Rz. 81
Die neue Rechtsprechung des BFH (Aufgabe der finalen Entnahmetheorie, Rz. 14ff.) steht im Einklang mit der älteren Auffassung auf OECD-Ebene, wonach in der Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte eines inländischen Unternehmens nicht die "letzte Chance" zu sehen ist, gebildete stille Reserven zu besteuern. Der Staat, aus dem heraus das Wirtschaftsgut überführt wird, kann im Zeitpunkt der Überführung eine Besteuerung vornehmen, dies ist aber nicht zwingend (s. OECD, Kommentar zu Art. 7 OECD-MA 2008, Abschn. 21; Kommentar zu Art. 13 Abs. 2 OECD-MA 2008, Abschn. 10).
Rz. 82
Allerdings kam es bei der OECD zu Bestrebungen, die internationale Gewinnabgrenzung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte an diejenige zwischen verbundenen Unternehmen (Art. 9 OECD-MA) anzugleichen (OECD, Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments; zur Diskussion s. Förster/Naumann/Rosenberg, IStR 2005, 617ff.; Förster, IWB 2007, Fach 10, Gruppe 2, 1929ff.; Schuster, Betriebsstättengewinnabgrenzung nach dem Authorized Approach der OECD, Hefte zur Internationalen Besteuerung, Heft 152, 2006). So hat der OECD-Council am 22.07.2010 die Aktualisierung des Abkommensmusters der Mitgliedstaaten der OECD (OECD-MA 2010) veröffentlicht, deren zentraler Bestandteil die Neufassung des Art. 7 OECD-MA sowie der dazugehörigen Kommentierung (OECD-MK 2010) ist. Gleichzeitig veröffentlichte die OECD eine überarbeitete Version des Berichts des Steuerausschusses der OECD mit dem Titel "2010 Report on the attribution of profits to permanent establishments" (OECD-Betriebsstättenbericht 2010). Nach der Auffassung der Mitgliedstaaten der OECD soll die Auslegung des Art. 7 OECD-MA nunmehr dem "Functionally Separate Entity Approach" folgen (OECD-Betriebsstättenbericht 2010, Rz. 8, 50; OECD-Betriebsstättenbericht 2008, Rz. 9, 78; für die Auffassung der vollständigen Selbständigkeit der Betriebsstätte plädierten zuvor in Deutschland u. a. Becker, DB 1989, 13ff.; ders., DB 1990, 392ff.; Beiser, IStR 1992, 7; Kumpf, StbJb 1988/89, 399ff.; Kroppen, IStR 2005, 74f.; Kramer, StuW 1991, 153ff.; Ditz, Internationale Gewinnabgrenzung bei Betriebsstätten, 2004, 131ff.; Ditz/Schneider, DStR 2010, 82ff.).
Rz. 83
Gem. Art. 7 Abs. 2 OECD-MA 2010 sind die der Betriebsstätte zuzurechnenden Gewinne jene, "die sie hätte erzielen können", insbesondere im Verkehr mit anderen Teilen des Unternehmens, dessen Betriebsstätte sie ist, wenn sie als selbständiges und unabhängiges Unternehmen eine gleiche oder ähnliche Geschäftstätigkeit unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen ausgeübt hätte; dabei sind die vom Unternehmen durch die Betriebsstätte und durch andere Unternehmensteile ausgeübten Funktionen, eingesetzten Wirtschaftsgüter und übernommenen Risiken zu berücksichtigen. Der "Functionally Separate Entity Approach" zielt auf eine konsequente und uneingeschränkte Umsetzung der in Art. 7 Abs. 2 OECD-MA niedergelegten Selbständigkeitsfiktion einer Betriebsstätte ab. Dieser Ansatz fingiert die Betriebsstätte insbesondere hinsichtlich der Leistungsbeziehungen mit anderen Unternehmensteilen als völlig selbständiges und unabhängiges Unternehmen (s. im Einzelnen Bennett/Russo, ITPJ 2009, 73ff.; Russo, ET 2008, 459ff.; Förster, IStR 2007, 398ff.; ders., IWB 2007, Fach 10, Gruppe 2, 1929ff.; Kahle, in: Lüdicke/Mössner/Hummel, FS Frotscher, 2013, 287; Kahle/Mödinger, DB 2011, 2342f.; dies., IStR 2011, 821ff.; Mödinger, Internationale Erfolgs- und Vermögensabgrenzung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte nach der Neufassung des Art. 7 OECD-MA, 2012, 95ff.). Innerunternehmerische Transaktionen sind hiernach für Zwecke der Erfolgsabgrenzung grundsätzlich nach dem Fremdvergleichsgrundsatz abzurechnen.
Rz. 84
Die OECD bezeichnet die innerunternehmerischen Liefer- und Leistungsbeziehungen als "dealings" und betrachtet diese als das Äquivalent zu konzerninternen Transaktionen zwischen rechtlich selbständigen Unternehmen (OECD, 2010 Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments, Rz. 14; Kahle/Mödinger, DStZ 2012, 805; Gsödl, Entstrickungstatbestände des Einkommen- und Körperschaftsteuergesetzes, 2011, 219). Zu den Innentransaktionen zählen insbesondere die Überführung und die Nutzungsüberlassung von materiellen und immateriellen Wirtschaftsgütern, die Übernahme von Geschäftsführungsaufgaben sowie die Erbringung von Dienstleistungen. Unter Berücksichtigung der rechtlichen Unselbständigkeit der Betriebsstätte sollen für diese dealings im Grundsatz die gleichen Verrechnungspreisgrundsätze wie für Transaktionen zwischen rechtlich selbständigen Konzerneinheiten zur Anwendung kommen (s. OECD, 2010 Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments, Rz. 14). Durch die Fiktion eines völlig selbständigen und unabhängigen Unternehmens kann der Betriebsstätte auch ein Gewinn zugerechnet werden, obwohl das Unternehmen als Ganzes keinen Gewinn erzielt hat (OECD-MK 2010 zu Art. 7 OECD-MA, Rz. 17; im Einzelnen Kahle/Mödinger, IStR 2010...