Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopfer. Schußverletzung. Verwirklichung sozialer Rechte
Leitsatz (amtlich)
Der strafrechtliche Grundsatz "im Zweifel zugunsten des Angeklagten" rechtfertigt keine Beweiserleichterung zugunsten des Geschädigten im Entschädigungsverfahren nach dem Gewaltopferentschädigungsgesetz, wenn unklar geblieben ist, ob er das Opfer einer Gewalttat oder einer Fahrlässigkeitstat geworden ist; Gewaltopferentschädigung ist nicht zum Ausgleich sämtlicher Unfallschäden mit Fremdverschulden gedacht.
Orientierungssatz
1. Eine gesundheitliche Schädigung durch eine Schußverletzung ist nicht regelmäßig kraft eines ersten Anscheines auf eine vorsätzliche Gewalttat iS des § 1 OEG zurückzuführen; sie kann auch fahrlässig verursacht worden sein.
2. Wenn nach § 2 Abs 2 Halbs 2 iVm Halbs 1 SGB 1 bei der Auslegung von sozialrechtlichen Vorschriften und bei der Ermessensausübung sicherzustellen ist, daß die sozialen Rechte, auch auf soziale Entschädigung (§ 2 Abs 1 S 1 iVm § 5 SGB 1), möglichst weitgehend verwirklicht werden, so hat nicht etwa kraft dieser Bestimmung ein Gericht bei Zweifeln alle tatsächlichen Anspruchsvoraussetzungen als erwiesen anzusehen. Jene Anweisung bezieht sich auf die Verwirklichung von Rechten. Sie steht im Zusammenhang mit der Regel des § 2 Abs 1 S 2 SGB 1, wonach aus den sozialen Rechten "Ansprüche nur insoweit geltend gemacht oder hergeleitet werden können, als deren Voraussetzungen und Inhalt durch die Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches im einzelnen bestimmt sind", also auch durch das OEG.
Normenkette
OEG § 1 Abs 1 S 1; SGG § 128 Abs 1 S 1; SGB 1 § 2 Abs 2
Verfahrensgang
Gründe
Als der Kläger kurz nach Mitternacht in der Silvester-Neujahrsnacht 1983/84 vor dem Haus von Verwandten stand, um Feuerwerkskörper zu zünden und das allgemeine Feuerwerk zu beobachten, wurde er durch einen Pistolensteckschuß in den Bauch schwer verletzt. Den Schuß hatte ein 70jähriger Nachbar aus dem Vorgarten seines Hauses, 30 m entfernt, neben zwei oder drei weiteren Schüssen aus seiner Pistole abgefeuert. Der 1985 verstorbene Täter wurde wegen unerlaubten Waffenbesitzes und wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft; die Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung wegen versuchten Totschlages anstrebte, wurde als unbegründet verworfen, weil nur der Vorwurf der Fahrlässigkeit gerechtfertigt sei. Der Antrag des Klägers auf Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ist erfolglos geblieben (Bescheid vom 28. November 1985, Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 18. Juni 1986 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 6. Mai 1987). Das LSG hat einen "vorsätzlichen" Angriff des Schützen verneint. Nach den gesamten Umständen sei ein auf den Kläger gezielter Schuß oder ein solcher, bei dem der Täter - bedingt vorsätzlich - eine Verletzung des Klägers für möglich gehalten habe, nicht erwiesen. Nicht zu widerlegen sei die Behauptung des Schützen, er habe in die Luft geschossen, um seine beiden aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Pistolen unter Ausnutzung der Knallerei - wie schon früher - durch Schießen auf einen Baumstamm zu reinigen. Er habe die Tat nicht zu vertuschen versucht, bis ihm am 2. Januar durch die Zeitung die Verletzung des Klägers bekannt geworden sei.
Der Kläger stützt seine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision auf eine Abweichung von den Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 19, 52 und in 56, 234 sowie auf eine grundsätzliche Bedeutung der Fragen, ob in Fällen dieser Art einer "heimtückischen" Schußverletzung erleichterte Beweisanforderungen für den Nachweis des Vorsatzes gelten, insbesondere, ob das Ergebnis des Strafverfahrens und ob die Angaben des Täters nicht maßgebend sind, und ob schließlich ein Härteausgleich zu gewähren ist.
Die Revision ist nicht zuzulassen; denn der Kläger hat mit seiner Beschwerde keine Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erfolgreich geltend gemacht.
Es ist schon fraglich, ob der Kläger in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form für Abweichungen von der Rechtsprechung des BSG (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) Rechtsfragen, die das LSG anders als das Revisionsgericht beantwortet haben müßte, klar bezeichnet und ob er schlüssig dargetan hat, inwiefern beide Gerichte darüber unterschiedlich entschieden haben und darauf jeweils ihre Urteile beruhen sollen (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 5, 14, 21, 29, 39, 54).
Jedenfalls weicht das in dieser Sache ergangene Berufungsurteil mit seinen tragenden Begründungssätzen nicht von den Antworten auf dieselben Rechtsfragen ab, die den zitierten Urteilen des BSG zugrundelagen.
Das Urteil in BSGE 19, 52 ist entgegen der Behauptung des Klägers nicht zur Kriegsopferversorgung ergangen, der die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten nach dem derart bezeichneten Gesetz (OEG vom 11. Mai 1976 -BGBl I 1181-/7. Januar 1985 -BGBl I 2-) wegen der gemeinsamen Zugehörigkeit zur sozialen Entschädigung (§§ 5 und 21, Art II § 1 Nr 11 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil -SGB I- vom 11. Dezember 1975 -BGBl I 3015-) verwandt ist (§ 1 Abs 1 Satz 1, § 6 OEG; BSGE 49, 104, 105 = SozR 3800 § 2 Nr 1; seither st Rspr des BSG). Vielmehr betraf die Entscheidung einen Fall aus der gesetzlichen Unfallversicherung, einem andersartigen Sicherungssystem (§§ 4, 22, Art II § 1 Nr 4 SGB I), das einen weiteren Risikobereich umfaßt, aber einen begrenzteren Personenkreis schützt. Eine Entschädigung der Opfer von Gewalttaten nach dem Unfallversicherungsrecht hat der Gesetzgeber gerade durch die Ablehnung eines entsprechenden Gesetzesentwurfes der CDU/CSU-Fraktion ausgeschlossen (BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4).
Abgesehen davon hat das BSG in jenem Urteil bei der Zurückverweisung dem LSG nicht etwa aufgegeben, wegen eines allgemeinen Beweisnotstandes bei einem Seeunfall eine Beweiserleichterungsregel zu beachten, die grundsätzlich im Sozialrecht bei Beweisschwierigkeiten das Recht zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) einschränken würde. Das Revisionsgericht hat vielmehr lediglich festgelegt, das Berufungsgericht sei nicht gehindert, "dem durch die Eigentümlichkeiten der Seefahrt bedingten 'Beweisnotstand' der Klägerin dadurch Rechnung zu tragen, daß es an den Beweis der anspruchsbegründenden Tatsache des behaupteten Unfalltodes weniger hohe Anforderungen stellt, als dies, wenn die Leiche einer medizinischen Begutachtung hätte unterzogen werden können, erforderlich gewesen wäre" (BSGE 19, 52, 56). Im gegenwärtigen Fall hat das LSG bei der vom Kläger beanstandeten Beweiswürdigung nicht einmal andeutend zu erkennen gegeben, daß es im Gegensatz zu jenem Hinweis des BSG unter den besonderen Umständen dieses Falles eine Beweiserleichterung nicht gelten lassen dürfe und könne. Das Ergebnis seiner Beweiswürdigung, dem der Kläger ein anderes mögliches entgegenstellt, kann er im übrigen nicht mit der Beschwerde angreifen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG), was er auch selbst betont.
Das LSG hat von einer Beweiserleichterung, die den Vorstellungen des Klägers entspräche, auch nicht unter Verletzung eines in BSGE 56, 234 vertretenen Rechtsgrundsatzes abgesehen. Der Senat hat an der Stelle der Begründung, auf die der Kläger hinweist, lediglich zu der nur schwer zu treffenden Feststellung von Vorsatz und Zielrichtung erwogen, man könne "zugunsten des Opfers bemüht" sein, "dem Sinn des OEG trotzdem Rechnung zu tragen" (BSGE 56, 237). Aber auch unter dieser Voraussetzung hat der Senat für erforderlich gehalten, es müßten "doch wenigstens die äußeren Tatumstände überzeugende Hinweise auf den Willen geben, unmittelbar gegen eine Person vorzugehen". Gegen diesen Rechtsgrundsatz hat das LSG nicht verstoßen, sondern ist gerade von ihm ausgegangen, allerdings mit - im tatsächlichen unangreifbaren - Schlußfolgerungen, die der Kläger nicht billigt. Das Gericht hat anhand von zahlreichen äußeren Umständen geprüft, ob sich aus ihnen auf einen Vorsatz iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG schließen läßt oder ob "vernünftige Zweifel am Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen", vor allem eines Vorsatzes, den Anspruch ausschließen.
Der Beschwerdebegründung zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), könnte wohl eine formgerechte Bezeichnung von allgemein bedeutsamen und hier entscheidungserheblichen Rechtsfragen entnommen werden (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; SozR 1500 § 160 Nr 17; 1500 § 160a Nrn 31, 39, 44, 45, 47, 59). Jedoch sind die vom Kläger aufgezeigten Fragen deshalb nicht in der erforderlichen Weise grundsätzlich bedeutsam, weil sie eindeutig zu beantworten oder weil sie bereits durch die höchstrichterliche Rechtsprechung behandelt und deshalb nicht klärungsbedürftig sind (BSGE 40, 40, 42 = SozR 1500 § 160a Nr 4; BSGE 40, 158, 159 f; SozR 1500 § 160 Nr 17; 1500 § 160a Nr 59). Der einschlägigen Judikatur ist auch bisher nicht im Schrifttum in beachtlicher Weise widersprochen worden mit der Folge, daß sich eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage wieder ergäbe (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13).
Die besonderen Beziehungen zwischen Strafrecht und Sozialentschädigungsrecht nach dem OEG ergeben keine Rechtsfragen, die klärungsbedürftig wären. In erster Linie ist ein grundlegender Unterschied zu beachten. Eine Bestrafung ist zwar auch tatbezogen (Schönke/Schröder/Lenckner, Strafgesetzbuch, 22. Aufl 1985, Vorbem §§ 13 Rz 3 und 105; Baumann/Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl 1985, S 29 f, 349, 103 f), richtet sich aber stets gegen einen bestimmten Täter wegen eines nachgewiesenen schuldhaften Verhaltens (Baumann/Weber, aaO, S 34 f, 357 ff; BVerfGE 20, 323, 331). Dagegen hängt der sozialrechtliche Entschädigungsanspruch des Opfers entscheidend von einer Schädigung ab, die durch eine bestimmte Art von Gewalttat verwirklicht wurde; die Person eines bestimmten Täters braucht für den Anspruch nicht festzustehen. Dies ergibt sich klar aus den gesetzlichen Regelungen, die im Zusammenhang zu betrachten sind. Soweit die Voraussetzungen einer Schädigung, eine Gewalttat im eingeschränkten Sinn des § 1 Abs 1 OEG, allein durch Angaben einer als Täter in Betracht kommenden Person nachgewiesen werden kann, fehlt im Entschädigungsverfahren der Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz, der dem Angeklagten bei der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren vorrangig vor den Interessen des Opfers zukommt (dazu Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 1987, Art 2 Abs I Rz 37; Benda in: Benda/Maihofer/Vogel -Hg-, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1983, 107, 116 f). Das könnte allenfalls nach Abschluß eines Strafverfahrens im Entschädigungsverfahren rechtfertigen, dem vermutlichen Täter als Zeugen keine Aussageverweigerung zuzugestehen. Gleichwohl verbleibt die tatsächliche Möglichkeit, daß der vermutliche Täter nicht wahrheitsgemäß aussagt, auch im Hinblick auf eine Schadensersatzverpflichtung aus § 823 Bürgerliches Gesetzbuch, die infolge gesetzlichen Forderungsübergangs einen Anspruch des Staates gegen den Ersatzpflichtigen begründen würde (§ 5 Abs 1 OEG iVm § 81a BVG). Dennoch haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht etwa allgemein und regelmäßig wegen einer typischen Besonderheit zugunsten des Antragstellers eine Beweiserleichterung bestimmter Art zu beachten, die das Revisionsgericht einheitlich festzulegen hätte. Auch in der gesetzlichen Unfallversicherung ist oft der Entschädigungsanspruch von den Angaben einer an der eigenen Entlastung persönlich interessierten Person, zB des Arbeitgebers oder eines Arbeitskollegen, abhängig. Ungeachtet dessen hat in vielen Jahrzehnten die Rechtsprechung in solchen Fällen noch nicht durch eine Beweiserleichterungsregel das Recht zur freien Beweiswürdigung eingeschränkt.
Vielmehr müssen ebenso wie allgemein im Sozialrecht für eine soziale Entschädigung nach dem OEG alle anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts erwiesen sein (st Rspr des BSG, besonders zur Beweislast: zB BSGE 30, 278, 280 f = SozR Nr 84 zu § 128 SGG; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, 4. Aufl, § 103 Anm 4 mwN; zur gesetzlichen Unfallversicherung: BVerfG SozR 2200 § 548 Nr 36). Falls es daran fehlt, geht das zu Lasten des Klägers (objektive Beweis- oder Feststellungslast). Das gilt auch für den erforderlichen Vorsatz des "tätlichen Angriffs"; eine fahrlässige Schädigung genügt nicht - außer beim Fehlgehen eines gezielten Angriffs und bei einem gemeingefährlichen Verbrechen iS des § 1 Abs 2 Nr 2 OEG (BSGE 59, 46 ff = SozR 3800 § 1 Nr 6; Gesetzesbegründung in BR-Drucks 352/74, S 14, zu § 1 Abs 1). Der Staat tritt mit dieser sozialen Entschädigung nur dann ein, wenn seine Ordnungskräfte bestimmte grobe Rechtsbrüche nicht zu verhindern vermochten, nicht aber im gesamten Unfallbereich mit Fremdverschulden. Ob ein bedingter Vorsatz (Eventualvorsatz), der im Strafrecht nicht nach einem allgemein anerkannten Maßstab von der hier rechtsunerheblichen Fahrlässigkeit abgegrenzt werden kann (Baumann/Weber, aaO, S 400 ff; Hillenkamp, 28 Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl 1985, S 11 ff; Schönke/Schröder/Cramer, aaO, § 15, Rz 68 ff; Schroeder in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Aufl 1980, § 16, Rz 85 ff), für einen "tätlichen Angriff" im Sinn einer feindseligen Angriffshandlung (BSGE 56, 234, 235, 236; 59, 46, 47 f) genügt, erscheint fraglich (Schoreit/Düsseldorf, Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten, 1977, § 1 Abs 1, Rz 74; zurückhaltend auch Schulz-Lüke/Wolf, Gewalttaten und Opferentschädigung, 1977, § 1, Rz 15, 16; für das Strafrecht bejahend: Schönke/Schröder/Eser, aaO, § 113 Rz 50; § 121 Rz 17). Dabei wäre zu beachten, daß die Opferentschädigung nicht streng der Annahme oder Verneinung strafrechtlicher Schuldformen zu folgen hat (Schoreit, Entschädigung der Verbrechensopfer als öffentliche Aufgabe, 1973, S 68 f; Geschwinder, ZfS 1982, 161 ff). Dies braucht hier nicht entschieden zu werden; denn nach der mit der Beschwerde nicht angreifbaren Tatsachenfeststellung des LSG hat der Täter auch nicht mit Eventualvorsatz gehandelt.
In vielen Fällen eintretende Beweisschwierigkeiten zwingen nicht allgemein im Recht der sozialen Entschädigung zu einer bestimmten regelgeleiteten Einschränkung des Rechts zur freien Beweiswürdigung, etwa durch eine stets gebotene Anwendung des Beweises des ersten Anscheines, worauf später einzugehen ist. Das gilt auch nicht für die Kriegs- und die Wehrdienstopferversorgung sowie die Impfentschädigung (zum Impfschadensrecht: BSGE 60, 58, 59 f = SozR 3850 § 51 Nr 9), bei denen es sich um Rechtsgebiete handelt, die auf einer Aufopferung beruhen (BSGE 26, 30, 36 = SozR Nr 7 zu § 7 BVG; BSGE 37, 206, 211 = SozR 7190 § 2 Nr 1; BSGE 42, 28, 29 = SozR 3850 § 51 Nr 1; BSGE 58, 38, 41 = SozR 3100 § 5 Nr 7; BVerfGE 48, 281, 288 f).
Ein von der Verwaltung verursachter Beweisnotstand, der die Tatsacheninstanz berechtigen kann, aber nicht unbedingt verpflichten muß, "an den Beweis der Tatsachen, auf die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen" zu stellen (BSGE 24, 25, 28 f = SozR Nr 75 zu § 128 SGG), besteht im Fall des Klägers nicht.
Besonderen Beweisschwierigkeiten, die typischerweise in der sozialen Entschädigung vorkommen, hat der Gesetzgeber durch begrenzte Regeln zugunsten der Antrag- und Anspruchssteller entsprochen. Vor allem braucht der ursächliche Zusammenhang zwischen einer gesetzlich geschützten Gesundheitsschädigung und einer bleibenden Gesundheitsstörung, die einen Entschädigungsanspruch begründet (§ 1 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz -BVG-, § 80 Soldatenversorgungsgesetz -SVG-, § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz -BSeuchG- usw), nur wahrscheinlich zu sein (§ 1 Abs 3 Satz 1 BVG, § 81 Abs 5 Satz 1 SVG, § 52 Abs 2 Satz 1 BSeuchG, § 1 Abs 7 OEG iVm § 1 Abs 3 Satz 1 BVG usw; dazu BSGE 60, 58 f). Außerdem sind nach § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (idF vom 6. Mai 1976 -BGBl I 1169-/Art II § 16 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren -SGB X- vom 18. August 1980 -BGBl I 1469, 1980-) im Kriegsopferrecht und deshalb auch für die Entschädigung nach dem OEG (§ 6 Abs 3 OEG) "die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen", bei bestimmten Beweisschwierigkeiten "der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen". Das gilt aber im Fall des Klägers gerade nicht für seine Behauptung, der Täter habe "vorsätzlich" auf ihn geschossen. Denn eine solche innere Einstellung könnte nicht unmittelbar vom Opfer durch eine auf "Tatsachen" bezogene "Angabe" bekundet werden. Sie läßt sich vielmehr, wie die Beschwerdebegründung bestätigt, allein aus anderen Tatsachen ableiten. Der Kläger behauptet nicht eine Reihe solcher Tatsachen, die das LSG ihm nach jener Vorschrift hätte glauben müssen und aus denen er nichts anderes als einen vorsätzlichen Angriff hätte schließen können.
Darüber hinaus sind nicht etwa zwingend kraft eines Beweises des ersten Anscheins allgemein alle zweifelhaften Tatsachen, die zu den Anspruchsvoraussetzungen gehören, im sozialen Entschädigungsrecht als gegeben anzunehmen. Ob ein Anscheinsbeweis, der allgemein im Sozialrecht anzuwenden sein kann, unter bestimmten Voraussetzungen stets als Beweisregel die freie Beweiswürdigung einschränken muß, kann hier dahingestellt bleiben. Die erforderlichen Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht gegeben. Der Beweis des ersten Anscheins ist nur bei typischen Geschehensabläufen möglich, die nach allgemeiner Erfahrung aus einer bestimmten Tatsache auf einen bestimmten Verlauf schließen lassen. Sind aber mehrere Geschehensabläufe oder Vorgänge möglich, wie hier bei der inneren Einstellung eines Täters im Verhältnis zur Schußverletzung des Klägers, dann ist eine solche Beweisregel ausgeschlossen, mag auch eine von mehreren Möglichkeiten, die für den Kläger günstig wäre, wahrscheinlicher sein als eine andere, von der das Gericht ausgegangen ist (BSG BVBl 1964, 169; BGHZ 24, 308, 313; Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 128 Anm 2, b, dd S II/148). Zur Feststellung willensgesteuerter Verhaltensweisen, die regelmäßig durch die Individualität des Handelnden geprägt sind, eignet sich der Anscheinsbeweis vielfach nicht (BGHZ 31, 351, 357; BGH-Urteil vom 4. Mai 1988 - IVa ZR 278/86 -; Peters/Sautter/Wolff, aaO, S II/146; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl 1987, § 128, Rz 9 S 595). Eine gesundheitliche Schädigung durch eine Schußverletzung ist nicht regelmäßig kraft eines ersten Anscheines auf eine vorsätzliche Gewalttat iS des § 1 OEG zurückzuführen; sie kann auch fahrlässig verursacht worden sein (Schoreit/Düsseldorf, aaO, § 1 Abs 1 Rz 37).
Ebensowenig wie im übrigen für die soziale Entschädigung wegen Beweisschwierigkeiten von dem Erfordernis, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen erwiesen sein müssen und den Antragsteller die Beweislast trifft, abzugehen ist (BSGE 60, 58, 61) und auch die Beweislast nicht umgekehrt wird (BSGE 60, 58, 60), gibt es die erleichternde Beweisregel, daß im Zweifel die Anspruchsvoraussetzungen zugunsten des Antragstellers anzunehmen sind (BSGE 6, 70, 72; BVBl 1964, 169; Peters/Sautter/Wolff, aaO, S II/148 und 151 f; § 103 Anm 4 S II/74-14).
Etwas anderes ist nicht aus § 2 SGB I abzuleiten (aA Böhm, VersBea 1981, 86). Wenn nach § 2 Abs 2 Halbsatz 2 iVm Halbsatz 1 SGB I bei der Auslegung von sozialrechtlichen Vorschriften und bei der Ermessensausübung sicherzustellen ist, daß die sozialen Rechte, auch auf soziale Entschädigung (§ 2 Abs 1 Satz 1 iVm § 5 SGB I), möglichst weitgehend verwirklicht werden, so hat nicht etwa kraft dieser Bestimmung ein Gericht bei Zweifeln alle tatsächlichen Anspruchsvoraussetzungen als erwiesen anzusehen. Jene Anweisung bezieht sich auf die Verwirklichung von Rechten. Sie steht im Zusammenhang mit der Regel des § 2 Abs 1 Satz 2 SGB I, wonach aus den sozialen Rechten "Ansprüche nur insoweit geltend gemacht oder hergeleitet werden können, als deren Voraussetzungen und Inhalt durch die Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches im einzelnen bestimmt sind", also auch durch das OEG. Daß nicht kraft des § 2 Abs 2 Halbsatz 2 SGB I im Zweifel alle anspruchsbegründenden Tatsachen zugunsten des Klägers und zu Lasten des Beklagten als gegeben anzusehen sind, ist bisher in Rechtsprechung und Schrifttum noch nicht in Frage gestellt worden. Das BSG hat schon in einem Beschluß vom 15. August 1979 - 2 BU 23/79 - unter Hinweis auf zwei nicht veröffentlichte Urteile die Frage, ob § 2 Abs 2 SGB I eine allgemeine Beweiserleichterung geschaffen hat, für nicht klärungsbedürftig und damit nicht grundsätzlich bedeutsam erklärt.
Das BSG hat allerdings bisher nicht ausdrücklich über die Spezialfrage entschieden, ob in OEG-Verfahren die anspruchsbegründenden Tatsachen deshalb in Zweifelsfällen grundsätzlich zugunsten des Antragstellers anzunehmen sind, weil ihre Feststellung im allgemeinen von entsprechenden Angaben des Täters abhängt und weil im Strafverfahren im Zweifel zu seinen Gunsten entschieden werden muß. Indes ist es selbstverständlich und deshalb nicht klärungsbedürftig und damit nicht grundsätzlich bedeutsam iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, daß sich aus dieser strafrechtlichen und strafprozessualen Regel und aus der Abhängigkeit von Bekundungen des Täters nicht allgemein die Pflicht ergibt, in tatsächlicher Hinsicht im Zweifel zugunsten des Opfers zu entscheiden. Immerhin hat der Senat schon die andersartige Beweislast für das sozialrechtliche Verfahren gegenüber dem Strafverfahren betont (vgl besonders SozR 3800 § 2 Nr 4 S 30 f). Auch ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich unabhängig von der strafgerichtlichen Beurteilung einer Tat über deren Bedeutung für eine Entschädigung nach dem OEG zu entscheiden (BSGE 60, 147, 149 = SozR 1300 § 45 Nr 24; zur selbständigen Beweiserhebung und -würdigung: BSG SozR 3800 § 2 Nr 4 S 30; für die Unfallversicherung: BSGE 42, 42, 43 = SozR 2200 § 550 Nr 14). Daran hat sich das LSG im gegenwärtigen Fall gehalten, auch mit eigener Beweiswürdigung. Allerdings dürfen die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit einschlägige tatsächliche Feststellungen des Strafgerichts übernehmen (BSGE 49, 104, 106; 50, 95, 97 = SozR 3800 § 2 Nr 2). Andererseits dürfen sie sich nicht ohne eigene Beweiserhebung und -würdigung über tatsächliche Feststellungen eines Strafgerichts hinwegsetzen (BSGE 13, 1, 2 f = SozR Nr 36 zu § 103 SGG).
Ungeachtet dieser bereits durch die Rechtsprechung geklärten Gesichtspunkte entspricht bei einer Ungewißheit - nach Ausschöpfung aller Erkenntnismittel - der strafrechtlichen Beweisregel "in dubio pro reo", (dh "im Zweifel zugunsten des Angeklagten"), die aus der rechtsstaatlichen Begrenzung von Strafmöglichkeiten folgt (Bayer, VerfGHE -1982- 35, 39 = Bayer VerwBl 1982, 400; Löwe/Rosenberg/Gollwitzer, Großkommentar zur Strafprozeßordnung, 24. Aufl 1987, § 261 Rz 103; von Münch, Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl 1985, Art 1 Rz 32 S 93 f), im Verfahren über sozialrechtliche Leistungsansprüche allenfalls die bereits erwähnte Beweislastregel zu Lasten des Antragstellers. Das wirkt sich zugunsten des beklagten Leistungsträgers und der ihn finanzierenden Leistungsgemeinschaft aus. Im übrigen gilt dieser Beweislastgrundsatz nicht als Regel für die Beweiswürdigung mit der Rechtswirkung einer Beweiserleichterung zugunsten eines Verfahrensbeteiligten, sondern erst nach Auswerten aller Beweismittel (zum Strafprozeß: Baumann/Weber, aaO, S 164 f; Löwe/Rosenberg/Gollwitzer, aaO, Rz 104 mit Nachweisen der Rechtsprechung).
Ob das Unterlassen einer Berufungsentscheidung über einen gesonderten prozessualen Anspruch (§§ 123, 54 Abs 1 und 2 SGG) auf Härteausgleich (§ 1 Abs 7 OEG iVm § 89 BVG), worüber noch kein Ermessensakt der Verwaltung ergangen ist, den Kläger beschweren kann und ob das Revisionsgericht auf eine zugelassene Revision über einen solchen Anspruch sachlich entscheiden könnte, ist fraglich. Jedenfalls sind die Voraussetzungen einer solchen Leistung in diesem Verfahren des Klägers deshalb nicht grundsätzlich bedeutsam, weil nach ständiger Rechtsprechung (BSG SozR 7190 § 1 Nr 4 mwN) eine besondere Härte, über die auch die Gerichte zu befinden haben (BSGE 54, 202, 203 = SozR 3850 § 54 Nr 2), nicht allgemein für eine mit dem Gesetzeszweck nicht zu vereinbarende Leistung in Betracht kommt; das träfe für eine OEG-Entschädigung wegen der Folgen einer nicht nachweisbar vorsätzlichen Schädigung zu.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.
Fundstellen