Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirtschaftlichkeitsprüfung in der kassenärztlichen Versorgung

 

Orientierungssatz

Zur Wirtschaftlichkeitsprüfung in der kassenärztlichen Versorgung:

1. Die Rechtsprechung des BSG läßt grundsätzlich Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Kürzungen in einzelnen Leistungsbereichen zu. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann dann vorliegen, wenn ein Arzt in einem Einzelbereich seiner Praxis neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden anwendet. Hier kann eine Honorarkürzung die Therapiefreiheit des Arztes in unzulässiger Weise einengen.

2. Für die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit in einzelnen Leistungsbereichen ist der Gesamtfallwert von Bedeutung. Erscheint eine Kürzung gerechtfertigt, so kann sie auch den Bereich unterhalb der Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis erfassen. Hierbei ist der Kürzungsbetrag von den Prüfinstanzen zu schätzen und im Prüfbescheid zu begründen.

 

Normenkette

RVO § 368n Abs 5; SGB 5 § 106 Abs 2 Fassung: 1988-12-20

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 09.03.1988; Aktenzeichen L 1 Ka 1873/86)

 

Gründe

1) Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit von Honorarkürzungen.

Das Honorar der Klägerin für die Quartale I/82 bis II/83 wurde im Prüfungsverfahren gekürzt, weil die Klägerin bei bestimmten Einzelleistungen den Durchschnitt ihrer Fachgruppe (Frauenärzte) überschritten hat. Die Bescheide der Prüfinstanzen wurden durch Urteil des Sozialgerichts (SG) aufgehoben mit der Begründung, bei der gesamtwirtschaftlichen Betrachtung der Praxis der Klägerin liege keine Unwirtschaftlichkeit vor. Auf die Berufung des Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das sozialgerichtliche Urteil aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über die Widersprüche der Klägerin gegen die Bescheide der Prüfungskommission der Beklagten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Das LSG kam zu dem Ergebnis, daß aus den geringen Überschreitungen des Gesamtfallwertes bei der Klägerin nicht auf eine Gesamtwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise, die die Unwirtschaftlichkeit in Teilbereichen aufheben könnte, geschlossen werden könne.

2) Mit ihrer Beschwerde rügt die Klägerin nach § 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Abweichung des angefochtenen Urteils von den Urteilen des Senats vom 8. Mai 1985 - 6 RKa 24/83 - und vom 3. Juni 1987 - 6 RKa 24/86 - (SozR 2200 § 368n Nr 49). Sie trägt dazu vor, durch die Rechtsauffassung des LSG werde der Beurteilungsspielraum der Prüfinstanzen auch dann unter die Grenze von 20 % des Fachgruppendurchschnittes ausgeweitet, wenn ein sogenanntes "geringes Leistungsspektrum" vorliegt und der geprüfte Arzt mit seinem Leistungsspektrum dem Durchschnitt des Leistungsspektrums seiner Fachgruppe nicht entspricht. Demgegenüber habe das Bundessozialgericht (BSG) den Grundsatz aufgestellt, daß die ärztliche Therapiefreiheit auch im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung gewahrt bleiben müsse. Die Auffassung des LSG hebe die Therapiefreiheit der Ärzte praktisch auf, denn die Therapiefreiheit soll nach der Rechtsprechung des BSG dadurch gewährleistet sein, daß im Bereich unterhalb der normalen Streuung der Honorarforderung im Vergleich zur Fachgruppe ein unwirtschaftlicher Mehraufwand nur durch Einzelfallprüfung festgestellt werden könne.

Aus der Abweichung des LSG von der Rechtsprechung des BSG ergebe sich auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Weiter sei von grundsätzlicher Bedeutung, unter welchen Voraussetzungen Leistungen nach der Nr 65 E-GO unwirtschaftlich seien. Hierzu müsse klargestellt werden, daß es bei einer Prüfung nach der statistischen Methode für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von kurativen Leistungen nicht darauf ankomme, daß sie zeitlich nach Vorsorgeuntersuchungen angefallen seien.

3) Die Beklagte erstrebt mit ihrer Beschwerde die grundsätzliche Klärung folgender Rechtsfragen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG):

1.

Darf ein offensichtliches Mißverhältnis und damit die Unwirtschaftlichkeit einer einzelnen ärztlichen Leistung auch dann angenommen werden, wenn der Arzt mit der Häufigkeit dieser Leistung den Fachgruppendurchschnitt nur um 40 % oder weniger überschreitet, auch wenn es sich um Leistungen handelt, die von den Ärzten der Fachgruppe häufig erbracht wird?

2.

Rechtfertigt die im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses zur Fachgruppe liegende Häufigkeit einzelner Leistungen auch dann die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit und eine Kürzung, wenn der geprüfte Arzt mit dem Gesamthonorar den Fachgruppendurchschnitt nicht oder nur im Bereich der etwa bei 20 % über Fachgruppendurchschnitt liegenden normalen Streuung überschreitet?

3.

Erlaubt eine im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses zur Fachgruppe liegende Häufigkeit einzelner Leistungen und die daraus geschlossene Unwirtschaftlichkeit dieser Leistung eine Kürzung, durch die das Gesamthonorar unter die Grenze der etwa bei 20 % über Fachgruppendurchschnitt liegenden normalen Streuung herabgesetzt wird?

Weiter rügt die Beklagte nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG eine Abweichung des Urteils des LSG von den Urteilen des BSG vom 1. März 1979 - 6 RKa 4/78 -, vom 2. Juni 1987 - 6 RKa 23/86 - und vom 3. Juni 1987 - 6 RKa 24/86 - (SozR 2200 § 368n Nrn 19, 48, 49). Sie trägt dazu vor, nach der Rechtsprechung des BSG liege es nahe, beim Vergleich einzelner Leistungsarten höhere Grenzwerte für das offensichtliche Mißverhältnis des ärztlichen Aufwandes zu dem der Fachgruppe in Betracht zu ziehen. Hiervon sei das LSG hinsichtlich der Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts bei der Leistung nach Nr 65 E-GO abgewichen. Eine weitere Abweichung des angefochtenen Urteils von der Rechtsprechung des BSG liege darin, daß das LSG jede Aussagekraft des Gesamtfallwertes für die Wirtschaftlichkeit des Verhaltens der Klägerin verneine.

4) Der Beigeladene tritt den Beschwerden der Klägerin und der Beklagten entgegen.

5) Über die Beschwerden hatte der Senat in der Besetzung mit jeweils einem ehrenamtlichen Richter aus dem Kreise der Krankenkassen und der Kassenärzte (§ 12 Abs 3 Satz 1, § 33 Satz 2, § 40 Satz 1 SGG) zu entscheiden; denn die Beschwerden betreffen eine Angelegenheit des Kassenarztrechts. Nach § 106 Abs 7 des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) gelten für die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung die Absätze 1 bis 6 entsprechend. Nach Absatz 4 bilden die Vertragspartner Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse, denen Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen in gleicher Zahl stimmberechtigt angehören. Diese Regelung gilt ab 1. Januar 1989, eine Übergangsregelung für das gerichtliche Verfahren enthält das Gesundheitsreformgesetz nicht. Durch die Neuregelung des SGB V ist die Wirtschaftlichkeitsprüfung im Ersatzkassenbereich nicht mehr ausschließlich dem Kreis der Kassenärzte zugewiesen. Sie ist damit eine Angelegenheit des Kassenarztrechts (vgl BSG Urteil vom 20. Juli 1988 - 6 RKa 2/88 - = SozR 1500 § 12 Nr 6; zur Anwendung neuen Rechts im gerichtlichen Verfahren siehe BSGE 43, 1, 5).

6) In der Sache selbst erweisen sich die Beschwerden als unbegründet.

Die Gegenstand der Beschwerden bildende Rechtsprechung des BSG läßt grundsätzlich Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Kürzungen in einzelnen Leistungsbereichen zu. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann dann vorliegen, wenn ein Arzt in einem Einzelbereich seiner Praxis neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden anwendet. Hier kann eine Honorarkürzung die Therapiefreiheit des Arztes in unzulässiger Weise einengen. Für die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit in einzelnen Leistungsbereichen ist auch der Gesamtfallwert von Bedeutung. Erscheint eine Kürzung gerechtfertigt, so kann sie auch den Bereich unterhalb der Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis erfassen. Hierbei ist der Kürzungsbetrag von den Prüfinstanzen zu schätzen und im Prüfbescheid zu begründen.

Von dieser Rechtsprechung des BSG ist das LSG nicht abgewichen.

Das LSG hat für einzelne Leistungsbereiche die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise der Klägerin festgestellt. Es hat auch den Gesamtfallwert in seine Entscheidungsfindung einbezogen. Hierbei kam es zu dem Ergebnis, daß der Gesamtfallwert im vorliegenden Verfahren keine Aussagekraft für die Gesamtwirtschaftlichkeit besitzt. Hierdurch hat das LSG keinen von der Rechtsprechung des BSG abweichenden Rechtssatz aufgestellt, sondern lediglich den Einzelfall der Klägerin gewürdigt. Dies begründet keine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG, sondern allenfalls die Rüge der unrichtigen Entscheidung des Einzelfalles. Diese Rüge kann im Beschwerdeverfahren nicht angebracht werden. Im übrigen hat das LSG die Prüfinstanzen verpflichtet, über die Widersprüche der Klägerin gegen die Bescheide der Prüfungskommission erneut zu entscheiden und dabei erforderlichenfalls Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen. Hierdurch wird die Beschwerdekommission verpflichtet, ihr Augenmerk auf die gesamte Praxisführung der Klägerin zu richten. Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen, daß die Beachtung der Rechtsauffassung des LSG durch die Beschwerdekommission zu einer Abweichung von der Rechtsprechung des BSG führen müßte. Es ist nicht auszuschließen, daß die Beschwerdekommission nach erneuter Prüfung eine Unwirtschaftlichkeit in der Behandlungsweise der Klägerin nicht mehr annimmt.

Wegen der bestehenden Rechtsprechung des BSG entfällt auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG. Im Rahmen dieser Rechtsprechung wird die Beschwerdekommission aufgrund des angefochtenen Urteils des LSG tätig werden müssen. Erst danach kann festgestellt werden, ob und in welche Richtung die Rechtsprechung des BSG allgemein weiterentwickelt werden kann. Insbesondere kann erst die zu erwartende Entscheidung der Beschwerdekommission Aufschluß darüber geben, welche der von den Beschwerdeführerinnen aufgeworfenen, als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfragen sich noch stellen.

7) Nach allem waren die Beschwerden als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664527

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