Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendbarkeit der Prioritätsregeln des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004. Vergleichbarkeit von bayerischem Familiengeld und österreichischem Kinderbetreuungsgeld

 

Leitsatz (amtlich)

1. Art. 68 VO(EG) Nr. 883/2004 muss im Lichte des Art. 10 VO (EG) Nr. 883/2004 dahingehend ausgelegt werden, dass nur Familienleistungen gleicher Art die Prioritätsregeln auslösen.

2. Für die Prüfung, ob Familienleistungen gleicher Art nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedsländer zusammentreffen, ist maßgeblich auf Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für ihre Gewährung abzustellen.

3. Das bayerische Familiengeld und das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens sind nicht Familienleistungen gleicher Art.

 

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in der Berufungsinstanz.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über den Anspruch auf Familiengeld für den Zeitraum 08.09.2018 bis 07.01.2019.

Der Kläger beantragte am 07.09.2018 Familiengeld nach dem Bayerischen Familiengeldgesetz (BayFamGG) für den am 08.01.2016 geborenen Sohn K für den 33. bis 36. Lebensmonat (08.09.2018 bis 07.01.2019). Der Kläger besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, lebt gemeinsam mit der Mutter des Sohnes in A, Bayern, und ist berufstätig in Österreich. Auch die Mutter des Sohnes ist in Österreich berufstätig.

Mit Bescheid vom 03.12.2018 wurde der Antrag abgelehnt. Zur Vermeidung von Doppelleistungen würden die europarechtlichen Kollisionsnormen beim Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen eine Rangfolge der Leistungsansprüche gegenüber den betroffenen Mitgliedstaaten vorsehen. Nach Art. 68 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 (sic) sei im Fall des Klägers Österreich vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig, von Deutschland sei gegebenenfalls noch ein Unterschiedsbetrag zu zahlen. Der Unterschiedsbetrag werde durch einen Vergleich der in Österreich zustehenden Familienleistungen (Kinderbetreuungsgeld) und dem deutschen Elterngeld ermittelt. Da in Deutschland kein Elterngeld beantragt worden sei, sei davon auszugehen, dass die Leistung aus Österreich (Kinderbetreuungsgeld) höher sei und somit kein Unterschiedsbetrag von Deutschland zu zahlen sei.

Hiergegen legte der Kläger am 18.12.2018 Widerspruch ein. Die Voraussetzungen des Art. 2 BayFamGG seien erfüllt. In Österreich gebe es keine Leistungen, welche dem Bayerischen Familiengeld vergleichbar seien. Damit sei Art. 4 BayFamGG nicht einschlägig. Das bayerische Familiengeld sei eine Leistung, welche durch den Wohnsitz zustehe. Gemäß Art. 68 der Verordnung (EG) 883/2004 habe der Wohnsitzstaat bei Ansprüchen, welche durch den Wohnsitz ausgelöst würden, die Leistungszuständigkeit. Nach dem Gutachten der Bayerischen Staatsregierung zur Frage der Anrechenbarkeit des Familiengeldes auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II vom 21.09.2018 handele es sich bei der Leistung des BayFamGG um eine eigenständige Leistung zur Förderung individueller Bedürfnisse von Kindern, welche nicht auf andere existenzsichernde Sozialleistungen anzurechnen seien. Eine existenzsichernde Sozialleistung wäre beispielsweise das Elterngeld, bei dem der Staat einen Einkommensersatz leiste. Dies sei vergleichbar mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld.

Mit Schreiben vom 28.01.2019 wurden Gehaltsabrechnungen der Ehefrau für die 12 Monate vor Beginn des Monats mit Wochengeldbezug sowie die Einkommensteuerbescheide für das Kalenderjahr 2015 sowie die Bescheide über Kinderbetreuungsgeld und Wochengeld angefordert.

Mit Schreiben vom 17.02.2019 teilte der Kläger mit, dass er die angeforderten Unterlagen nicht vorlegen werde. Diese seien nicht erforderlich für die Prüfung des Anspruchs auf bayerisches Familiengeld.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2019 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Nach Art. 11 VO (EG) Nr. 883/2004 (VO) bestünden Ansprüche auf Familienleistungen im Beschäftigungsland Österreich und im Wohnland Deutschland/Bayern. Art. 60 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 987/2009 regele das Verfahren bei Anwendung von Art. 67 und 68 der Grundverordnung. Danach sei Österreich vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig und Deutschland nachrangig zur Zahlung eines Unterschiedsbetrages verpflichtet. Die Familienleistungen anlässlich der Geburt des Sohnes K umfassten das Elterngeld und das bayerische Familiengeld in Deutschland und seien dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld gegenüberzustellen. Nachdem in Deutschland kein Antrag auf Elterngeld gestellt worden sei, werde davon ausgegangen, dass die österreichischen Familienleistungen höher als die deutschen Familienleistungen seien. Aufgrund des Widerspruchs habe geprüft werden sollen, ob im Nachgang eine Ausgleichszahlung des ba...

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