Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlagebeschluß an den Großen Senat
Orientierungssatz
Ist ein angefochtener Verwaltungsakt wegen unterlassener Anhörung jederzeit von Amts wegen aufzuheben?
Normenkette
SGB 10 § 24 Abs 1, § 42
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger vor der Erteilung des Bescheides vom 7. Juni 1985, mit dem sie die dem Kläger gewährte vorläufige Unfallrente entzogen und die Gewährung einer Dauerrente abgelehnt hat, in rechter Form angehört hat.
Der Kläger hatte sich 1983 durch einen Arbeitsunfall eine Unterarmfraktur links zugezogen, deren Folgen die Beklagte zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vom Hundert (vH) entschädigt hatte. Nach Durchführung einer Nachuntersuchung hatte die Beklagte durch Bescheid vom 11. September 1984 die vorläufige Rente ab 1. November 1984 auf 10 vH der Vollrente festgestellt.
Diesen Bescheid hat der Kläger mit dem bei der Beklagten am 19. Oktober 1984 eingegangenen, von ihm als Widerspruch bezeichneten, später von der Beklagten und dem Sozialgericht als Klage behandelten Schreiben vom 15. Oktober 1984 angefochten. Bereits am 25. September 1984 hat die Beklagte die deutsch-türkische Verbindungsstelle um Einholung eines zweiten Rentengutachtens ersucht. Da dieses Gutachten bis Mitte März 1985 nicht eingegangen war, hat sie die nach Lage der Akten erstattete gutachtliche Äußerung des Arztes Dr. G vom 18. März 1985 eingeholt und dem Kläger mit Schreiben vom 26. April 1985 unter Wiedergabe des Ergebnisses dieses Gutachtens mitgeteilt, sie beabsichtige, die vorläufige Rente zu entziehen und die Gewährung einer Dauerrente abzulehnen. Das Schreiben enthält ferner den Hinweis, daß der Bescheid gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als mitangefochten gelten werde; der Kläger erhalte Gelegenheit, sich innerhalb von 2 Wochen nach Erhalt dieses - dem Kläger am 17. Mai 1985 durch eingeschriebenen Brief zugestellten - Schreibens zu äußern. Er hat sich nicht geäußert.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 7. Juni 1985 die vorläufige Rente ab Juli 1985 entzogen und die Gewährung einer Dauerrente abgelehnt.
Der Kläger hat sowohl gegen den Bescheid vom 11. September 1984 als auch gegen den Bescheid vom 7. Juni 1985, der vom SG gemäß § 96 SGG in das Verfahren einbezogen worden ist, nur Einwendungen gegen die Richtigkeit der Beurteilung des Unfallfolgezustandes, der Bewertung der MdE und gegen die Entziehung der Rente erhoben. Auf Mängel des Anhörungsverfahrens, insbesondere soweit es sich um seine Anhörung vor Erlaß des Bescheides vom 7. Juni 1985 handelt, hat er sich zur Klagebegründung nicht berufen.
Das SG hat die Klage gegen den Bescheid vom 11. September 1984 abgewiesen und den Bescheid vom 7. Juni 1985 mit der Begründung aufgehoben, die Beklagte habe gegen § 24 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X) verstoßen, weil die dem Kläger gewährte Erklärungsfrist von 2 Wochen im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse zu kurz gewesen sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 10. Februar 1987 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die dem Kläger vor der Erteilung des Bescheides vom 7. Juni 1985 gewährte Erklärungsfrist sei unangemessen kurz gewesen. Es müsse bereits vermieden werden, daß der Versicherte es allein schon wegen der Kürze der Erklärungsfrist unterläßt, die erforderlichen Erkundigungen für die Abgabe einer Stellungnahme einzuholen. Der Versicherungsträger könne eine zu kurz bemessene Anhörungsfrist auch nicht dadurch verlängern, daß er die angekündigte Entscheidung stillschweigend hinausschiebt. Im Falle des Klägers komme hinzu, daß er sich in der Türkei aufgehalten habe, medizinischer Laie sei und Gelegenheit habe erhalten müssen, sich die Korrespondenz übersetzen zu lassen. Wegen dieser besonderen Umstände habe die Beklagte dem Kläger eine Anhörungs-Mindestfrist von einem Monat einräumen müssen.
Zur Begründung ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision tritt die Beklagte dieser rechtlichen Beurteilung entgegen. Sie verweist insbesondere auf die Rechtsprechung des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), wonach der Versicherte seinerseits durch aktive Beteiligung zur Verwirklichung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör beizutragen habe. Dies habe der Kläger ohne Angabe von Gründen unterlassen. Zumindest habe er aber die vom LSG angenommene Verletzung der Anhörungspflicht geltend machen müssen. Dieses Rügerecht könne er auch jetzt nicht mehr ausüben.
Die Beklagte beantragt
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein- Westfalen vom 10. Februar 1987 in vollem Umfange und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25. Juni 1986 teilweise aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 7. Juni 1985 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der erkennende Senat beabsichtigt, das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Da nur die Beklagte das erstinstanzliche Urteil angefochten hat, ist dieses rechtskräftig, soweit das SG die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. September 1984 abgewiesen hat. Gegenstand des Berufungsverfahrens war mithin nur die Aufhebung des Bescheides vom 7. Juni 1985, mit dem die Beklagte dem Kläger die bisher gewährte vorläufige Rente ab Juli 1985 entzogen und zugleich die Gewährung einer Dauerrente abgelehnt hat. Das LSG hat die Berufung insoweit zutreffend als statthaft angesehen, weil das Begehren des Klägers keinen Anspruch iS des § 145 SGG zum Inhalt hat.
Der Senat ist jedoch der Ansicht, daß das SG und das LSG den Bescheid vom 7. Juni 1985 infolge einer Verkennung des Normgehalts der §§ 24, 42 SGB X unzutreffend aufgehoben haben.
Mit den Vorinstanzen ist zwar davon auszugehen, daß die Beklagte mit dem Bescheid vom 7. Juni 1985 in Rechte des Klägers eingegriffen hat, weil die Entziehung der vorläufigen Rente und die Ablehnung der Dauerrente für unbestimmte Zeit zum Verlust des Rentenanspruches führt (BSG SozR 1200 § 34 Nr 12; SozR 1300 § 24 Nr 2). Das LSG ist im Hinblick auf die von ihm festgestellten Tatsachen ferner zutreffend davon ausgegangen, daß die Beklagte auch nicht gemäß § 24 Abs 2 SGB X von der Anhörung absehen durfte. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der Bescheid vom 7. Juni 1985 gemäß § 96 SGG in das bereits laufende gerichtliche Verfahren einbezogen worden ist. Denn diese Klageerstreckung ändert nichts an der Notwendigkeit und dem Umfang der Anhörungspflichten des Leistungsträgers vor dem Erlaß eines nachgehenden Bescheides mit neuem Regelungsinhalt.
Das LSG hat jedoch nicht festgestellt, daß der Kläger im Verwaltungsverfahren oder im erstinstanzlichen oder zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren die Aufhebung des Bescheides wegen der Verletzung des Anhörungsrechts durch die Beklagte im Verwaltungsverfahren beansprucht hat. Hierzu war er nach der vom 4. Senat des BSG in dem Urteil vom 1. Dezember 1982 - 4 RJ 45/82 - (nicht veröffentlicht, Leitsatz in Versorgungsbeamter 1983, 95; zustimmende Besprechung von Tannen in DRV 1983, 326) vertretenen Ansicht auch nicht verpflichtet. In dem diesem Urteil zugrunde liegenden Fall hatte der Versicherungsträger der vom Kläger im Verwaltungsverfahren geäußerten Bitte, ihm die Gutachten, die der beabsichtigten Rentenentziehung zugrunde gelegt werden sollten, zur Kenntnis zu geben, nicht entsprochen. Im ersten Rechtszug hatte der Kläger die Klage nicht auf den vorerwähnten Anhörungsmangel, sondern nur auf die materiell-rechtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides gestützt. Das SG hatte den angefochtenen Bescheid allein mit der Begründung aufgehoben, der Kläger sei nicht "wirksam" angehört worden. Der 4. Senat des BSG hat entschieden, dem Kläger obliege keine "Rechtspflicht" zur Rüge, weil die von ihm im Klageverfahren zu beachtenden Erfordernisse in § 92 SGG abschließend aufgezählt seien; Verfahrensrügen seien weder Tatsachen noch Beweismittel im Sinne dieser Vorschrift. Hingegen hat der 11. Senat des BSG in dem Urteil vom 25. April 1984 - 11 RA 24/84 - (SozR 1300 § 45 Nr 12 = SGb 1985, 246 mit zustimmender Anmerkung von Kopp) die Frage ausdrücklich offen gelassen, ob ein angefochtener Verwaltungsakt wegen unterbliebener Anhörung aufgehoben werden darf, wenn der Betroffene auf die Anhörung zwar nicht verzichtet, jedoch ihre Unterlassung nicht gerügt hat.
Der erkennende Senat möchte der vom 4. Senat des BSG getroffenen Abgrenzung nicht folgen. Er ist der Auffassung, daß der Betroffene die Aufhebung des belastenden Verwaltungsaktes wegen einer im Verwaltungsverfahren erfolgten Verletzung der Anhörungspflicht durch den Versicherungsträger beanspruchen muß, wenn dieser Verfahrensmangel berücksichtigt werden soll, und daß die Unterlassung der rechtzeitigen Erhebung der Rüge in gleicher Weise wie der Verzicht zum Verlust des Rügerechts führt.
Bereits für die Vorschrift des § 34 SGB I war allgemein anerkannt, daß die Verletzung der dem Leistungsträger obliegenden Pflicht zur Anhörung vor der Entscheidung im Verwaltungsverfahren nicht zur Nichtigkeit des später ergehenden Verwaltungsakts führte (BSG, Urteil vom 28. Juli 1977 - 2 RU 31/77 -, BSGE 44, 207, 210 = SozR 1200 § 34 Nr 2 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Jedoch ist zu § 34 SGB I - soweit ersichtlich - nicht ausdrücklich entschieden worden, ob der Verfahrensmangel der unterlassenen Anhörung von Amts wegen und auch noch im Berufungs- oder Revisionsverfahren zu beachten war. Einige Entscheidungen des BSG lassen allerdings nach dem Verfahrensverlauf erkennen, daß das BSG denknotwendig die durch die Vorinstanzen - in einzelnen Fällen auch erst vom Berufungsgericht - von Amts wegen erfolgte Berücksichtigung eines von dem Kläger nicht geltend gemachten Anhörungsmangels gebilligt hat (vgl insbesondere die Urteile des BSG vom 30. Oktober 1978 - 2 RU 39/78 -, SozR 1200 § 34 Nr 4; vom 1. März 1979 - 6 RKa 17/77 -, SozR 1200 § 34 Nr 8; vom 30. April 1979 - 8a RU 64/78 -, insoweit nicht veröffentlicht; vom 19. Dezember 1979 - 8a RU 42/79 - SozR 1200 § 34 Nr 10; vom 27. Januar 1981 - 5b/5 RJ 56/80 -, SozR 1200 § 34 Nr 14). Der Senat hält sich an diese Rechtsprechung schon deshalb nicht gebunden, weil § 34 SGB I mit Wirkung vom 1. Januar 1981 gestrichen worden ist (Art II § 28 Nr 1, § 40 des Gesetzes vom 18. August 1980 -BGBl I 1469-) und mit der Neuregelung des gesamten Verwaltungsverfahrens im 10. Buch des Sozialgesetzbuches, insbesondere mit der Vorschrift des § 24 SGB X nicht nur eine anderweitige Plazierung des Rechtssatzes der Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren, sondern - wie insbesondere aus §§ 40 ff SGB X folgt - eine eigenständige Neuregelung gerade der für die Rechtserheblichkeit der Verfahrensmängel des Verwaltungsverfahrens maßgebenden Verfahrensgrundsätze erfolgt ist.
Nach der Systematik der §§ 40 ff SGB X führt die Nichtanhörung weder zu einem "schwerwiegenden" Fehler des Verwaltungsakts noch dazu, daß der Fehler bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände auch offenkundig ist (§ 40 Abs 1 SGB X). Die Nichtanhörung ist auch keiner der in § 40 Abs 2 SGB X abschließend genannten besonderen Nichtigkeitsgründe. Deshalb ist auch nach geltendem Recht ein Verwaltungsakt wegen des Verfahrensmangels der Verletzung der Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren nicht nichtig, sondern nur anfechtbar. Er leidet an keinem sogenannten unheilbaren Mangel, auf dessen Rüge der Betroffene nicht verzichten kann. Mithin muß ein anderer als die in § 40 SGB X genannten und nicht nach § 41 SGB X geheilten Verfahrensmängel geltend gemacht werden. Das gilt auch für den Anhörungsmangel; er ist allein schon deshalb nicht von Amts wegen zu berücksichtigen, sondern geltend zu machen. Auch die Vorschrift des § 42 Satz 2 SGB X steht dieser Abgrenzung nicht entgegen. § 42 Satz 1 SGB X bestimmt - insoweit übereinstimmend mit § 46 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - als Grundsatz, daß Mängel des Verwaltungsverfahrens nur im Rahmen der Anfechtung in der Hauptsache geltend gemacht werden können. Aus besonderen Gründen (s dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Auflage, S 232c III) läßt zwar die Vorschrift des § 42 Satz 2 SGB X isoliert für den Bereich des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens darüber hinaus die Anfechtung eines Verwaltungsakts allein wegen des Anhörungsmangels zu. Diese Ausnahmeregelung hebt aber den in § 42 Satz 1 SGB X normierten Grundsatz nicht auf, daß die Aufhebung des an einem Anhörungsmangel leidenden Verwaltungsaktes "beansprucht" werden muß, mithin der Verfahrensmangel der Nichtanhörung geltend zu machen ist. Das folgt ferner aus der Natur des Anhörungsrechts, das, worauf der 5. Senat des BSG (Urteil vom 11. März 1982 - 5b/5 RJ 150/80 - BSGE 53, 167, 169 = SozR § 34 Nr 17) bereits hingewiesen hat, dem Betroffenen ausschließlich in seinem Interesse eingeräumt worden ist. Der Berechtigte kann durchaus ein Interesse daran haben, daß der unter Verletzung des Anhörungsrechts ergangene Verwaltungsakt nicht wegen dieses Formfehlers aufgehoben wird (BSG aa0). Hieraus ist mit Recht auch die Zulässigkeit des ausdrücklich oder auch stillschweigend (BSG Urteil vom 31. Oktober 1978 - 2 RU 39/78 -, SozR 1200 § 34 Nr 4) erklärten Verzichts auf die Geltendmachung der Rüge der unterlassenen Anhörung abgeleitet worden (vgl ebenso auch der 4. Senat des BSG aa0, der allerdings für den Regelfall eine ausdrückliche Erklärung des Verzichts gefordert hat).
Wie der Hinweis auf das Urteil des 5b Senats vom 11. März 1982 (aa0) ergibt, liegt derselbe rechtliche Ansatz auch dem Urteil des 12. Senats des BSG vom 22. Juni 1983 - 12 RK 73/82 - (BSGE 55, 160, 163 f = SozR 1300 § 12 Nr 1; ablehnend besprochen von Pickel, SGb 1985, 532, 535 zu III 5c) bei der Abgrenzung des Normgehalts des § 12 Abs 2 Satz 2 SGB X zugrunde. Der erkennende Senat ist deshalb im Hinblick auf die besondere Schutzfunktion des Anhörungsrechts der Ansicht, daß dessen Verletzung nicht von Amts wegen (mit der sich aus § 42 Satz 2 SGB X zwingend ergebenden Folge der Aufhebung des Bescheides allein zum Zwecke der Nachholung des Anhörungsverfahrens) zu berücksichtigen ist, sondern daß der Verfahrensverstoß vom Betroffenen geltend gemacht werden muß, wenn er die Rechtsfolge des § 42 Satz 2 SGB X erreichen will.
Der erkennende Senat ist darüber hinaus der Auffassung, daß aus diesem Grundsatz als notwendige verfahrensrechtliche Rechtsfolge der Nichtinanspruchnahme dieses besonderen Verfahrens-Schutzrechtes der Verlust des Aufhebungsanspruches folgt. Kopp (SGb 1985, 249) weist zu Recht darauf hin, daß den am Verwaltungsverfahren Beteiligten eine Mitwirkungspflicht trifft, die das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 30. Januar 1968 - VI C 35.65 -, DVBl 1968, 430, 431) als einen - für den Zivilprozeß in § 295 ZPO verkörperten - allgemeinen Verfahrensgrundsatz angesehen hat, der auch für das Verwaltungsverfahren Geltung beanspruchen könne. Dementsprechend haben der erklärte Verzicht auf die Geltendmachung des Rügerechts und die bloße Unterlassung der Rüge sowohl ihre gemeinsame Wurzel in der prozessualen Mitwirkungspflicht des Beteiligten im Rahmen des Prozeßrechtsverhältnisses als auch die gleiche Rechtsfolge des Verlustes des Rügerechts bei dessen Nichtausübung.
Diesem Ergebnis steht auch die Vorschrift des § 92 SGG über den Inhalt der Klageschrift nicht entgegen. Die dort (als Soll-Vorschrift) geregelte Pflicht zur Angabe der der Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel betrifft, wie auch der 4. Senat hervorgehoben hat, nur die Darlegung der den materiell-rechtlichen Klageanspruch betreffenden Tatsachen und Beweismittel. Sie hat ihre Entsprechung im 10. Buch des Sozialgesetzbuches nicht in § 24 SGB X, sondern in § 21 Abs 2 SGB X. Dementsprechend gehören die Fragen der Notwendigkeit der Geltendmachung und des Verlustes des nicht geltend gemachten Rügerechts nicht zum Regelungsgehalt des § 92 SGG. Entscheidungserheblich ist vielmehr allein, ob der für das gerichtliche Verfahren anerkannte Grundsatz, daß das Rügerecht nach § 202 SGG iVm § 295 ZPO außer durch Verzicht auch durch schuldhafte Unterlassung seiner Geltendmachung verloren gehen kann (BSGE 1, 126, 131; 4, 60, 64; Bley in RVO-Gesamtkommentar, Band 6, Anm 6a zu § 62 SGG), auch für den Verfahrensmangel der Nichtanhörung im Verwaltungsverfahren gilt. Der erkennende Senat will in Übereinstimmung mit Kopp (SGb 1985, 249; Verwaltungsverfahrensgesetz, 4. Auflage, Rdn 5 zu § 45; aA Brackmann aa0, S 231 r II; Pickel, Kommentar zum Sozialgesetzbuch, Anm 5b zu § 41) den diesen Vorschriften zugrundeliegenden allgemeinen Rechtsgedanken auch für die Geltendmachung des Anhörungsmangels anwenden bejahen. Brackmann (aa0) und Pickel (aa0) stützen ihre Ansicht auf das - zu § 34 SGB I ergangene und daher aus den zuvor dargelegten Gründen den erkennenden Senat für eine Entscheidung gemäß §§ 24, 42 SGB X nicht bindende - Urteil des 8. Senats des BSG vom 30. April 1979 - 8a RU 64/78 - (insoweit nicht veröffentlicht), wonach ein in der Nichtanhörung des Betroffenen liegender Mangel des Verwaltungsverfahrens nicht dadurch geheilt wird, daß der Kläger im Klageverfahren die unterlassene Anhörung nicht gerügt hat. Der Senat folgt dieser Auffassung, soweit sie meint, daß ein solcher Verfahrensmangel durch die Unterlassung der Geltendmachung nicht ohne weiteres geheilt wird, weil darin noch nicht zwingend ein Verzicht auf die Geltendmachung liegt. Denn anders als bei der Nachholung der Anhörung, durch die - soweit sie statthaft ist (vgl dazu § 41 Abs 3 Nr 3, Abs 2 SGB X, § 42 Satz 2 SGB X sowie BSG, SozR 1200 § 24 Nr 7 mwN) - der Verfahrensmangel behoben wird, bleibt der Anhörungsmangel im Falle des Verlustes des Rügerechts, insbesondere im Falle des Verzichts auf die Geltendmachung des Anhörungsmangels, bestehen; nur seine verfahrensrechtliche Relevanz geht jedenfalls dann verloren, wenn der Betroffene, obwohl er es könnte, die Aufhebung des Verwaltungsaktes nicht wegen dieses Mangels beansprucht (Kopp, SGb 1985, 249: "treuwidrig"). Diese Rechtsfolge ergibt sich grundsätzlich für alle Anhörungsmängel in allen Verfahrensarten. Schon von daher ist es nicht gerechtfertigt, den Anhörungsmangel im Verwaltungsverfahren und den Mangel des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren unterschiedlich zu gewichten. Insbesondere fehlt ein verständiger Grund dafür, den Anhörungsmangel im Verwaltungsverfahren von Amts wegen, den Mangel des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren hingegen nur auf Rüge zu beachten, sowie zwar den Verzicht auf die Geltendmachung des Anhörungsmangels auch noch im gerichtlichen Verfahren zuzulassen, jedoch die Notwendigkeit der Geltendmachung sowie den Verlust des Rügerechts auf die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren zu begrenzen. Denn die Zielsetzung der §§ 24, 42 SGB X geht nicht dahin, die allgemeinen Verfahrensgrundsätze, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit und des rechtlichen Gehörs, für das Verwaltungsverfahren nach dem 10. Buch des Sozialgesetzbuches stärker auszugestalten als für das gerichtliche Verfahren.
Demgemäß ist in dem anhängigen Verfahren entscheidungserheblich, ob die Verletzung der Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren vom Gericht nur zu berücksichtigen ist, wenn der Kläger sie rügt, und ob er - wenn das nicht der Fall ist - das Rügerecht inzwischen verloren hat. Der erkennende Senat ist dementsprechend auch zu einer Entscheidung erst in der Lage, wenn er davon ausgehen kann, daß die Rüge erhoben werden muß und daß das Rügerecht verloren gehen kann.
Fundstellen