Entscheidungsstichwort (Thema)
Endgültiger Unterhaltsverzicht
Orientierungssatz
Der 5. BSG-Senat fragt beim 1. und 4. BSG-Senat an, ob an der Rechtsprechung im Urteil vom 7.12.1976 - 1 RA 45/76 - und im Urteil vom 28.3.1979 - 4 RJ 3/78 - festgehalten wird, wonach in jedem Fall ein umfassender, endgültiger Verzicht auf Unterhalt die Anwendung des § 42 Abs 1 S 2 AVG beziehungsweise des § 1265 Abs 1 S 2 RVO ausschließt.
Normenkette
AVG § 42 S 2 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 42 Abs 1 S 2 Nr 1; RVO § 1265 Abs 1 S 2 Nr 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 26.08.1986; Aktenzeichen L 5 J 188/85) |
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung ihres am 9. Mai 1982 verstorbenen früheren Ehemannes.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Schleswig vom 7. Oktober 1958 aus alleinigem Verschulden des Ehemannes geschieden. Vor dem OLG haben die Parteien des Scheidungsverfahrens einen Vergleich geschlossen, in dem sie ua gegenseitig auf Unterhalt für Vergangenheit und Zukunft sowie für den Fall veränderter Umstände iS des § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verzichtet haben. Der Versicherte verpflichtete sich, für die drei gemeinsamen Kinder, für die der Klägerin das Sorgerecht zustehen sollte, insgesamt monatlich 225,-- DM an Unterhalt zu zahlen. Der Versicherte ist nach der Scheidung eine neue Ehe nicht eingegangen.
Den Rentenantrag der Klägerin vom 14. Mai 1982 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. August 1982 ab, weil die Klägerin umfassend auf Unterhalt verzichtet habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage der Klägerin abgewiesen (Urteil vom 2. Februar 1983). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) in seinem ersten Urteil in diesem Rechtsstreit vom 25. November 1983 die Beklagte verurteilt, "der Klägerin ab 1. Juni 1982 Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 RVO zu gewähren". Dieses Urteil hat der erkennende Senat - damals als 5b Senat - in dem Revisionsverfahren 5b RJ 68/84 am 14. März 1985 aufgehoben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen (vgl SozR 2200 § 1265 Nr 74). Der Senat hat damals ausgeführt, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe ein umfassender Unterhaltsverzicht zur Folge, daß ein Anspruch aus § 1265 Satz 2 RVO nicht bestehe (vgl BSG in SozR aaO Nrn 3, 6, 40). Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, hat der Senat unentschieden gelassen, jedoch die Gründe, aus denen das LSG davon abgewichen ist, für erwägenswert gehalten. Von seinem Rechtsstandpunkt aus hätte sich das LSG jedenfalls gedrängt fühlen müssen, Feststellungen darüber zu treffen, ob aus Gründen, die nicht im Zusammenhang mit den Vermögens- oder Erwerbsverhältnissen des Versicherten gestanden hätten, der Unterhaltsverzicht erklärt worden sei.
Das LSG hat nun erneut die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Juni 1982 Hinterbliebenenrente zu gewähren (Urteil vom 26. August 1986). Es hat festgestellt, das entscheidende Motiv der Klägerin für den 1958 vereinbarten Unterhaltsverzicht habe in den zumindest in jener Zeit sehr schlechten Vermögens- und Erwerbsverhältnissen ihres früheren Ehemannes gelegen.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt die unrichtige Anwendung materiellen Rechts und zwar die Auslegung des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO unter Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und |
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen. |
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der erkennende Senat möchte die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG vom 26. August 1986 zurückweisen, sieht sich daran aber durch die Rechtsprechung des BSG und zwar durch die Entscheidungen des 1. Senats vom 7. Dezember 1976 - 1 RA 45/76 - sowie des 4. Senats vom 28. März 1979 - 4 RJ 3/78 - (SozR aaO Nr 40) gehindert. Zwar hat der 4. Senat des BSG keine Rechtsstreitigkeiten aus der Rentenversicherung der Arbeiter mehr zu entscheiden, und das erwähnte Urteil des 1. Senats ist zum Recht der Angestelltenversicherung ergangen. Das befreit den erkennenden Senat aber nicht von seiner Verpflichtung, beim 1. und 4. Senat anzufragen, ob diese an ihrer bisherigen Rechtsprechung festhalten. Beide Senate sind mit Streitsachen aus der Angestelltenversicherung befaßt, in der die hier zu entscheidende Frage der Auswirkungen eines Unterhaltsverzichts auf den Rentenanspruch aus § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO wegen der gleichlautenden Vorschrift in § 42 Abs 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ebenfalls auftreten kann.
Hingegen bedarf es im Hinblick auf die Urteile des 12. Senats vom 18. Dezember 1974 (aaO Nr 3) und des 11. Senats vom 22. August 1975 (aaO Nr 6) sowie seines Beschlusses vom 16. Dezember 1975 (aaO Nr 12) keiner Anfragen bei diesen Senaten; denn sie entscheiden nicht mehr über Rentenansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Seine eigene Rechtsprechung zum Unterhaltsverzicht im Urteil vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 91/75 - möchte der erkennende Senat aufgeben.
Der 1. Senat hat im Urteil vom 7. Dezember 1976 entschieden, der Unterhaltsverzicht schließe jeden Anspruch auf eine Rente nach § 42 AVG von vornherein aus. Der 4. Senat hat im Urteil vom 28. März 1979 (SozR aaO) ausgeführt, durch einen umfassenden, endgültigen Unterhaltsverzicht werde die Anwendung des § 1265 Satz 2 RVO, der damals noch keinen Abs 2 hatte, ausgeschlossen. Im Gegensatz dazu möchte der erkennende Senat einen Rentenanspruch aus der genannten Vorschrift nicht scheitern lassen, wenn - wie es in § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO heißt - "eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat" und der Unterhaltsverzicht gerade diesen Verhältnissen Rechnung trägt.
Wie der Senat bereits im Urteil vom 14. März 1985 (SozR aaO) ausgeführt hat, ist die Rechtsprechung des BSG zu den Auswirkungen eines Unterhaltsverzichts auf den Rentenanspruch aus § 1265 Satz 2 RVO in der Literatur auf Kritik gestoßen (vgl Peters, "Schließt ein Unterhaltsverzicht der geschiedenen Frau auch einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO aus?" in ZfS 1975, 173; Bürkle, "Geschiedenenrente trotz Unterhaltsverzicht?" in SGb 1980, 533). Die Argumente der genannten Autoren sieht der Senat als überzeugend an.
Nur der umfassende Unterhaltsverzicht schadet nach der bisherigen Rechtsprechung dem Rentenanspruch aus § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO. Wurde dagegen der Notbedarf vom Verzicht ausgenommen (SozR aaO Nrn 50, 53) oder bestand eine Unterhaltsverpflichtung nur für den Fall der - nicht eingetretenen - Berufsunfähigkeit (SozR aaO Nr 55), so ist die genannte Vorschrift anwendbar. Auch nicht realisierbare Unterhaltsansprüche, zB beim Ausschluß der Klagbarkeit (so Urteil vom 26. Juni 1980 - 5 RJ 70/79 -) oder beim Aufenthalt des Versicherten in der DDR (SozR aaO Nr 46) können zum Anspruch der geschiedenen Frau auf Hinterbliebenenrente führen. In all diesen Fällen bestand zu Lebzeiten des Versicherten keine Aussicht für seine geschiedene Ehefrau, zu Unterhaltsleistungen zu kommen. Wird den Realitäten hingegen durch einen umfassenden Unterhaltsverzicht Rechnung getragen, so sollen die tatsächlichen Verhältnisse keine Bedeutung im Rahmen des Satzes 2 von § 1265 Abs 1 RVO mehr erlangen können.
Der Senat hat bereits im Urteil vom 14. März 1985 (SozR aaO) auf den sich hier anbietenden Vergleich zur Rechtsprechung zu § 1291 Abs 2 RVO hingewiesen. Bei dem dort geregelten Wiederaufleben einer Witwenrente ist ein infolge Auflösung der Ehe erworbener Versorgungs- oder Unterhaltsanspruch anzurechnen. Bei der Zahlung der wiederaufgelebten Witwenrente hängt die Berücksichtigung einer Unterhaltsvereinbarung einschließlich des Verzichts davon ab, daß sie auf einem verständigen Grund beruht (zur Entwicklung dieser Rechtsprechung vgl BSGE 54, 270, 271 f mwN). Die unterschiedliche Rechtsprechung zum Unterhaltsverzicht im Rahmen der §§ 1265 Satz 2 und 1291 Abs 2 RVO bedarf nach Auffassung des erkennenden Senats der Harmonisierung. Dort, wo der Verzicht sich zum Nachteil der Versichertengemeinschaft, also zu Lasten des Versicherungsträgers bei der wiederaufgelebten Witwenrente auswirkt, ist er prinzipiell im Rentenrecht unbeachtlich. Wirkt er sich hingegen bei der Hinterbliebenenrente der geschiedenen Ehefrau zu deren Nachteil aus, dann wird er zum selbständigen Grund für die Rentenablehnung auch dann, wenn aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse der Versicherungsträger ohne den Verzicht hätte leisten müssen. Eine derartige Differenzierung ist nach Auffassung des 5. Senats nicht gerechtfertigt. Sie entbehrt einer hinreichend sachlichen Begründung. Es ist nicht einzusehen, weshalb ein verständiger Grund für den Unterhaltsverzicht die Gewährung der Hinterbliebenenrente im Rahmen des § 1291 Abs 2 RVO bewirkt, im Rahmen des § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO indes verhindert.
Schließlich sieht es der Senat in hohem Maße als bedenklich an, daß zum Verlust des Anspruchs aus § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO selbst ein Verzicht führen soll, der erklärt worden ist, als die rentenrechtlichen Auswirkungen des Verzichts überhaupt noch nicht zu überblicken waren. Satz 2 ist in § 1265 RVO erst mit Wirkung vom 1. Juli 1965 durch Art 1 Nr 27 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) angefügt worden. Hier hat die Klägerin den Verzicht bereits im Jahre 1958 erklärt. Damals hätte ihr als geschiedener Ehefrau Hinterbliebenenrente nicht zugestanden, wenn der frühere Ehemann zur Zeit seines Todes nicht in der Lage war, Unterhalt zu leisten. 1958 war nicht abzusehen und nicht damit zu rechnen, daß der Gesetzgeber die Anforderungen für den Bezug der sog Geschiedenenrente unter bestimmten Voraussetzungen lockern würde, wie er es sodann (1965) getan hat. Zwar hat der 11. Senat des BSG im Urteil vom 18. September 1975 (SozR aaO Nr 6) insoweit einen Einfluß auf die Rechtslage verneint, da die Gesetzesänderung die Lage jedenfalls nicht verschlechtert habe. Das aber sieht der erkennende Senat anders. Der Gesetzgeber wollte unter den übrigen Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO in dessen Nr 1 den Rentenanspruch nicht mehr an die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten knüpfen. Also auch die geschiedene Ehefrau eines nicht leistungsfähigen Versicherten sollte nunmehr die Rente erhalten, wenn keine Witwenrente zu zahlen war. Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß von dieser Rechtswohltat geschiedene Frauen im zeitlichen Geltungsbereich des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO allein deshalb ausgeschlossen werden sollten, weil sie vor der Rechtsänderung 1965 und ohne Kenntnis von dieser bei objektiv nicht vorhandener Fähigkeit des Versicherten zur Unterhaltsleistung - und damit aus verständigem Grund - auf Unterhalt verzichtet hatten. Zumindest für diese Fälle sollte die bisherige Rechtsprechung zu den §§ 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO, 42 Abs 1 Satz 2 Nr 1 AVG - wie dies im Rahmen des § 1291 Abs 2 RVO geschehen ist (vgl BSGE 54, 270, 271 mwN) - modifiziert werden. Dabei sollte dann eine angemessene Übergangszeit, in der sich die Betroffenen auf das ab 1. Juli 1965 geltende neue Recht einstellen konnten, eingeplant werden.
Wie der Senat bereits im Urteil vom 14. März 1985 (aaO) dargelegt hat, kann nur der Verzicht unschädlich sein, der den in Nr 1 des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO genannten Tatbestandsmerkmalen Rechnung trägt. Dabei wird man allerdings davon ausgehen können, daß objektiv vorhandene schlechte wirtschaftliche Verhältnisse, die eine Unterhaltsleistung nicht ermöglichten, auch Grundlage für den - verständigen - Unterhaltsverzicht waren.
Fundstellen