Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialversicherungsrecht. Beitragsnachforderung zuzüglich Säumniszuschlägen aufgrund einer Betriebsprüfung. Interessenabwägung. Sanktionscharakter hypothetischer Bruttoarbeitsentgeltberechnung. unbillige Härte des Sofortvollzugs. Beschäftigung. Lkw-Fahrer ohne eigenes Fahrzeug. Unternehmerrisiko. Hochrechnung von Nettolohn. Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Drohende Insolvenz

 

Leitsatz (amtlich)

Mindestens bedingter Vorsatz iSd Hochrechnung von Beitragsnachforderungen gem. § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV ist anzunehmen, wenn Scheinselbständige (hier: Fahrer) die gleiche Tätigkeit ausüben wie regulär Beschäftigte.

 

Orientierungssatz

1. Die Interessenabwägung der relevanten öffentlichen und privaten Belange bei Gewährung oder Nichtgewährung vorläufigen Rechtsschutzes streitet zugunsten überwiegendem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung, wenn es sich ohne Weiteres und ohne vernünftige Zweifel erkennen lässt, dass der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist und die Rechtsverfolgung des Bürgers keinen Erfolg verspricht.

2. Die Ermittlung des fiktiven Bruttolohns aus dem gezahlten Nettolohn im Rahmen der Nachforderung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge nach § 14 Abs. 2 S. 2 SGB IV hat sanktionsähnlichen Charakter.

3. Eine unbillige Härte des Sofortvollzugs besteht, wenn Nachteile drohen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und die nicht oder nur schwer wieder gutzumachen sind. Dies ist der Fall, wenn ein offensichtlich rentabel wirtschaftender Arbeitgeber durch die Beitragsnachforderung in die Insolvenz geführt wird.

 

Normenkette

SGB IV § 7 Abs. 1, § 14 Abs. 2 S. 2, §§ 17, 28p Abs. 1; ArEV § 1; EStG § 3b; SGG § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Tenor

I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 09.08.2013 wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsteller trägt die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens.

III. Der Streitwert wird auf 35.713,62 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Beitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 29.04.2013.

Der Antragsteller betrieb bis 31.12.2011 in A-Stadt ein Transportunternehmen und beschäftigte mehrere Kraftfahrer. In der Zeit vom 11.05.2012 bis 20.11.2012 führte die Antragsgegnerin eine Betriebsprüfung durch für den Prüfzeitraum 01.08.2008 bis 31.12.2011. Dabei stellte sie fest, dass Herr P. S. (P. S.), Herr R. L. (R. L.) und Herr R. (R.) als Kraftfahrer ohne eigenes Fahrzeug für den Antragsteller tätig waren. Diese Personen führten zwar für den Antragsteller Transporte durch, ihre Entlohnung war jedoch nicht im Lohnkonto gebucht. Vielmehr fanden sich die Zahlungen, die an diese drei Kraftfahrer geleistet wurden, unter dem Konto für Fremdleistungen. Der Fahrer R. war tätig von Januar 2008 bis August 2010 und erhielt monatlich etwa 3.000,00 Euro ausgezahlt. Den aktuellen Aufenthalt von R. konnte die Antragsgegnerin nicht ermitteln. P. S. war tätig von Januar 2008 bis Februar 2009 und erhielt ebenfalls ca. 3.000,00 Euro monatlich. Dieser hatte zwar ein Gewerbe angemeldet, besaß aber keine eigenen Betriebsräume. Seine Rechnungstellung basierte auf Tagespauschalen in Höhe von jeweils 150,00 bzw. 170,00 Euro. R. L. war für den Antragsteller fortlaufend tätig ab September 2010. Auch er hatte ein Gewerbe angemeldet und auch eine eigene Betriebsnummer. Für den Monat November 2009 hatte er einen Arbeitnehmer gemeldet.

Nach Anhörung erließ die Beklagte am 29.04.2013 den streitgegenständlichen Betriebsprüfungsbescheid, mit dem sie 106.005,62 Euro Gesamtsozialversicherungsbeiträge nachforderte. Darin enthalten waren 24.369,00 Euro Säumniszuschläge. Sie stützte ihre Entscheidung darauf, dass die drei vorgenannten Fahrer nicht als selbständig Tätige auftraten, sondern die abgerechneten Leistungen im Namen und auf Rechnung des Auftraggebers, des Antragsteller, erbracht hätten. Sie hätten auch kein unternehmerisches Risiko getragen, sondern lediglich ihre Arbeitskraft eingebracht. Weiter hätten die Fahrer keine eigene Betriebsstätte unterhalten und auch im streitgegenständlichen Zeitraum keine Mitarbeiter beschäftigt.

Bei der Berechnung wandte die Antragsgegnerin aufgrund der gezahlten Beträge die Nettolohnfiktion an unter Kürzung auf die jeweiligen Beitragsbemessungsgrenzen. Weiter stellte die Antragsgegnerin fest, dass der Antragsteller bei seinem Mitarbeiter O. bei der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge Zuschläge für Sonn-, Nacht- und Feiertagsarbeit in Abzug gebracht hatte, obwohl diese nicht zusätzlich zum Lohn geleistet worden waren.

Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch mit Schreiben vom 08.05.2013.

Mit Schreiben vom 13.05.2013 korrigierte die Antragsgegnerin den Bescheid vom 29.04.2013 wegen eines offensichtlichen Schreibfehlers auf eine Gesamtforderung von 107.140,85 Euro einschließlich Säumniszuschläge in Höhe von 24.709,50 Euro. Am 16.05.2013 wiederholte der Antragsteller den Widerspruch gegen...

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