Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Pflegeversicherung. Ruhen des Pflegegeldanspruchs. Türkeiaufenthalt. Nichtanwendbarkeit des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit auf deutsche Rechtsvorschriften über die soziale Pflegeversicherung. Europarecht

 

Leitsatz (amtlich)

Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit (juris: SozSichAbk TUR) vom 30.4.1964 (Zustimmungsgesetz vom 13.9.1965 - BGBl II 1965, 1169; juris: SozSichAbkTURG), geändert durch das Zusatzabkommen (juris: SozSichAbkÄndAbk2ZAbk TUR) vom 2.11.1984 (Zustimmungsgesetz vom 11.12.1986 - BGBl II 1986, 1038; juris: SozSichAbkÄndAbk2ZAbkTURG), ist auf die deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Pflegeversicherung nicht anwendbar.

 

Orientierungssatz

Im Falle eines Aufenthalts in der Türkei besteht kein Anspruch auf Fortzahlung des Pflegegeldes über die ersten sechs Wochen des Aufenthaltes hinaus. Ein solcher Anspruch ergibt sich weder aus innerstaatlichem Recht, noch aus primärem oder sekundärem Europarecht noch aus einem bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 25.02.2015; Aktenzeichen B 3 P 6/13 R)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin für die Dauer eines - noch durchzuführenden - Aufenthalts in der Türkei über die ersten sechs Wochen des Aufenthalts hinaus Pflegegeld nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu zahlen hätte.

Die bei der Beklagten versicherte Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige. Seit dem 16.04.1997 erhält die Klägerin Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Am 25.01.2011 beantragte sie gegenüber der Beklagten, diese möge durch rechtsbehelfsfähigen Bescheid feststellen, dass die Klägerin im Falle eines Aufenthalts in der Türkei von vier Monaten Anspruch auf Pflegegeld über sechs Wochen hinaus habe. Nach dem "Abkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei 1980/V" seien türkischen Staatsbürgern sämtliche Leistungen zu gewähren, die EU-Staaten den Staatsbürgern anderer EU-Staaten gewähren.

Mit Schreiben vom 31.01.2011 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie keine Pflegegeldauszahlung vornehmen könne, wenn sich die Klägerin über sechs Wochen hinaus in der Türkei aufhalte. Das Schreiben enthielt eine Belehrung über die Möglichkeit, gegen die Entscheidung binnen eines Monats Widerspruch einzulegen.

Den hiergegen am 03.02.2011 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2011 zurück. Der Widerspruch sei bereits unzulässig, weil das Schreiben vom 31.01.2011 keinen Verwaltungsakt darstelle, sondern lediglich eine Auskunft zur gängigen Rechtslage gebe. Das Schreiben vom 31.01.2011 sei deshalb als schlichtes Verwaltungshandeln in der Form einer schriftlichen Information zu bewerten. Eine Beschwer der Klägerin liege nicht vor. Der Widerspruch sei auch nicht begründet. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) ruhe der Anspruch auf Pflegeleistungen, solange sich der Versicherte im Ausland aufhalte. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr sei das Pflegegeld weiter zu gewähren. Zwar komme nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) der Export von Pflegegeld für Versicherte deutscher Pflegekassen, die sich in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) oder der Schweiz aufhalten, in Betracht. Jedoch gelte dies nur für den Export von Pflegeleistungen in andere EU/EWR-Staaten oder die Schweiz, nicht jedoch in andere Staaten. Es verbiete sich eine Übertragung der Rechtsprechung des EuGH auf Versicherte, die sich nicht nur vorübergehend in der Türkei aufhalten.

Hiergegen richtet sich die am 02.05.2011 beim Sozialgericht (SG) Augsburg erhobene Klage.

Die Klägerin hat sich darauf berufen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH das Pflegegeld der deutschen Pflegeversicherung als Geldleistung bei Krankheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei. Türkische Staatsangehörige seien insoweit privilegiert, als auf sie sowohl die Verordnung Nr. 1408/71 als auch das Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 EG-Vertrag anwendbar seien. Weiter verbiete Art. 9 des Assoziationsabkommens zwischen dem EWR und der Türkei jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Schließlich verstoße die Beschränkung des Pflegegeldes auf sechs Wochen auch gegen den Beschluss Nr. 3/80 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen vom 19.09.1980. Das Pflegegeld unterfalle als Leistung bei Krankheit dem Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses, Art. 3 A...

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