Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Ranges unter mehreren Pfändungsgläubigern, die das Arbeitseinkommen des Schuldners gepfändet haben, wenn ein Fall verschleierten (fiktiven) Arbeitseinkommens vorliegt.
Normenkette
ZPO §§ 850h, 804 Abs. 3
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 14. Dezember 1989 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger macht als Verwalter im Konkurse über das Vermögen der M. H. (fortan: Gemeinschuldnerin) verschleierte Lohnansprüche im Wege der Drittschuldnerklage geltend.
Im Jahre 1972 führte die Gemeinschuldnerin im Auftrag des Bauunternehmers P. V., der jetzt bei der Beklagten als „technischer Leiter” beschäftigt ist, Abbrucharbeiten durch. Die vereinbarte Vergütung zahlte P. V. nur teilweise. Über den Forderungsrest von 10.628,13 DM nebst Zinsen erstritt die Gemeinschuldnerin ein rechtskräftiges Urteil, aus dem sie die Zwangsvollstreckung betreibt. Durch Pfändungs- und Überweisungsbeschluß vom 17. November 1975 ließ sie die angebliche Schuldnerforderung an die Beklagte auf Zahlung des gesamten Arbeitseinkommens pfänden und sich zur Einziehung überweisen. Der Beschluß wurde der Beklagten am 27. November 1975 zugestellt. Diese errechnete den pfändbaren Teil des Lohnes damals mit monatlich 234 DM. Dabei legte sie die im Anstellungsvertrag vereinbarte monatliche Vergütung von 3.205 DM zugrunde. Seit September 1984 hinterlegt sie den ihrer Ansicht nach pfändbaren Betrag wegen Unsicherheiten über die Rangfolge der insgesamt 51 Pfandgläubiger nach § 853 ZPO. Es ist rechnerisch unstreitig, daß dem Pfandrecht der Gemeinschuldnerin auf der Grundlage des tatsächlich an den Schuldner gezahlten Gehalts derzeit noch Pfandrechte anderer Gläubiger von mehr als 40.000 DM vorgehen.
Der Kläger hält die mit P. V. vereinbarte Vergütung für unangemessen niedrig. Die Leitung der Beklagten liege in seinen Händen, während seine Ehefrau, eine gelernte Friseuse, als Geschäftsführerin der Beklagten nur vorgeschoben sei. Nach § 850 h Abs. 2 ZPO sei bei der Berechnung des pfändbaren Betrages ein monatlicher Nettoverdienst von 5.000 DM zugrunde zu legen. Mit der Begründung, der Vorrang anderer Gläubiger könne ihm nicht entgegengehalten werden, weil diese – was unstreitig ist – von ihrer Möglichkeit, auf das fiktive Entgelt des Schuldners zuzugreifen, keinen Gebrauch gemacht hätten, verlangt er – soweit in der Revisionsinstanz noch von Bedeutung – von der Beklagten Zahlung in Höhe von 10.628,13 DM nebst Zinsen und Kosten.
Das Landgericht hat der Klage insoweit stattgegeben; das Berufungsgericht hat sie abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des Urteils des Landgerichts.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Der Berufungsrichter stellt von der Revision unbeanstandet fest, daß die vorrangigen, bisher nicht befriedigten Pfandgläubiger keine Kenntnis von den sich ihnen aus § 850 h Abs. 2 ZPO ergebenden erweiterten Vollstreckungsmöglichkeiten hatten und sie sich nur aus diesem Grunde mit der Berechnung des pfändbaren Lohnanteils auf der Grundlage des im Anstellungsvertrag vereinbarten Lohnes zufriedengaben.
Wie das Berufungsgericht richtig sieht, haben die zeitlich vorrangigen Pfandgläubiger ihren Rang nicht rechtsmißbräuchlich erlangt, so daß der Ausnutzung der erworbenen Rechtsposition der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) nicht entgegensteht (vgl. BGHZ 57, 108, 111); sie haben auf ihre durch Pfändung und Überweisung erworbenen Rechte nicht verzichtet (vgl. § 843 ZPO); schließlich haben sie mit dem Schuldner P. V. keine Vollstreckungsvereinbarung getroffen, die sich auf das Rangverhältnis des Pfandrechts der Gemeinschuldnerin auswirken könnte (zu einem solchen Fall vgl. BAG, Urt. v. 17. Januar 1975 – 5 AZR 103/74, NJW 1975, 1575 f.; Brommann SchlHA 1986, 49, 66 ff.). Auch die Revision erhebt insoweit keine Rüge.
II.
Das Berufungsgericht verneint den Anspruch der Gemeinschuldnerin auf den fiktiven Teil des Arbeitseinkommens des Schuldners mit der Begründung, daß die vorrangigen Pfandgläubiger bislang nicht vollständig befriedigt seien. Darauf könne sich die Beklagte als Drittschuldnerin berufen. Die in der Literatur und Rechtsprechung teilweise vertretene Auffassung, Anspruch auf den pfändbaren Teil der fiktiven Arbeitsvergütung habe nur der Gläubiger, der diese Forderung gerichtlich durchsetze, sei abzulehnen. Sie lasse sich mit den für das Vollstreckungsrecht maßgebenden Prinzipien der Gläubigerrangfolge nicht vereinbaren.
Diese Ausführungen des Berufungsgerichts sind nur im Ansatz richtig.
1. a) In der Rechtsprechung und im rechtswissenschaftlichen Schrifttum herrscht Streit, wie die Rechtslage zu beurteilen ist, wenn der nachrangige Pfandgläubiger auf die vom vorrangigen nicht in Anspruch genommenen Einkommensteile Zugriff nehmen will. Während zum Teil die Auffassung vertreten wird, daß auch im Rahmen des § 850 h Abs. 2 ZPO die vorrangigen Pfändungen stets zu berücksichtigen seien (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO 20. Aufl. § 850 h Rdnr. 45; Brommann a.a.O. S. 66 ff.; Süsse BB 1970, 671, 675), kommt nach anderer Auffassung das Prioritätsprinzip uneingeschränkt nur dem Pfandgläubiger zugute, der aufgrund seiner Pfändung die Ansprüche aus § 850 h Abs. 2 ZPO gerichtlich durchsetzt (LAG Köln DB 1988, 2060; ArbG Lübeck JurBüro 1984, 300 f. = MDR 1984, 174; Zöller/Stöber, ZPO 15. Aufl. § 850 h Rdnr. 8). Der Bundesgerichtshof hat zu dieser Rechtsfrage – soweit ersichtlich – bisher noch nicht Stellung genommen.
b) Das Prioritätsprinzip der §§ 804 Abs. 3, 832, 850 h Abs. 1 Satz 2 ZPO ist auch in den Fällen der Pfändung einer fiktiven Vergütung anzuwenden.
aa) Der Wortlaut des § 850 h Abs. 2 ZPO gibt keinen Anhalt dafür, daß mit „Gläubiger” im Sinne dieser Vorschrift nur der Gläubiger gemeint ist, der seinen Anspruch auf das verschleierte Arbeitseinkommen gerichtlich durchsetzt. Das Arbeitsgericht Lübeck a.a.O. S. 301 und ihm folgend die Revision wollen dies daraus herleiten, daß die Pfändung aus § 850 h Abs. 2 ZPO ein nicht bestehendes Recht erfasse. Während bei der Pfändung eines vereinbarten Entgelts sofort bekannt sei, daß und in welcher Höhe Ansprüche gepfändet worden seien, müsse bei der Pfändung des fiktiven Entgelts erst noch geklärt werden, ob überhaupt ein Anspruch fingiert werden könne und wie hoch der Anspruch sei. Die Pfändung erfordere außer dem Pfändungsakt noch die Festsetzung des fiktiven Entgelts. Nur der Gläubiger, der auch dessen Festsetzung betreibe, könne aufgrund seiner Pfändung Ansprüche durchsetzen.
Für die Frage des Ranges sind diese sich aus § 850 h Abs. 2 Satz 1 und 2 ZPO ergebenden Besonderheiten der Pfändung ohne Bedeutung, mag auch die gerichtliche Festsetzung des fiktiven Teils des Entgeltes die Regel sein. Seit der Einführung des § 850 h Abs. 2 ZPO durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Zwangsvollstreckung vom 24. Oktober 1934 (RGBl I 1070, 1071 f.) wird – insbesondere im Hinblick auf § 850 h Abs. 1 Satz 2 ZPO – mit Recht nicht in Zweifel gezogen, daß die Pfändung des Arbeitseinkommens ohne besonderen Ausspruch auch den fingierten Teil des Vergütungsanspruches erfaßt (RAGE 19, 165, 169 f.; Stein/Jonas/Münzberg a.a.O. § 850 h Rdnr. 41; Stöber, Forderungspfändung 8. Aufl. Rdnr. 1223). Aus dem Wortlaut des § 850 h Abs. 2 ZPO kann sonach für die Ansicht des Klägers nichts gewonnen werden.
bb) Die Anwendung des Prioritätsprinzips hat auch die Systematik des Gesetzes für sich. Nach dem geltenden Zwangsvollstreckungsrecht der Zivilprozeßordnung ist für das Rangverhältnis zwischen mehreren Pfandrechten regelmäßig die zeitliche Reihenfolge der Pfändung maßgebend (§ 804 Abs. 3, § 832 ZPO). Dem später pfändenden Gläubiger sind pfändbare Einkommensteile erst dann zuzusprechen, wenn der vorrangige Gläubiger vollständig befriedigt ist oder sein Pfandrecht, anderweitig in Wegfall kommt. Eine anteilsmäßige Berücksichtigung der Gläubiger findet dagegen – abgesehen von den im Gesetz ausdrücklich geregelten Sonderfällen, die hier nicht vorliegen (vgl. § 850 d Abs. 2, § 850 e Nr. 4 ZPO) – nicht statt. Der Rechtsstandpunkt der Revision führte somit in Fällen der vorliegenden Art zu einer Rangordnung der einzelnen Gläubiger, die der Zivilprozeßordnung fremd ist.
2. Der Berufungsrichter meint, der Zahlungsanspruch der Gemeinschuldnerin sei schon deshalb unbegründet, weil ihrem Pfandrecht Rechte anderer Gläubiger von wenigstens 40.000 DM vorgingen. Diese Auffassung ist von Rechtsirrtum beeinflußt.
a) Bei richtiger Anwendung des Prioritätsprinzips auf die Pfändung einer Gehaltsforderung oder einer ähnlichen in fortlaufenden Bezügen bestehenden Forderung (vgl. § 832 ZPO) durch mehrere Gläubiger kommt der nachrangige Gläubiger nicht erst zum Zuge, wenn sämtliche ihm vorgehenden Gläubiger tatsächlich befriedigt worden sind. Im Verhältnis zu dem Drittschuldner reicht der Vorrang der rangbesseren Gläubiger vielmehr nur so weit, wie diese unter Berücksichtigung des richtig errechneten pfändbaren Teiles der Gehaltsforderung gegebenenfalls unter Einschluß des fiktiven Lohnanteils nach § 850 h Abs. 2 ZPO bisher noch nicht zu befriedigen waren. Von den vorrangigen Pfandrechten sind somit im Drittschuldnerprozeß nicht nur die Beträge abzusetzen, die der vorrangige Gläubiger tatsächlich erhalten hat, sondern auch diejenigen, die nicht an ihn gezahlt worden sind, ihm aber bei richtiger Berechnung des pfändbaren Teils der angemessenen Vergütung im Sinne von § 850 h Abs. 2 Satz 1 ZPO zustehen. Insoweit nämlich hat die Pfändung das fingierte Einkommen mitumfaßt. Diese Auslegung des § 804 Abs. 3 ZPO ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Ohne Berücksichtigung der verschleierten Beträge wäre bei Mehrfachpfändungen das nachrangige Pfandrecht in den Fällen des § 850 h Abs. 2 ZPO weitgehend entwertet, obwohl darauf bei Beachtung der Pfändungsvorschriften durch den Drittschuldner etwas zuzuteilen wäre.
Dieser Auslegung steht nicht entgegen, daß das Pfandrecht des vorrangigen Gläubigers nicht erloschen ist, soweit er keine Zahlung erhalten hat. Sein besserer Rang wird ihm durch die Anrechnung nicht genommen. Sein Recht, nachträglich vom Drittschuldner Zahlung der zu Unrecht nicht an ihn abgeführten Beträge zu verlangen, bleibt unberührt, jedenfalls bis zum Eintritt der Verjährung der gepfändeten Forderung. Hat der Drittschuldner den Teilbetrag entgegen dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluß an den Schuldner gezahlt, ist diese Zahlung dem Pfändungsgläubiger gegenüber unwirksam (§ 829 Abs. 1 Satz 1 ZPO, §§ 135, 136 BGB).
b) Nach den vom Berufungsgericht bisher getroffenen Feststellungen erscheint es möglich, daß dem Pfandrecht der Gemeinschuldnerin Rechte von nicht mehr als 40.000 DM vorgehen, die bei richtiger Berechnung des pfändbaren Einkommens und entsprechenden Zahlungen an die vorrangigen Pfandgläubiger erloschen wären. Es ist somit nicht ausgeschlossen, daß die Beklagte nunmehr die Gemeinschuldnerin aus dem tatsächlichen und gegebenenfalls fiktiven Arbeitseinkommen des P. V. zu befriedigen hat. Der Berufungsrichter durfte deshalb nicht offenlassen, ob und welche weiteren Pfandrechte demjenigen der Gemeinschuldnerin vorgehen. Insbesondere hätte er feststellen müssen, ob die Gehaltspfändung des Finanzamtes Düsseldorf Süd wegen eines Anspruchs von 584.155,72 DM wirksam war oder nicht. Dazu hatte der Kläger mit Schriftsatz vom 9. Oktober 1989 (Bl. 498 f. GA) unter Beweisantritt vorgetragen, der valutierte Betrag von 424.020,77 DM beruhe auf nach Titelerlaß nachgeschobenen Erkenntnissen. Danach erscheint es möglich, daß die Forderung, die der Vollstreckung des Finanzamtes zugrunde liegt, niemals tituliert worden und die Pfändung nichtig ist. Der Berufungsrichter hätte in diesem Zusammenhang auch nicht offenlassen dürfen, wie sich das Einkommen des P. V. seit dem Jahre 1984 entwickelt hat und welche Beträge davon pfändbar waren. Dazu hat die Beklagte unter Vorlage des einschlägigen Tarifvertrages zur Neuordnung der Gehälter für die technischen und kaufmännischen Angestellten des Baugewerbes vom 10. April 1974 vorgetragen, daß P. V. eine tarifgerechte monatliche Vergütung von zuletzt 5.453 DM erhalten habe (Bl. 462 ff. GA). Offengeblieben ist auch, welchen Betrag hiervon die Beklagte als der Pfändung unterliegend abgeführt hat.
III.
Das Berufungsurteil kann mithin keinen Bestand haben. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, die erforderlichen Feststellungen zu der Höhe der vorrangigen Pfandrechte und zum pfändbaren Teil des Einkommens des P. V. nachzuholen und den Anspruch der Gemeinschuldnerin neu zu prüfen. Dabei wird es auch den Vortrag der Beklagten zu berücksichtigen haben, P. V. sei stets tarifgerecht bezahlt worden. Träfe dies zu, hätte er nicht, wie von § 850 h Abs. 2 Satz 1 ZPO vorausgesetzt wird, eine unverhältnismäßig geringe Vergütung erhalten.
Fundstellen
Haufe-Index 609764 |
BGHZ, 27 |
NJW 1991, 495 |
ZIP 1990, 1626 |
JZ 1991, 243 |
JuS 1991, 604 |
ZBB 1991, 45 |