Prof. Dr. Alexander Bassen, Dr. Kati Beiersdorf
Rz. 78
Der wichtigste konzeptionelle Unterschied der PAT- und BP-Module zum Basis-Modul besteht in der Notwendigkeit der Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse für die Erstellung der PAT- und/oder BP-Modul-Berichte. Mittels dieser Wesentlichkeitsanalyse werden vom Unternehmen die Umwelt-, Sozial- und/oder Governance-Themen identifiziert, über die zu berichten ist.
Gem. ED ESRS VSME.43 stellt Wesentlichkeit auf die Bedeutung (significance) sowohl eines Nachhaltigkeitsaspekts als auch der entsprechenden Information darüber für das Unternehmen ab. Diese Formulierung erscheint vor dem Hintergrund der – anschließend ausgeführten – zwei Dimensionen von Wesentlichkeit eher unglücklich. Denn die Wesentlichkeitsdimensionen, (1) Auswirkungswesentlichkeit (impact materiality) und (2) finanzielle Wesentlichkeit (financial materiality) beziehen sich gerade nicht nur auf die Bedeutung der Nachhaltigkeitsaspekte und -informationen für das Unternehmen, sondern auch auf die Bedeutung, die die wesentlichen Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit des Unternehmens für die Umwelt und die Gesellschaft haben. Der VSME basiert damit ebenso wie die ESRS Set 1 auf dem Konzept der doppelten Wesentlichkeit (§ 3 Rz 61 ff.).
Wesentliche Auswirkungen umfassen gem. ED ESRS VSME.46 tatsächliche oder potenzielle Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit auf Menschen oder Umwelt innerhalb kurz-, mittel- oder langfristiger Zeithorizonte. Die Auswirkungen können aus der eigenen Geschäftstätigkeit, Produkten und Dienstleistungen sowie durch Geschäftsbeziehungen, etwa zu Zulieferern, resultieren. EFRAG versteht diese Definition als im Einklang mit der entsprechenden Definition in ESRS Set 1 (ESRS 1.43). Die aus Vereinfachungsgründen gewählten sprachlichen Anpassungen führen allerdings zu inhaltlichen Reduzierungen, die auch ein anderes Verständnis der auswirkungsbezogenen Wesentlichkeitsdimension nahelegen könnten. So entfallen bspw. die Verweise auf negative und positive Auswirkungen oder auf die Auswirkungen aus der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette sowie auf Geschäftsbeziehungen, die auch über direkte Vertragsbeziehungen hinausgehen. Sofern hier inhaltliche Vereinfachungen intendiert sind, könnten diese insbes. in einer im Vergleich zu den ESRS Set 1 deutlich engeren Abgrenzung der Wertschöpfungskette bestehen; dies müsste jedoch im künftigen ESRS VSME klar benannt werden. Da dies – nach bisherigem Verständnis des Kontexts – nicht der Fall ist, sollte dieses grundlegende Konzept der Nachhaltigkeitsberichterstattung deckungsgleich für alle Berichtsstandards – ESRS Set 1, ESRS LSME und ESRS VSME – definiert werden. Hilfreich wäre hierfür auch, Begriffe wie "wesentliche Auswirkungen" oder "Geschäftsbeziehungen" im Glossar aufzunehmen.
Unabhängig davon gilt aber – wie im Konzept der ESRS Set 1 (§ 3 Rz 79) – , dass sich die Wesentlichkeit der tatsächlichen und potenziellen Auswirkungen an der Wahrscheinlichkeit sowie am Schweregrad bemisst. Letzterer ergibt sich aus den Faktoren (a) Ausmaß, (b) Umfang und (c) Unabänderlichkeit der Auswirkungen. Im Falle von potenziellen negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte ergibt sich die Wesentlichkeit aus dem Schweregrad; die Frage der Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser potenziellen Auswirkungen ist von untergeordneter Rolle.
Das Verständnis der finanziellen Wesentlichkeit entspricht demjenigen, das auch Grundlage für ESRS Set 1 ist (§ 3 Rz 85 ff.).
Wichtig ist, dass die Einbindung von Stakeholdern (Interessenträgern) für die Wesentlichkeitsanalyse optional ist (ED ESRS VSME.57). Stakeholder können von der Unternehmenstätigkeit i. w. S. (inkl. der Geschäftsbeziehungen) betroffene Personen oder Personengruppen sein oder Nutzer von Nachhaltigkeitsinformationen, wie bspw. Kreditgeber, Geschäftspartner oder die Zivilgesellschaft. Die Überlegung bei der Konzeption des ED ESRS VSME scheint jedoch zu sein, dass deren Interessen durch die Vorgaben im Standard adressiert werden, so dass eine (ggf. aufwendige) Analyse der Stakeholder-Interessen als nicht erforderlich angesehen wird. Diese Aufgabe obliegt sozusagen der EFRAG i. R.d. Standardsettingprozesses.
Die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse fließen in die Angaben N2 (Wesentliche Nachhaltigkeitsaspekte, ED ESRS VSME.59) bzw. die Liste der wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen (ED ESRS VSME.68) ein. Die anderen Angabepflichten bleiben von der Wesentlichkeitsanalyse unbenommen.
Es gilt jedoch auch im PAT- und im BP-Modul zusätzlich das Prinzip der Einschlägigkeit ("if applicable") bzw. Freiwilligkeit für bestimmte Angaben. Bspw. können Stakeholder-Gruppen beschrieben werden, wenn das Unternehmen sich freiwillig mit den Stakeholdern auseinandergesetzt hat (N4), ED ESRS VSME.65); über Ziele zur Reduktion von Treibhausgasemissionen ist nur dann zu berichten, wenn das Unternehmen sich solche Ziele gesetzt hat.