Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Verfahren der Kostenfestsetzung. Aktivlegitimation der Partei des Ausgangsverfahrens als Kostenschuldner. immaterieller Nachteil. Feststellung der Überlänge grundsätzlich ausreichend. materieller Nachteil. Ersatz der angestiegenen Zinslasten. Übergangsrecht. anhängige Beschwerde über das Ausgangsverfahren beim EGMR. europarechtskonforme Auslegung. Anhängigkeit auch in Bezug auf Kostenfestsetzungsverfahren. sozialgerichtliches Verfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Entschädigung eines überlangen Verfahrens der Kostenfestsetzung genügt es, wenn das Verfahren der Hauptsache zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜGG (juris: ÜberlVfRSchG) noch anhängig ist.

2. Verfahren der Kostenfestsetzung rechtfertigen im Regelfall keine Entschädigung. Eine Feststellung der Überlänge genügt.

3. Eine Entschädigung hat wegen der Verzinsung der Kostenfestsetzung zu erfolgen, die bei zunehmender Dauer des Verfahrens anwächst.

 

Orientierungssatz

Der nicht mehr anwaltlich vertretene Kläger des Ausgangsverfahrens ist als Kostenschuldner des Bevollmächtigten des ehemaligen Prozessgegners aktivlegitimiert, eine Entschädigungsklage wegen überlanger Dauer des Kostenfestsetzungsverfahrens zu betreiben.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 01.06.2017; Aktenzeichen B 10 ÜG 30/16 B)

 

Tenor

I. Der Beklagte hat 157,71 € als materiellen Schaden an den Kläger zu zahlen. Der Anspruch ist ab 1. Juni 2012 mit 5 % Punkte über dem Basiszinssatz zu verzinsen.

II. Es wird festgestellt, dass die Dauer des Kostenfestsetzungsverfahren vor dem Sozialgericht München mit dem Aktenzeichen S 18 KR 593/93 unangemessen war.

III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

IV. Der Kläger trägt 13/20 der Kosten des Verfahrens, der Beklagte 7/20.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger verlangt erstinstanzlich beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) vom beklagten Freistaat (vertreten durch das Landesamt der Finanzen) Schadensersatz wegen eines überlangen Verfahrens der Kostenfestsetzung.

Dem Verfahren auf Kostenfestsetzung ist ein Hauptsacheverfahren mit einer Klage (S 18 Kr 593/93) aus dem Jahre 1989 vorausgegangen, mit welchem Beiträge zur privaten Krankenversicherung beantragt worden sind. Der Rechtsweg war gegeben, weil der Anspruch seinen Rechtsgrund in Vorschriften des SGB hatte (§ 257 Abs. 2 SGB V, § 405 RVO). Die anschließende Berufung endete mit Urteil vom 20. Oktober 2005. Eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BSG blieb erfolglos ((Beschluss vom 31.07.2007, Az: B 12 KR 83/06 B); ebenso eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 8. Oktober 2008). Im Ergebnis ist der beklagte Arbeitgeber verurteilt worden, dem Kläger für den Monat Juli 1988 eine Krankenversicherungszuschuss von 47,06 € zuzüglich 4 % Zinsen ab 15. August 1988 zu bezahlen. Im Übrigen erfolgte Klageabweisung mit entsprechender Kostenfolge für die außergerichtlichen Kosten.

Der Prozessbevollmächtigte des Arbeitgebers, Rechtsanwalt A. von H, beantragte am 16.01.2006 in dem später gerügten Kostenfestsetzungsverfahren die Festsetzung von zunächst 510,40 € und später dann in Erweiterung wegen der Kosten bei dem BSG weitere 100,62 €. Auch dieses Verfahren wurde (als Beiakte) unter dem Aktenzeichen S 18 Kr 593/93 geführt. Der Kläger hatte das Fehlen einer wirksamen Prozessvollmacht vorgebracht. Die Partei sei dem amerikanischen Recht unterworfen und dort trage die obsiegende Partei ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Auch die Forderung der Mehrwertsteuer ist in Zweifel gezogen worden, weil es sich um einen amerikanischen Auftraggeber gehandelt habe. Dieses Vorbringen ist später nochmals wiederholt worden (Schriftsatz vom 12.8.2010 des Rechtsanwalts F.).

Am 18.07.2007 wies der Kläger das SG darauf hin, dass das Kostenfestsetzungsverfahren bereits mehr als ein Jahr und sechs Monaten andauere. Gegen diese lange Verfahrensdauer bestünden erhebliche Bedenken, weil das Menschenrecht auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nach der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) auch im Kostenfestsetzungsverfahren zu verwirklichen sei. Vom SG wurde dem Kläger mitgeteilt, dass unter dem Aktenzeichen S 18 Kr 593/93 kein Vorgang feststellbar sei.

Am 2.8.2010 erinnerte Rechtsanwalt von H. an die Kostenfestsetzung. In diesem Zusammenhang ist entdeckt worden, dass nach Versetzung des den Antrag bearbeitenden Urkundsbeamten die Akte versehentlich weggelegt worden war. Aus dem Verfahren L 4 KR 2/03 wurde ein Schriftsatz an den EGMR vom 5.5.2010 unter dem Aktenzeichen 23056/09 bekannt. Darin ist auf Seite 3 (B.h) unter anderem ausgeführt, dass mit einem Schriftsatz vom 18.7.2007 der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf angemessene Verfahrensdauer im Kostenfestsetzungsverfahren gerügt habe. Auf eine Anlage 4 wurde Bezug genommen. Das Sozialgericht sei bislang untätig gewesen.

Mit Beschluss vom 12. Oktober 2010 erfolgte dann die Kostenfestsetzung auf 54...

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