Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit. haftungsbegründende Kausalität. Infektionskrankheit. erhöhtes Ansteckungsrisiko. Nachweis. Beweiserleichterung. Nadelstichverletzung. HIV-Erkrankung. Praktikantin

 

Orientierungssatz

1. Zur (bejahenden) Anerkennung einer HIV-Infektion einer in einem Krankenhaus für Chirurgie und inneren Medizin tätigen Praktikantin als Berufskrankheit gem BKVO Anl 1 Nr 3101.

2. Im Rahmen der Beweiswürdigung können auch bei einem Vollbeweis ausnahmsweise die Beweisanforderungen im Einzelfall herabgesetzt werden. Eine solche Herabsetzung der Beweisanforderungen ist dann zulässig, wenn besondere Umstände der versicherten Tätigkeit sonst mögliche Beweismittel ausschließen (hier: Nichtvorhandensein einer geeigneten Untersuchungsmethode zum Nachweis einer HIV-Infektion in Deutschland sowie Verhaltensregeln von Klinikpersonal gegenüber HIV-erkrankten Patienten und Dokumentationspflichten bei hier auftretenden Spritzenunfällen zur Zeit der Infektion bzw 1982)

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.03.2012 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Berufung zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Feststellung der HIV-Infektion als Berufskrankheit (BK) Nr. 3101.

Die 1966 geborene Klägerin absolvierte im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit bei der J. von Ende Juli 1982 bis Mitte August 1982 ein Praktikum in der Privatklinik Dr. S. (Chirurgie, Orthopädie, Innere Medizin u.a.) in B-Stadt.

Während dieser Praktikantentätigkeit erlitt sie mehrmals Schnitt- bzw. Stichverletzungen an gebrauchten Kanülen bzw. Skalpellen. Nach ihren Angaben hatte sie sich dabei auch nach der Blutentnahme bei einem Patienten, nachdem sie gestolpert war, versehentlich mit einer mit Blut (ca. 0,5 ml) gefüllten Spritze gestochen. Im nachfolgenden vierwöchigen Familienurlaub in Spanien traten grippeähnliche Symptome (Durchfall, Fieber, Übelkeit) und Hauterscheinungen auf; die Klägerin war damals zwei Wochen bettlägerig.

Sie legte 1984 die Mittlere Reife ab, durchlief von 1985 bis 1988 die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester und war anschließend in diesem Beruf in einer Kinderklinik tätig. Am 07.04.1987 und im November 1987 wurde mittels einer Laboruntersuchung (ELISA) eine HIV-Infektion festgestellt. Die Klägerin wurde mit dem Medikament Retrovir behandelt. Sie informierte die Beklagte anlässlich einer persönlichen Vorsprache am 14.12.1988 über diese Ereignisse.

In der gutachtlichen Stellungnahme vom 28.01.1989 teilte Professor Dr. G. (P.-Institut B-Stadt) der Beklagten mit, das serologische Anti-HIV-Muster der Klägerin könne mit einer Infektion zum Zeitpunkt des Praktikums in Übereinstimmung gebracht werden; ein Nadelstich sei weder dokumentiert noch belegt. Die Ermittlungen an Hand der Krankenunterlagen in der S.-Klinik waren bezüglich der Identifizierung eines Patienten mit HIV erfolglos.

Bei einer weiteren persönlichen Vorsprache am 13.06.1985 verweigerte die Klägerin Angaben zu ihrem Arbeitgeber. Die Beklagte lehnte daraufhin mit dem bindend gewordenen Bescheid vom 21.03.1990 Leistungen aus Anlass der HIV-Infektion wegen mangelnder Mitwirkung der Klägerin ab; sie habe Angaben zu ihren früheren Beschäftigungsverhältnissen bzw. Betriebspraktika verweigert.

Anfang 2007 nahm der Klägerbevollmächtigte das Verwaltungsverfahren wieder auf. Nach Erinnerung der Klägerin habe sie sich nach der Blutentnahme bei einem Patienten mit dem Namen K., der Steward bei einer amerikanischen Fluggesellschaft gewesen sei, versehentlich mit der Spritze (in den Daumen) gestochen. Damals habe es keine Verhaltensregeln für einen Spritzenunfall in der Klinik gegeben und ein HIV-Test sei noch nicht bekannt gewesen.

Die von der Beklagten gehörte Regierung von Oberbayern (Gewerbeaufsichtsamt) vertrat in der Stellungnahme vom 02.06.2009 (Internist Dr. W.) die Auffassung, dass bei der Verwendung der Spritze wahrscheinlich die für eine Infektion erforderliche Mindestmenge von 1,0 µl infizierten Blutes nicht erreicht worden sei. Alle Angaben der Klägerin seien nicht bewiesen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25.06.2009 die Anerkennung der HIV-Infektion als Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Berufskrankheiten-Liste sowie einen Leistungsanspruch ab; es sei nach der Stellungnahme der Regierung von Oberbayern nicht nachgewiesen, dass sich die Klägerin durch ihre berufliche Tätigkeit infiziert habe.

Die Beklagte wies den dagegen eingelegten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.09.2009 zurück. Für die Feststellung der Berufskrankheit sei der Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit erforderlich. Es sei im Anschluss an das Praktikum kein HIV-Test durchgeführt worden und es könne auch nicht nachgewiesen werden, dass der angegebene Patient tatsächlich mit HIV infiziert gewesen sei.

Die Klägerin hat hiergegen am 26.10.2009 beim Sozialge...

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