Leitsatz (redaktionell)

Die Frage, ob die Klage gegen die Verhängung einer Sperrfrist nach den AVAVG §§ 78 ff nF lediglich den Anspruch auf eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen im Sinne des SGG § 144 Abs 1 Nr 2 betrifft, ist dem Großen Senat beim BSG vorgelegt.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; AVAVG § 78 Fassung: 1957-04-03, § 79 Fassung: 1957-04-03, § 80 Fassung: 1957-04-03, § 81 Fassung: 1957-04-03, § 83 Fassung: 1957-04-03

 

Tenor

Dem Großen Senat soll folgende Frage vorgelegt werden:

Betrifft die Klage gegen die Verhängung einer Sperrfrist nach den §§ 78 ff. des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nF lediglich den Anspruch auf eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes?

 

Gründe

Das Arbeitsamt (ArbA) hatte gegen den Kläger im Jahre 1958 eine Sperrfrist von 24 Tagen verhängt, weil er seine Arbeitsstelle ohne wichtigen oder ohne berechtigten Grund aufgegeben habe (§ 80 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG - nF). Das Sozialgericht (SG) wies den Kläger, der Aufhebung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides, Zahlung des Arbeitslosengeldes (Alg) für vier Wochen nebst 4% Zinsen sowie Erstattung der ausgelegten Krankenversicherungsbeiträge begehrt hatte, mit der Begründung ab, ihm sei eine Weiterarbeit bei seiner Arbeitgeberin nach Ablauf der Probezeit auch ohne Abschluß eines schriftlichen Arbeitsvertrages zuzumuten gewesen, insbesondere weil ihm das ortsübliche Arbeitsentgelt gezahlt worden sei. Das Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung als unzulässig: Der Anspruch des Klägers beziehe sich außer auf die Aufhebung der angefochtenen Bescheide auch auf die Gewährung von Leistungen für den Zeitraum der Sperrfrist. Auch in Sperrfristfällen sei der Anspruch des Klägers stets auf Gewährung von wiederkehrenden Leistungen gerichtet; die Berufung sei daher nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Mit seiner zugelassenen Revision wendet sich der Kläger gegen die Verwerfung der Berufung.

Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung zu dem bis zum 31.März 1957 geltenden Recht (AVAVG aF) entschieden, daß bei Klagen auf Aufhebung von Sperrfristen nach den §§ 90 und 93 AVAVG aF die Berufung nicht nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen, sondern nach § 143 SGG statthaft war. Denn nach seiner Auffassung handelt es sich bei der Verhängung einer Sperrfrist um ein "Mehr" als die bloße Verweigerung, Versagung oder Beschränkung einer Unterstützung nach Dauer, Beginn oder Höhe. Die Sperrfrist sei keine Zwangsmaßnahme zur Sicherung der Arbeitsvermittlung oder zur Verhinderung des Arbeitsplatzwechsels. Sie diene aber dazu, die Versichertengemeinschaft gegen unberechtigte Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen seitens solcher Personen zu schützen, die durch ihr Verhalten der Grundforderung des § 131 AVAVG aF, daß Arbeitslosigkeit in erster Linie durch Vermittlung von Arbeit verhütet und beendet wird, zuwiderhandelten. Die Entscheidung über die Verhängung einer Sperrfrist erwachse mithin aus der Prüfung der Arbeitswilligkeit als einer der Voraussetzungen für den Unterstützungsanspruch in seiner Substanz. Sie befasse sich weder im einzelnen mit wiederkehrenden Leistungen noch mit Beginn oder Höhe der Unterstützung. Fehlten für die Ablehnung angebotener Arbeit oder für die Aufgabe einer Arbeitsstelle wichtige oder berechtigte Gründe, dann sei in der Regel Arbeitsunwilligkeit, jedenfalls aber nicht unfreiwillige Arbeitslosigkeit anzunehmen. Dies führe zunächst zu einer Sperrung der Unterstützung auf begrenzte Zeit, könne indessen bei beharrlichem Mißverhalten den Ausschluß vom Unterstützungsbezug überhaupt bewirken. Durch die Kennzeichnung als arbeitsunwillig werde die persönliche Sphäre des Arbeitslosen berührt; er werde in seiner Arbeitnehmereigenschaft - mindestens nach seiner subjektiven Vorstellung - gleichsam "diskriminiert". Diese Seite der Sperrfristmaßnahme belaste ihn teilweise schwerer und nachhaltiger als die "Geldfrage" (vgl. BSG 3, 298; 5, 87; 7, 29, 33).

Der Senat hat daher die Sperrfrist als ein dem AVAVG eigentümliches "Institut" angesehen, das in der Sozialversicherung und in anderen Gebieten, wie der Kriegsopferversorgung, keine Parallele hat (BSG 7, 29).

Gegenüber dem Gesetzeswortlaut, für den diese Erwägungen maßgebend waren, sind jedoch seit dem 1. April 1957 durch die sogenannte Große Novelle zum AVAVG (AVAVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957, BGBl I 321 - AVAVG nF -) Änderungen eingetreten, die vielleicht die bisherige Rechtsprechung des Senats beeinflussen müssen.

Die Arbeitswilligkeit, die nach den genannten Entscheidungen bei der Verhängung einer Sperrfrist bislang jeweils zu prüfen war, ist in § 76 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG nF gesetzestechnisch zu einem Merkmal der Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung ("ernstlich bereit") und damit zu einer Voraussetzung des Anspruchs auf Alg (§ 74 Abs. 1 AVAVG nF) überhaupt geworden. Fehlt die ernstliche Arbeitsbereitschaft allgemein, so ist das Alg schlechthin zu versagen, nicht nur eine Sperrfrist nach § 78 bzw. § 80 AVAVG nF zu verhängen. Diese allgemeine Arbeitsbereitschaft wird daher bei der Verhängung einer Sperrfrist vorausgesetzt. Mangelt es jedoch an der besonderen Arbeitsbereitschaft für eine bestimmte Arbeit, indem entweder die bisherige Arbeitsstelle ohne wichtigen oder ohne berechtigten Grund aufgegeben oder ein unzumutbares Arbeitsangebot ohne berechtigten Grund abgelehnt wird (§§ 78, 80 AVAVG nF), so ist über die Verhängung einer Sperrfrist zu befinden. Damit allerdings wird - unabhängig von der Beurteilung des Arbeitswillens im Einzelfall - die Frage ausgelöst, ob der Verwaltungsakt dann noch den Anspruch auf Alg als solchen oder nur seine Auszahlung betrifft.

Weiter ist mit dem 1. April 1957 auch der Wortlaut des Gesetzes geändert worden. Während es bisher in den §§ 90 und 93 AVAVG aF hieß "Wer ..., erhält ... keine Arbeitslosenunterstützung", formulieren nunmehr die §§ 78 und 80 AVAVG nF "Das Arbeitslosengeld ist ... zu versagen (Sperrfrist)". Damit verwendet das AVAVG einen Begriff, wie er zB in den §§ 192, 557, 606, 1243, 1277, 1287 der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 64 des Angestelltenversicherungsgesetzes und § 87 des Reichsknappschaftsgesetzes enthalten ist. Dort führt ein an sich dem Versicherten zustehender Anspruch auf Krankengeld, Unfallrente oder Rente aus der Rentenversicherung wegen eines vom versicherungsmäßigen Standpunkt aus zu mißbilligenden Verhaltens nicht zur Auszahlung der Leistung, zB bei Herbeiführung des Versicherungsfalls auf eine dem Versicherungsgedanken widersprechende Weise (Raufhandel) oder bei Verweigerung einer zumutbaren Heilbehandlung (Operationsduldungspflicht).

Zu einigen der genannten Paragraphen liegen bereits Entscheidungen anderer Senate des Bundessozialgerichts (BSG) vor:

Der 3. Senat hat in einem Urteil vom 20. März 1959 (BSG 9, 232) eine Klage auf Auszahlung des nach § 192 RVO versagten Krankengeldes als eine reine Leistungsklage angesehen.

Der 5. Senat hat in einem nach § 216 SGG ergangenen, nicht veröffentlichten Beschluß vom 29. November 1958 (5 RKn 29/57) in einem Rechtsstreit, in welchem dem Kläger wegen Ablehnung einer zumutbaren Operation (§ 1303 RVO aF) die Rente auf ein Jahr versagt worden war, die Berufung als unzulässig verworfen, weil das Urteil Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betraf (§ 146 SGG aF). Der 5. Senat hat dabei die Frage, ob die Operation zumutbar sei, für insoweit unerheblich gehalten und es nur auf das eigentliche Klagebegehren, die Rentenzahlung, abgestellt.

Schließlich hat der 3. Senat in einem Urteil vom 20. Dezember 1956 (BSG 4, 206) bei einem Streit um Gewährung von Krankenhauspflegekosten für eine Zeit von weniger als 13 Wochen die Berufung nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG als ausgeschlossen angesehen in einem Fall, in dem die Klage allein die Anfechtung des ablehnenden Bescheides zum Gegenstand hatte. Daraus ist zu entnehmen, daß nach Ansicht dieses Senats nur der Leistungsanspruch im Streit war.

Die Verhängung einer Sperrfrist erfolgt aus ähnlichen Anlässen wie die oben behandelte Versagung von Leistungen in der Kranken- und Rentenversicherung, nämlich wegen eines zu mißbilligenden Verhaltens des Versicherten (Herbeiführung oder Aufrechterhaltung des Versicherungsfalles, Verletzung der Schadenabwendungs- und -minderungspflicht). Für den Senat entsteht deshalb die Frage, ob angesichts der Verwendung des gleichen Begriffs "versagen" in den genannten Vorschriften des AVAVG und der RVO usw eine unterschiedliche Behandlung dieser Fälle in bezug auf die Zulässigkeit der Berufung noch angebracht ist. Der Wortlaut des Gesetzes ist jetzt im AVAVG - bis auf den Klammerzusatz "Sperrfrist" - der gleiche, so daß möglicherweise eine Anpassung der beiden Rechtsgebiete beabsichtigt gewesen ist; aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich allerdings nichts darüber. Auf der anderen Seite hat aber die wiederholte Verhängung einer Sperrfrist nach § 83 Satz 1 AVAVG Folgen für den Arbeitslosen, indem ihm nach zweimaliger Verhängung einer Sperrfrist im dritten Fall der noch zustehende Anspruch auf Alg entzogen werden kann (nicht muß, so daß eine Berücksichtigung der einzelnen Umstände der Sperrfristverhängung nicht ausgeschlossen ist). Dagegen war nach dem bisherigen Recht (§ 93c AVAVG aF) die Möglichkeit gegeben, einen Arbeitslosen vom Bezug der Arbeitslosenunterstützung (Alu) auszuschließen, wenn er Arbeitsmöglichkeiten beharrlich nicht nutzte oder die Bemühungen, ihm Arbeit zu verschaffen, beharrlich vereitelt hatte. Diese Entziehung war nicht unmittelbar an die Verhängung einer Sperrfrist geknüpft; die Verhängung einer Sperrfrist konnte jedoch Anlaß zu der Prüfung sein, ob die Voraussetzungen des § 93c AVAVG aF vorlagen. Insoweit liegt eine Änderung gegenüber dem bisherigen Recht vor. Die Verhängung einer Sperrfrist hat daher auch für künftige Fälle Bedeutung und löst eigene Rechtsfolgen aus.

Soweit ersichtlich, ist eine ähnliche Einrichtung in der Sozialversicherung und der Kriegsopferversorgung unbekannt. Gewisse Ähnlichkeiten bestehen nur mit den Rückfallsdelikten des Strafgesetzbuches (zB §§ 244, 261, 264 StGB). Hier ist der Instanzenzug bei der ersten Straftat dieser Art ohne Rücksicht auf ein etwaiges späteres Verfahren wegen des Rückfalldeliktes geregelt (vgl. §§ 24, 25 des Gerichtsverfassungsgesetzes).

Der Senat hat nun darüber zu befinden, ob die oben hervorgehobenen Unterschiede zwischen einer Sperrfrist nach AVAVG und den Versagungstatbeständen der RVO usw eine verschiedene Behandlung bezüglich der Berufungsausschließungsgründe rechtfertigen oder ob alle wegen eines versicherungsfeindlichen Verhaltens des Versicherten ausgesprochenen Versagungen auch insoweit gleich behandelt werden müssen. Dabei sei darauf hingewiesen, daß gerade bei der Operationsduldungspflicht von dem Versicherten ein weittragender Entschluß verlangt wird, ob er sich dem vorgeschlagenen ärztlichen Eingriff, für dessen Erfolg bei unerwarteten Komplikationen niemand garantieren kann, unterwerfen oder für eine Zeit bis zu einem Jahr auf die Rente verzichten soll. Im Falle einer Sperrfrist wird dagegen das Alg höchstens auf acht Wochen "versagt" (§§ 78 bis 81 AVAVG), abgesehen vom den Folgen des § 83 AVAVG.

Des weiteren könnte von Bedeutung sein, ob bei der Anwendung der Berufungsausschließungsgründe eine unterschiedliche Behandlung angebracht ist, je nachdem ob ein Anspruch wegen Fehlens der Voraussetzungen verneint wird oder ein an sich bestehender Anspruch wegen Vorliegens der Versagungstatbestände nicht zur Auszahlung führt. Das frühere Reichsversicherungsamt hat zu den Rekursausschließungsgründen des § 1700 RVO aF (vgl. EuM 14, 344; 15, 377) ausgeführt, bei Versagung der Rente seien sie mit Rücksicht auf den Wortlaut des Gesetzes nicht anwendbar. Denn bei dem "Versagen einer Rente" handele es sich nicht um Rententeile, die zu "gewähren" seien. Diese Rechtsprechung erscheint jedoch durch das SGG überholt (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zum SGG, § 145 Anm. 3 c S. III 25). Auch das BSG ist bereits davon abgewichen (vgl. BSG 3, 279). Im Rahmen der RVO wird ein Unterschied zwischen den Fällen, in denen eine Leistung aus der Sozialversicherung mangels Vorliegens von Voraussetzungen nicht gewährt wird, und denjenigen Fällen, in denen wegen eines Versagungstatbestandes die Auszahlung unterbleibt, nicht mehr gemacht.

Der Senat wäre nicht gehindert, selbst zu entscheiden, weil die genannten Urteile und Beschlüsse der anderen Senate des BSG zu anderen gesetzlichen Bestimmungen ergangen sind. Ein Fall für die Anrufung des Großen Senats nach § 42 SGG ist daher nicht gegeben. Der Senat hat jedoch Bedenken, ob seine alte Rechtsprechung bezüglich der Berufungsfähigkeit von Sperrfristurteilen aufrecht erhalten werden kann, nachdem einmal die Arbeitswilligkeit bei der Verhängung einer Sperrfrist nicht mehr generell zu prüfen ist und zum anderen im Wortlaut des AVAVG wie in ähnlichen Vorschriften anderer Sparten der Sozialversicherung ebenfalls der Begriff "versagen" verwendet ist. Andererseits dürfen jedoch die Folgen der Verhängung einer Sperrfrist für spätere Fälle wegen § 83 AVAVG nicht außer acht gelassen werden, obwohl es sich hier um eine Kannvorschrift handelt.

Der Senat hat daher beschlossen, gemäß § 43 SGG die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen.

Die Voraussetzungen hierzu sind nach seiner Auffassung erfüllt. Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt davon ab, ob die Berufung bei Sperrfristurteilen zulässig ist. Es handelt sich dabei um eine grundsätzliche Frage. Die Entscheidung des Großen Senats ist einmal zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, da in der Literatur und von einigen Landessozialgerichten abweichende Auffassungen vertreten worden sind. Des weiteren dient die Entscheidung des Großen Senats der Fortbildung des Rechts. Es ist von weittragender Bedeutung, ob auch außerhalb des eigentlichen Streitgegenstandes liegende Umstände (Kennzeichnung als arbeitsunwillig, drohende Entziehung des Anspruchs auf Alg nach mehreren Sperrfristen) bei der Entscheidung über die erstmalige oder zweite Verhängung einer Sperrfrist berücksichtigt werden und damit zur Zulässigkeit der Berufung führen können.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325522

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