Zusammenfassung

 
Begriff

Altersfeststellung ist die Ermittlung der Minderjährigkeit des unbegleiteten Ausländers durch das Jugendamt.

 
Gesetze, Vorschriften und Rechtsprechung

§ 42f SGB VIII ist die rechtliche Grundlage für die Altersfeststellung. § 8 Abs. 1 SGB VIII verpflichtet das Jugendamt, den Minderjährigen dabei zu beteiligen. Nach § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII kann der Minderjährige eine Vertrauensperson hinzuziehen. Die §§ 60, 62, 65 bis 67 SGB I regeln die Mitwirkungspflichten des Minderjährigen bei der Altersfeststellung (BVerwG, Beschluss v. 20.9.2017, 5 B 15/17; OVG Bremen, Urteil v. 18.11.2015, 2 B 223/15; OVG Bremen, Urteil v. 2.10.2017, 1 B 173/17 sowie OVG Bremen, Urteil v. 4.6.2018, 1 B 53/18; Bayerischer VGH, Beschluss v. 13.12.2016, 12 CE 16.2333 und Bayerischer VGH, Beschluss v. 5.4.2017, 12 BV 17.185).

1 Minderjährigkeit nach deutschem Recht

Mit der Altersfeststellung soll die Tatbestandsvoraussetzung der Minderjährigkeit festgestellt werden. Diese besteht nach deutschem Recht bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.[1] Das Heimatrecht des Ausländers kann dies anders regeln. Entscheidend ist dann das deutsche Recht.

2 Jahresendschätzung

Entgegen verbreiteter Praxis ist nicht der 1.1. des Jahres für das geschätzte Alter anzusetzen, sondern der 31.12. Damit wird zugunsten des Betroffenen vom letztmöglichen Zeitpunkt des bekannten Geburtsjahres ausgegangen in Zweifelsfällen. Etwas anderes gilt nur, wenn bei der medizinischen Altersbestimmung ein Mindestalter mit Monatsangabe ermittelt wird. Aber auch dann wird zugunsten des Betroffenen vom letztmöglichen Zeitpunkt für die Festlegung des Geburtsdatums ausgegangen (z. B. letzter Untersuchungstag).[1]

[1] BVerwG, Urteil v. 31.7.1984, 9 C 156/83; AG Mosbach, Beschluss v. 10.12.2015.

3 Sachverhaltsermittlung

Das Jugendamt ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen.[1] Es bedient sich dabei nach Ermessen der in § 21 SGB X genannten Beweismittel nach Ermessen. Das Ermessen ist aber durch die Rangfolge nach § 42f Abs. 1 SGB VIII begrenzt. Zunächst muss eine Selbstauskunft ("Primat der Selbstauskunft") erfolgen. Zusätzlich müssen die Ausweispapiere herangezogen werden. Da diese in ca. 80 % der Fälle fehlen, muss die sog. qualifizierte Inaugenscheinnahme durchgeführt werden. Diese wird also nicht nur hilfsweise erfolgen, sondern die Regel sein. Bleibt die Betrachtung des Erscheinungsbildes (z. B. Bartwuchs; körperliche Entwicklung, nicht aber Sexualorgane[2]) oder auch die Heranziehung von Urkunden oder Auskünften Dritter ohne zweifelsfreies Ergebnis, kann die Augenscheineinnahme durch ärztliche Untersuchung erfolgen.[3]

"Zweifel" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, also gerichtlich nachprüfbar. Ein Zweifel ist immer dann anzunehmen, wenn nach Augenscheinseinnahme das Alter nicht offensichtlich ist.[4]

[2] BT-Drucks. 18/6392 S. 19.
[3] OVG Bremen, Urteil v. 18.11.2015, 2 B 223/15; VG München, Beschluss v. 17.10.2016, M 18 E 16.4326.
[4] VG München, Beschluss v. 28.4.2020, M 18 E 20.1548.

4 Ärztliche Untersuchung

Zunächst muss das Jugendamt den Minderjährigen über die Untersuchungsmethoden und auch rechtlichen Folgen der Altersfeststellung aufklären sowie bei Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung von Amts wegen zu unterziehen, über die Folgen einer Weigerung.[1] Folgende Untersuchungsmethoden werden u. a. angewandt:

  • Röntgenuntersuchung der Hand und Schlüsselbeine,
  • zahnärztliche Untersuchung,
  • sexuelle Reifezeichen (ohne Genitaluntersuchungen oder Begutachtung sekundärer Geschlechtsmerkmale),
  • altersrelevante Entwicklungsstörungen.[2]

Die Untersuchung darf nur mit Einwilligung des Minderjährigen und (zusätzlich) seines (gesetzlichen) Vertreters erfolgen. Diese sind nicht verpflichtet, die Einwilligung zu geben. Die Untersuchung kann also nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Bei fehlender Einwilligung kann das Jugendamt lediglich seine Ermittlung der Minderjährigkeit einstellen und damit die vorläufige Inobhutnahme i. S. d. § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII verweigern.[3] Das Jugendamt kann aber im Rahmen seines Notvertretungsrechts nach § 42a Abs. 3 SGB VIII die Einwilligung geben.[4]

Für das Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzung hat der Minderjährige die Darlegungs- und Beweislast. Es handelt sich also nicht um eine Pflicht zur Mitwirkung, sondern um eine bloße Obliegenheit.

[2] Bayerischer VGH, Beschluss v. 23.9.2014, 12 CE 14.1833; Bayerischer VGH, Beschluss v. 23.9.2014, 12 C 14.1865.
[3] § 66 SGB I ist nach § 42f Abs. 2 Satz 4 SGB VIII (lediglich) entsprechend anzuwenden, also auch für die vorläufige Inobhutnahme, sodass dahingestellt bleiben kann, ob diese eine Sozialleistung i. S. d. § 11 SGB I ist.
[4] OVG Bremen, Urteil v. 4.6.2018, 1 B 53/18.

5 EU-Recht bei Restzweifeln

Bleiben auch nach Durchführung der ärztlichen Untersuchung Restzweifel an der Minderjährigkeit, ist zwingend zugunsten des Betroffenen von seiner Minderjährigkeit auszugehen.Dieser ergibt sich aus Art. 25 Abs. 5 RL (EU) Nr. 2013/32.[1]

[1] Bayerischer VGH, Beschluss v. 13.12.2016, 12 CE 16.2333. Vgl. Kunkel/Kepert/Pattar, LPK-SGB VIII...

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