendung finden, weil die Gemeinde auch dem verletzten S. gegenüber - obwohl die Erweiterung der gemeindlichen Kanalisation als ein Akt der Daseinsvorsorge zur schlicht hoheitlichen Verwaltung gehört (BGH Urt.v. 6. November 1964 - VI ZR 24/63 = VersR 1965, 61; v. 18. Mai 1967 - III ZR 94/65 = VersR 1967, 859 m.w. Nachw.) - nicht nach § 839 BGS, Art. 34 GG, sondern wegen des privatrechtlichen Charakters der sich aus dem Arbeitsvertragsverhältnis ergebenden Fürsorgepflicht nach Arbeitsvertragsrecht haften würde. Nur insoweit als außenstehende Dritte durch Planung und Durchführung jener Kanalisation in ihren Rechten betroffen wurden, kann die Haftung der Gemeinde nach § 839 BGB (i.V. mit Art. 34 GG) in Betracht kommen.
b)
Darüber hinaus ist es aber den nach §§ 636, 637 RVO privilegierten Personen, die ohne diese Haftungsfreistellung wegen Amtspflichtverletzung auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden könnten, ohnedies verwehrt, sich gegenüber dem Rückgriffsanspruch der §§ 640, 641 RVO auf die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB zu berufen.
Bei dem Rückgriffsanspruch des SVT nach §§ 640, 641 RVO handelt es sich - anders als bei dem Regreßanspruch nach § 1542 RVO - nicht um einen übergeleiteten Schadensersatzanspruch des Verletzten oder seiner Hinterbliebenen, sondern um einen originären, selbständigen Anspruch eigener Art. X, ist zwar privatrechtlicher Natur, aber kein Schadensersatzanspruch des allgemeinen bürgerlichen Rechts. Das hat der Senat schon wiederholt, zuletzt mit eingehender Begründung in seinem Urteil vom 30. November 1971 (BGHZ 57, 314, 316) ausgesprochen; im einzelnen kann hier auf dieses Urteil verwiesen werden. Die dort näher dargelegte Ähnlichkeit des Rückgriffsanspruchs mit dem einem Drittgeschädigten gewährten Schadensersatzanspruch geht nicht soweit, daß der aus § 640 oder § 641 RVO in Anspruch Genommene sich dann, wenn das haftungsbegründende Ereignis eine Amtspflichtverletzung darstellt, aus der Erwägung, er dürfe bei einem Rückgriffsanspruch nach § 640 RVO nicht schlechter gestellt sein, als bei einer Inanspruchnahme nach § 839 BGS, auf die Subsidiaritätsklausel dieser Vorschrift berufen könnte. Voraussetzungen und Umfang der Haftung sind in den beiden Bestimmungen unterschiedlich gestaltet: Die Haftung der nach §§ 636, 637 RVO privilegierten Personen gegenüber dem SVT ist beschränkt auf die vorsätzliche und grobfahrlässige Verursachung des Arbeitsunfalls. Sind diese Voraussetzungen gegeben, haften sie dem SVT schlechthin für sämtliche Aufwendungen, die ihm infolge des Arbeitsunfalles entstehen. Weder kann der Schädiger dem SVT entgegenhalten, der Verunglückte habe den Unfall mitverschuldet, noch kann er einwenden, dieser habe, konkret gesehen, gar keinen Erwerbsschaden erlitten (vgl. BGHZ 57, 314, 317). Andererseits gewähren die §§ 636, 637 RVO dem Geschädigten keinen Schmerzensgeldanspruch, was das Bundesverfassungsgericht (Urt.v. 7. November 1972 = NJV 1973, 502) für verfassungskonform erklärt hat. Demgegenüber wird nach § 839 BGS schon für jede Fahrlässigkeit gehaftet. Auch hat der Beamte bei einer Amtspflichtverletzung für jede Benachteiligung des Vermögensstandes des Geschädigten einzustehen. Andererseits entfällt seine Ersatzpflicht, soweit der Geschädigte anderweitig Ersatz erlangen kann oder wenn er es unterläßt, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden (§ 839 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 BGB).
Es geht nicht an, auf den in den §§ 640, 641 RVO besonders ausgestalteten Rückgriffsanspruch einzelne Elemente einer anderen Schadensregelung, die ebenfalls vom Gesetzgeber besonders ausgestaltet ist, zu übernehmen. Gerade die Verweisung auf eine "anderweitige Ersatzmöglichkeit" würde den Sanktions- und Erziehungszweck der Rückerstattungspflicht der §§ 640, 641 RVO - mag diese auch nicht im Vordergrund stehen - in Frage stellen. Hinzu kommt, daß die Bestimmung des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB vor allem von der Erwägung ausgeht, der Beamte, der ständig genötigt sei, im allgemeinen Interesse zu handeln, könne durch eine zu weitgehende Verschuldenshaftung in seiner Entschlußfreiheit und Entschlußfreudigkeit gehemmt sein. Dieser Gesichtspunkt kommt für den Rückgriffsanspruch der §§ 640, 641 RVO schon darum nicht zum Tragen, weil diese Bestimmungen überhaupt nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit Platz greifen, unter diesen Voraussetzungen aber der Beamte auch im Rahmen des § 839 BGB im Innenverhältnis zu seinem Dienstherrn ohnedies haftet (vgl. § 78 Abs. 2 BBG, § 46 BRRG und die entsprechenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze). Auch der Gesichtspunkt der Billigkeit - der für die Einfügung der Subsidiaritätsklausel mitbestimmend gewesen sein mag - findet in § 640 Abs. 2 RVO seinen selbständigen Niederschlag. Der SVT ist danach verpflichtet, wenn billiges Ermessen das gebietet, auf die Durchsetzung des Rückgriffsanspruchs zu verzichten (BGHZ 57, 96, 99).
Alle diese Erwägungen verbieten eine entsprechende Anwendung der Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB auf Rückgriffsanspruche der §§ 640, 641 RVO.
IV.
Festzuhalten ist auch an der schon vom Reichsgericht begründeten, vom Bundesgerichtshof übernommenen ständigen Rechtsprechung, daß dem auf §§ 640, 641 RVO (= § 903 RVO a.F.) gestützten Rückgriffsanspruch des SVT nicht entgegengehalten werden kann, der Verunglückte sei mitschuldig an dem Arbeitsunfall (vgl. RGZ 96, 135;144, 31, 36; zuletzt wieder BGHZ 57, 314, 317, 319). Einer unmittelbaren Anwendung des § 254 BGB steht entgegen, daß - wie oben schon erwähnt - das Rückgriffsrecht nach § 640 RVO anders als der auf § 1542 RVO beruhende Regreßanspruch kein von dem Geschädigten abgeleitetes Recht ist, sondern ein durch die Reichsversicherungsordnung originär geschaffener Ersatzanspruch. Eine entsprechende Anwendung verbietet sich nach dem erkennbaren Villen des Gesetzgebers und nach Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Reichsversicherungsordnung erlaubt es auch dem SVT nicht, dem verunglückten Arbeiter bei Festsetzung seiner Renten usw. sein Mitverschulden entgegenzuhalten. Die Stellungnahme der Rechtsprechung zu der hier streitigen Frage war schon vor Inkrafttreten der Neufassung der Reichsversicherungsordnung aufgrund des Unfallversicherungsneuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I 241) allgemein bekannt. Sie war auch nicht unangefochten geblieben (vgl. Sieg Betr. 1960, 1327, 1329). Wenn der Gesetzgeber gleichwohl keinen Anlaß gesehen hat, die Bestimmungen über den Rückgriff des SVT gegen die nach §§ 636, 637 privilegierten Personen zu ändern, muß davon ausgegangen werden, daß er die seitherige Rechtsprechung billigte. Der Rückgriff gegen den Schuldigen bezweckt in erster Linie, dem SVT einen finanziellen Ausgleich für seine ihm infolge des Unfalls erwachsenen Lasten zu verschaffen (BGHZ 57, 314, 322). Soll dieses Ziel erreicht werden, muß der Schädiger den SVT von den ihm obliegenden Leistungen voll freistellen. Deren Höhe aber wird von einem etwaigen Mitverschulden des Verunglückten nicht berührt. Für den Rückgriffsanspruch nach §§ 640, 641 RVO kann nichts anderes gelten.
Die von der Revision angezogenen Altscheidungen vom 3. Februar 1970 - VI ZR 177/68 = VersR 1970, 344 und vom 29. März 1960 - VI ZR 84/59 = VersR 1960, 614 betreffen nicht die Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Verunglückten, sondern die möglicherweise anders zu beurteilende Frage, ob die regreßnehmende Berufsgenossenschaft sich ein eigenes Hitverschulden entgegenhalten lassen muß.
Unterschriften
Dr. Weber,
Nüßgens,
Sonnabend,
Schaffen,
Dr. Kullmann
Fundstellen
Haufe-Index 1456295 |
JR 1974, 161 |
JZ 1973, 522 |