Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Feststellung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen
Leitsatz (amtlich)
Die Feststellung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen setzt voraus, dass diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind und dass das Unfallereignis oder der Gesundheitserstschaden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentliche Teilursache für die psychischen Gesundheitsstörungen war.
Die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1 nach ICD 10) als Unfallfolge ist angesichts der nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestehenden Latenzzeiten nicht möglich, wenn nach dem angeschuldigten Unfallereignis über viele Jahre (hier: 8 Jahre) trotz teilweise mehrwöchiger fachärztlicher Behandlungen keine für die Diagnose der PTBS wesentlichen Symptome vom Versicherten genannt oder von den behandelnden Fachärzten festgestellt worden waren.
Liegen zwischen Unfallereignis und Erstmanifestation einer paranoiden Schizophrenie im Sinne von F 20.0 der ICD 10 über 2 Jahre, ist mangels zeitlichen Zusammenhangs das Unfallereignis noch nicht einmal als Auslöser oder Gelegenheitursache der Schizophrenie anzusehen.
Nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand steht im Zentrum der multifaktorellen Entstehung der schizophrenen Erkrankung eine genetisch bedingte Vulnerabilität, ohne dass die Forschung eindeutige Ergebnisse einer pathogenetischen Bedeutung von Lebensereignissen erbracht hat.
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 30. März 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung von psychischen Gesundheitsschäden als Folgen eines von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfalls des Klägers vom 29.10.2000.
Der 1971 geborene Kläger war nach Ausbildung zum Lokführer im Jahr 1993 anschließend als solcher im Streckendienst bei der Deutschen Bahn AG abhängig beschäftigt. Ab Juni 2003 wurde er vom Bahnarzt nicht mehr für diese Tätigkeit zugelassen. Seit Februar 2005 bezieht er volle Erwerbsminderungsrente.
Am Sonntag, dem 29.10.2000, gegen 21.00 Uhr steuerte der Kläger als Lokführer einen Regionalexpress in Richtung P. und bemerkte beim planmäßigen Halt in O. starke Rauchentwicklung im Führerstand. Er stieg aus, verständigte den Fahrdienstleiter, rangierte den Zug bei geöffnetem Fenster für etwa 15-20 Minuten, um die Strecke zu räumen, verließ den Zug und stellte die Arbeit ein.
Der Durchgangsarzt Dr. S., den der Kläger am 30.10.2000 gegen 11.00 Uhr aufsuchte, diagnostizierte einen Zustand nach Exposition von Schwelbrandgasen. Beschwerden wurden laut Bericht des Durchgangsarztes nicht vom Kläger geschildert. Die Lunge zeigte sich auskultatorisch gleichseitig belüftet. Dr. S., der keine Behandlungsbedürftigkeit sah, bescheinigte Arbeitsunfähigkeit nur bis 30.10.2000.
Mit Schreiben vom 27.08.2007 an die Beklagte führte der Kläger aus, dass er im Fahrbetrieb als Lokführer seit ca. 2003 / 2004 schwer psychiatrisch erkrankt sei und seit Februar 2005 eine volle Erwerbsminderungsrente beziehe. Er machte einen Anspruch auf eine Unfallrente geltend und wies auf die allgemeine Belastung als Lokführer hin. Er habe persönlich einige traumatische Erlebnisse erfahren. Er nannte Beinahekollisionen (an einem nicht technisch gesicherten Bahnübergang, mit schweren Lastkraftwägen, das beinahe Überfahren eines kleinen Kindes), eine schwere Entgleisung im Rangierdienst, den Aufenthalt von Personen im Gleisbereich und eine toxische Rauchentwicklung im Führerstand durch eine defekte Gebläseheizung. Auf Nachfrage der Beklagten gab er an, er habe am 29.10.2000 knapp 2 Stunden toxischen Rauch eingeatmet bzw. sehr spät erkannt, dass sich Rauch im Führerraum befunden habe. Dadurch habe er bei der Rückfahrt einen Nervenzusammenbruch erlitten. Hinsichtlich der Schilderung weiterer Ereignisse (u.a. das Auffinden einer leblosen Person im Gleisbereich, Bedrohung durch gewalttätige Personen im Zug, das Auffinden einer bewusstlosen Person im Zug, Wurf eines Gegenstandes von einer Brücke auf seinen Zug) wird auf das Antwortschreiben des Klägers zur Anfrage der Beklagten vom 21.07.2008 Bezug genommen. Der Kläger gab an, dass er durch diese Ereignisse eine depressive Verstimmung und zunehmende Angstzustände bekommen habe; er leide an Konzentrationsproblemen, Schlafstörungen und Angstzuständen.
Die Beklagte zog ein Vorerkrankungsverzeichnis der Bahn-BKK und der BKK-Mobil und ärztliche Unterlagen bei, u.a. einen Abschlussbericht der Privat-Nervenklinik Dr. R./Dr. Sch. in Ulm vom 29.03.2004 über den Aufenthalt des Klägers vom 09.12.2003 bis 05.03.2004 und vom 10.03. bis 19.03.2004, einen Rehabilitationsentlassungsbericht der D. Klinik E. - Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie - über den Aufenthalt des Klägers vom 05.10.2004 bis 22.10.2004, einen Arztbrief des Bezirkskrankenhauses H. über den Aufenthalt des...