Verfahrensgang
OLG Hamburg (Urteil vom 16.07.1969) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das den Parteien an Verkündungestatt am 16. Juli 1969 zugestellte Urteil des 7. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Hamburg wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen der Klägerin zur Last.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin, eine Berufsgenossenschaft, und die Ruhrknappschaft gewähren den Hinterbliebenen eines am 21. Juni 1965 bei einem Berufsunfall tödlich verunglückten Vorarbeiters Leistungen. Dieser stand in Diensten einer Groß-Anstrichfirma, die als Subunternehmer der von der beklagten Bundesbahn mit der Elektrifizierung beauftragten Firma S.-S. im Bereich des Bahnhofs H. Anstreicherarbeiten an den Fahrleitungsmasten ausführte. Drei der dem Verunglückten unterstellten Anstreicher waren damit beschäftigt, drei Leitungsmasten zu streichen, die auf einer das Bahngelände von der danebenliegenden Straße trennenden erhöhten Stützmauer stehen; zwischen der Mauer und der Gleisanlage befindet sich ein 50 cm breiter Plattenweg. Die Beklagte hatte dort zwei Sicherungsposten zum Schutz der an den Masten arbeitenden Anstreicher gestellt, die mit der Arbeit kurz vor 14 Uhr begannen. Zwischen 14.03 und 14.05 Uhr stand auf Gleis 8, das der Stützmauer am nächsten liegt, vor dem Hauptsperrsignal ein Güterzug, der sich gegen 14.06 Uhr in Bewegung setzte; um 14.05 Uhr fuhr in der Gegenrichtung mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 km/st auf dem danebenliegenden Gleis 7 eine Lokomotive an dem Güterzug vorbei. Als diese sich etwa in der Mitte des Güterzuges befand, wurde der Verunglückte, der kurz zuvor noch einem der ihm unterstellten auf der Stützmauer arbeitenden Anstreicher eine Anweisung erteilt hatte, in die Luft geschleudert; die Ursache und der Hergang haben sich nicht aufklären lassen. Per Verunglückte blieb mit Verletzungen, die etwa zwei Stunden später zu seinem Tod führten, zwischen den Gleisen 7 und 8 liegen.
Die Klägerin macht, gestützt auf § 1542 RVO, für sich und für die Ruhrknappschaft Schadensersatzansprüche der Hinterbliebenen des Verunglückten gegen die Beklagte geltend; soweit Ansprüche auf die Ruhrknappschaft gemäß § 109 Abs. 2 RKG i.V. mit § 1542 RVO übergegangen sind, hat diese sie der Klägerin abgetreten.
Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin die Hälfte des eingeklagten Betrages zu zahlen; es hat weiterhin festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, bis zur Höhe der Hälfte der übergangs fähigen Schadensersatzansprüche die Hälfte der Leistungen zu ersetzen, welche die Klägerin und die Ruhrknappschaft gegenüber den Hinterbliebenen des Verunglückten zu erbringen haben. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht unter Zurückweisung der Anschlußberufung der Klägerin die Klage in vollem Umfange abgewiesen.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin die Klageansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
1. Das Berufungsgericht hat im Hinblick darauf, daß das eigentliche Unfallgeschehen unaufgeklärt geblieben ist, mehrere Möglichkeiten für den Hergang erörtert und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß bei jeder in Betrachte kommenden Fallgestaltung sich die typische Betriebsgefahr der Eisenbahn ausgewirkt haben muß und hat sodann die Frage geprüft, ob das Verhalten des Verunglückten in Anwendung von § 254 BGB zu einer Haftungsverteilung oder zu einem Haftungsausschluß der Beklagten führt.
2. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, daß der Verunglückte schuldhaft zu dem Unfall beigetragen habe; gegenüber seinem als grob fahrlässig zu beurteilenden Verhalten trete die Haftung der Beklagten für die Betriebsgefahr der Bahn ganz zurück, so daß eine Schadensersatzpflicht der Beklagten gegenüber den Hinterbliebenen nicht in Betracht komme. Von dem Betrieb der Bahn seien keine erhöhten Gefahren ausgegangen.
Das Berufungsgericht hat aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme die Feststellung getroffen, daß der Verunglückte unmittelbar vor dem Unfall nicht nur den auf beiden Seiten des Bahnkörpers verlaufenden Plattenweg benutzt, sondern daß er, allein hin- und hergehend, die zahlreichen nebeneinander liegenden Gleise gekreuzt hatte. Es ist weiterhin festgestellt, daß der Verunglückte eine besondere Belehrung über die Gefährlichkeit von Gleisanlagen auf Hauptstrecken erhalten hatte und ihm ein von der Beklagten herausgegebenes Schutzregelheft ausgehändigt worden war, in welchem gerade die mit dem Betreten von Gleisen verbundenen Gefahren hervorgehoben sind. Außerdem hatte ihn sein Arbeitgeber besonders schriftlich angewiesen, die Sicherheitsvorschriften zu beachten. Am Morgen des Unfalltages hatte ein als Sicherungsposten eingeteilter Bediensteter der Beklagten den Verunglückten in drastischer Weise auf seinen Leichtsinn hingewiesen, als er bemerkte, wie dieser vorschriftswidrig unmittelbar vor einer Lok die Gleisanlage überquerte. Zur Unfallzeit befand sich der Verunglückte nicht mehr im Schutzbereich der Sicherungsposten; diese konnten ihn wegen einer Kurve und wegen des haltenden Güterzuges nicht beobachten.
Im Berufungsrechtszug war streitig geworden, ob der Verunglückte eine von der Beklagten ausgegebene Gleisbegehungskarte in Besitz hatte, deren Inhaber ausnahmsweise und in Abweichung von den Sicherheitsvorschriften allein, d.h. ohne Begleitung eines Sicherungspostens, die Bahngleise betreten darf. Diese Frage hat das Berufungsgericht offengelassen. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Verunglückte auch dann, wenn er eine solche Erlaubniskarte gehabt habe, die beim Überqueren von Gleisanlagen auf einer Hauptstrecke gebotene Sorgfalt mißachtet und dadurch eindeutig den Unfall verursacht hat; es hat einen groben Verstoß gegen die zu seinem Schutz aufgestellten Regeln angenommen.
II.
Die von der Revision gegen diese Beurteilung erhobenen Bedenken erweisen sich als nicht begründet. Der Standpunkt des Berufungsgerichts steht in Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats, daß bei grobem Verschulden des Verunglückten ausnahmsweise, wobei es allerdings stets auf die besonderen Umstände des Einzelfalles ankommt, die Betriebsgefahr der Bahn, mag diese im einzelnen Fall auch erhöht sein, voll zurücktreten kann (Urteile vom 22. September 1967 – VI ZR 49/66 – VersR 1967, 1080; vom 30. April 1963 – VI ZR 158/62 – VersR 1963, 874 und vom 23. Juni 1964 – VI ZR 99/63 – VersR 1964, 1024).
1. Zutreffend geht die Revision zwar davon aus, daß zu ihren Gunsten zu unterstellen ist, der Verunglückte sei im Besitz einer Gleisbegehungskarte gewesen. Infolgedessen mag ihm nicht der schwerwiegende Vorwurf gemacht werden können, unbefugt und unter Verstoß gegen §§ 82, 78 EBBO die Bahnanlagen betreten zu haben. Die Revision verkennt jedoch, daß das Berufungsgericht diese Möglichkeit ausdrücklich berücksichtigt, in seine Erwägungen einbezogen und für diesen Fall das Überqueren der Gleise nicht grundsätzlich als verboten angesehen hat. Es hat jedoch ohne Rechtsverstoß angenommen, daß auch der Inhaber einer Gleisbegehungskarte nicht von der gebotenen Sorgfalt befreit ist (vgl. § 78 Abs. 6 EBBO) Hierauf wird in den auf der Rückseite aufgedruckten Benutzungsbestimmungen ausdrücklich hingewiesen, in denen es heißt: „Die Gleise dürfen nur überschritten und begangen werden, wenn es unbedingt nötig ist. Hierbei ist größte Vorsicht anzuwenden.” Wenn es den Verunglückten bei dieser Fallgestaltung zwar für berechtigt gehalten hat, den Gleisbereich ohne Sicherungsposten zu betreten, ihn andererseits jedoch als verpflichtet angesehen hat, in erhöhtem Maße auf seine eigene Sicherheit bedacht zu sein, so ist dem zuzustimmen. Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, der Verunglückte sei allein für sich verantwortlich gewesen und habe sich nicht darauf verlassen dürfen, daß ein Sicherungsposten ihn warnen werde, zumal die Sicherungsposten auf Inhaber von Gleisbegehungskarten an sich nicht zu achten brauchen.
2. Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe hinsichtlich des von ihm festgestellten Selbstverschuldens des Verunglückten zu Unrecht die Regeln über den Beweis des ersten Anscheins angewendet. Diese Beanstandung ist schon deshalb nicht berechtigt, weil das angefochtene Urteil (BU S. 37) eindeutig ergibt, daß das Berufungsgericht nicht auf einen Anscheinsbeweis abgestellt, sondern aufgrund der eingehenden Beweisaufnahme auch hinsichtlich der Ursache des Unfalls die Überzeugung gewonnen hat, daß dieser auf einem groben Verstoß des Verunglückten gegen die Sicherheitsvorschriften und gegen die zu seinem Schutz aufgestellten Regeln beruht. Zu dieser für alle in Betracht kommenden Möglichkeiten des Unfallgeschehens gültigen Auffassung ist das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise gekommen; es hat seine tatrichterliche Überzeugung eingehend begründet.
Es kommt daher auf die weiteren in diesem Zusammenhang erhobenen Verfahrensrügen nicht an; der Senat sieht davon ab, diese im einzelnen zu bescheiden (Art. 1 Nr. 4 BGH-EntlG).
3. Zu Unrecht rügt die Revision, das Berufungsgericht habe Umstände übersehen, die ein schwerwiegendes, von der Beklagten zu vertretendes Verschulden und damit eine bei der Abwägung ins Gewicht fallende Erhöhung der Betriebsgefahr begründen.
a) Das Berufungsgericht hat ein fehlerhaftes Verhalten des Personals des Güterzuges und der einzeln fahrenden Lokomotive nicht festzustellen vermocht. Insbesondere sieht es als nicht bewiesen an, daß das Lokomotivpersonal den Verunglückten vor dem Unfall gesehen hat. Auch läßt sich nach Ansicht des Tatrichters nicht ausschließen, daß diese Bediensteten den Verunglückten wegen des die Sicht behindernden haltenden Güterzuges und wegen einer Linkskurve in der Streckenführung nicht so rechtzeitig erkennen konnten, um noch etwas zur Vermeidung eines Unfalls zu tun.
Diese auf tatrichterlichem Gebiet liegende Würdigung des Beweisergebnisses ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Auf die von der Revision erwähnte Bahnanlagen-Skizze kommt es nicht an, da das Berufungsgericht seine Überzeugung auf Grund einer Augenscheinseinnahme der Unfallstelle gewonnen hat.
b) Ein zu Lasten der Beklagten gehender Organisationsmangel, der nach Ansicht der Revision darin liegen soll, daß die Beklagte nicht mindestens einen Beamten zum Schutz des Verunglückten eingesetzt hat, ist nicht festzustellen. Wenn die Klägerin die Abwägung zwischen dem Eigen verschulden des Verunglückten und der Betriebsgefahr der Bahn dadurch zu ihren Gunsten beeinflussen will, daß sie auf Umstände hinweist, welche die Betriebsgefahr erhöht hatten, so ist es ihre Sache, das Vorliegen solcher Umstände zu beweisen (vgl. Senatsurteil vom 7. März 1961 – VI ZR 117/60 – VersR 1961, 796). Insofern ist nun aber nicht nur zugunsten der Revision zu unterstellen, daß der Verunglückte Inhaber einer Gleisbegehungskarte war, sondern auch zugunsten der Beklagten. Dann aber entfiel eine Verpflichtung der Beklagten, dem Verunglückten einen Sicherungsposten bei zugeben, weil es gerade Sinn und Zweck dieser Sondererlaubnis ist, dem Inhaber einer Erlaubniskarte das Betreten der Gleisanlage zu gestatten, ohne daß es der sonst erforderlichen Begleitung durch einen Sicherungsposten bedarf. Im übrigen bezeichnet es das Berufungsgericht als unzweifelhaft, daß die Beklagte dem Verunglückten für den Gang über die Gleisanlage, der zu dem Unfalltod geführt hat, einen Sicherungsposten zugeteilt haben würde, wenn er, dem diese Möglichkeit bekannt war, dies erbeten hätte, zumal zur Sicherung der an den Fahrleitungsmasten arbeitenden Anstreicher zum damaligen Zeitpunkt einer der beiden Sicherungsposten ausreichte, der andere daher entbehrlich gewesen wäre. Das Berufungsgericht hat mit rechtsfehlerfreier Begründung ein selbständiges Eingreifen dieser Sicherungsposten nicht für erforderlich gehalten, weil deren Aufgabe lediglich darin bestand, den Bereich zu sichern, in welchem die ihnen anvertrauten Anstreicher arbeiteten. Der Verunglückte hatte sich aber unvorsichtigerweise außerhalb dieses Bereichs begeben, und konnte nach den Feststellungen des Berufungsgerichts von den Sicherungsposten nicht gesehen werden.
c) Zu Unrecht greift die Revision auch die Auffassung des Berufungsgerichts an, daß die von dem Eisenbahnbetrieb ausgehende Betriebsgefahr im Zeitpunkt des Unfallgeschehens nicht erhöht gewesen sei. Für den Einzugsbereich eines großen Bahnhofs muß es, worauf das Berufungsgericht zutreffend hinweist, als durchaus normal angesehen werden, daß auf mehreren nebeneinander verlaufenden Gleisen mehrere Züge gleichzeitig in derselben oder in entgegengesetzt Richtung verkehren oder daß eine einzeln fahrende Lokomotive an einem vor einem gesperrten Einfahrtssignal haltenden Zug vorbeifährt.
4. Nicht begründet ist schließlich der Revisionsangriff, daß das Berufungsgericht den Klageanspruch nicht auch unter dem Gesichtspunkt der Haftung der Beklagten aus unerlaubter Handlung und in entsprechender Anwendung von § 618 Abs. 3 BGB geprüft habe. Abgesehen davon, daß das Berufungsgericht dem Vorbringen der Klägerin entnehmen durfte, diese stütze ihr Klagebegehren lediglich auf die für sie günstigen Vorschriften des Reichshaftpflichtgesetzes, würde das Urteil nicht auf der unterlassenen Prüfung jener Rechtsvorschriften beruhen, weil das Berufungsgericht, wie ausgeführt, rechts fehlerfrei ein schuldhaftes Verhalten der Organe der Beklagten oder ihrer Bediensteten verneint hat. Das aber würde sowohl bei einer Haftung der Beklagten aus § 823 wie aus § 618 Abs. 3 BGB Voraussetzung sein.
Unterschriften
Dr. Weber, Hüßgens, Sonnabend, Dunz, Scheffen
Fundstellen