Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. Weg zur Nahrungsbeschaffung. sachlicher Zusammenhang. objektivierte Handlungstendenz. betriebliches Interesse. Erhaltung der Arbeitskraft. Vollzeittätigkeit im Homeoffice. Mittagspause. Erwerb einer Mittagsmahlzeit zum alsbaldigen Verzehr im häuslichen Bereich. Gleichbehandlung mit den auf der Betriebsstätte versicherten Arbeitnehmern
Leitsatz (amtlich)
Ein in Vollzeit im Homeoffice beschäftigter Arbeitnehmer, der während einer in die betrieblichen Abläufe integrierten Mittagspause auf dem Rückweg vom Erwerb einer Mittagsmahlzeit zum alsbaldigen Verzehr im häuslichen Bereich verunglückt, steht gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Orientierungssatz
Die gesetzliche Regelung des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7 hat durch die Neuregelung des § 8 Abs 1 S 3 SGB 7 weder eine Erweiterung noch eine Einschränkung erfahren, da § 8 Abs 1 S 3 SGB 7 sich nur auf Wege im eigenen Haushalt (zB zur Nahrungsaufnahme oder zum Toilettengang) bezieht, bei denen ein Durchschreiten der Außentüre des eigenen Wohnbereichs gerade nicht stattfindet und die somit mit entsprechenden Betriebswegen im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände vergleichbar wären.
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. Juni 2023 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Arbeitsunfalles i. S. d. § 8 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII).
Der 1964 geborene Kläger und Berufungsbeklagte (Kläger) erlitt am 10.03.2022 um 12:15 Uhr einen Unfall, als er auf dem direkten Weg vom Einkauf des Mittagsessens in einer ca. 500 Meter entfernten Metzgerei zurück zu seinem Arbeitsplatz im Homeoffice mit dem Fahrrad stürzte.
Der Kläger war am Unfalltag in Vollzeit im Homeoffice tätig und wollte während einer ca. 30-minütigen Pause zwischen zwei Online-Meetings eine warme Mittagsmahlzeit (Leberkässemmel und Eintopf) besorgen, um diese in der verbleibenden Pause im Homeoffice zu verzehren. Auf dem Rückweg von der Metzgerei zu seiner Wohnung musste er wegen am rechten Fahrbahnrand geparkter Fahrzeuge und des Gegenverkehrs abbremsen, betätigte dabei versehentlich zu stark die Vorderradbremse und stürzte über den Lenker, wobei er eine Olecranonfraktur (Bruch der Oberkante der Elle am Unterarm) rechts erlitt.
Mit Bescheid vom 12.05.2022 lehnte die Beklagte und Berufungsklägerin (Beklagte) die Anerkennung des Ereignisses am 10.03.2022 als Arbeitsunfall ab. Nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII sei auch das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit eine versicherte Tätigkeit. Werde die versicherte Tätigkeit im Haushalt der versicherten Personen (Homeoffice) oder an einem anderen Ort ausgeübt, bestehe gemäß § 8 Abs. 1 S. 3 SGB VII grundsätzlich Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte. Die Gleichbehandlung der Tätigkeit im Haushalt oder einem anderen Ort gemäß § 8 Abs. 1 S. 3 SGB VII betreffe hierbei versicherte Tätigkeiten nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII im Sinne von Wegen zum Holen von Getränken, zur Nahrungsaufnahme oder zum Toilettengang. Sie umfasse jedoch nicht Wege zur und von der Nahrungsaufnahme, die aus der Wohnung herausführten, da die Wegeunfallversicherung nach § 8 Abs. 2 SGB VII nicht umfasst werde.
Hiergegen erhob der Kläger am 30.05.2022 Widerspruch und verwies dabei u.a. auf ein Urteil des Landessozialgerichts Darmstadt vom 24.03.2015 (Az. L 3 U 225/10), wonach auch Wege zur Nahrungsaufnahme grundsätzlich versichert seien. Die von der Beklagten angeführte Unterscheidung zwischen Betriebsstätte und Homeoffice könne er anhand der von der Beklagten angeführten Begründung nicht nachvollziehen. Dem § 8 Abs. 1 S. 3 SGB VII sei zu entnehmen, dass ein Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte bestehe, wenn die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt werde. Dies drücke sehr klar die grundsätzliche Intention des Gesetzgebers zur Gleichstellung des Homeoffice mit der Betriebsstätte aus. § 8 Abs. 1 SGB VII sei das einleitende Kapitel zu
§ 8 SGB VII und gelte daher auch für die Detaillierungen der nachfolgenden Absätze. Abs. 1 enthalte zum Beispiel auch die Referenz auf § 2 SGB VII zur Definition des Personenkreises. Auch diese Referenz werde in den Abs. 2 bis 5 nicht explizit wiederholt, gelte aber dennoch auch hier. Abs. 1 definiere also den Arbeitsunfall als Oberbegriff allgemein und unterscheide nicht zwischen Arbeits- und Wegeunfall. Dieser Sachverhalt sei bereits aus dem Titel von § 8 SGB VII"Arbeitsunfall" ersichtlich, der nicht etwa "Arbeits- und Wegeunfall" laute. Neben der generell vom Gesetzgeber anerkannten Gleichstellung von Homeoffice und Betriebsstätte komme noch verstär...