Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwartschaften aus Beiträgen, die in Algerien vor der Loslösung von Frankreich entrichtet worden sind

 

Leitsatz (amtlich)

1. Sind Rentenanwartschaften aus Beiträgen, die vor dem 1965-01-19 in Algerien von einem Deutschen zur Caisse autonome de retraite et de prevoyance des mines d' Algerie entrichtet worden sind, bei Feststellung von Renten nach EWG-V 3 Kap 2 und 3 auch dann zu berücksichtigen, wenn der Versicherungsfall und der Rentenantrag des heute in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Versicherten erst nach diesem Zeitpunkt liegen?

2. Gebietet es die in EWG-V 3 Art 8 angeordnete Gleichbehandlung, daß die in einem nationalen Gesetz eines Vertragsstaates angeordnete Anrechnung und Anpassung von Ansprüchen und Sozialleistungen für in einem inzwischen selbständig gewordenen Gebiet dieses Staates zurückgelegte Versicherungszeiten auch für alle Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Gemeinschaft anwendbar sind, die ihren Wohnsitz in einem der anderen Mitgliedsstaaten haben.

 

Normenkette

EWGV 3 Kap 2; EWGV 3 Art. 24-28, 8; EWGV 3 Kap 3; EWGV 3 Anh A; SGG § 55 Abs. 1 Nr. 1; RKG § 137

 

Tenor

Die Verhandlung wird bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ausgesetzt.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird nach Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angerufen, vorab über folgende Fragen zu entscheiden:

a) Sind Rentenanwartschaften aus Beiträgen, die vor dem 19. Januar 1965 in Algerien von einem Deutschen zur Caisse autonome de retraite et de prévoyance des mines d___AMPX_’_SEMIKOLONX___XAlgérie entrichtet worden sind, bei Feststellung von Renten nach Kapitel 2 und 3 der EWG-Verordnung Nr. 3 auch dann zu berücksichtigen, wenn der Versicherungsfall und der Rentenantrag des heute in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Versicherten erst nach diesem Zeitpunkt liegen?

b) Gebietet es die in Art. 8 der EWG-Verordnung Nr. 3 angeordnete Gleichbehandlung, daß die in einem nationalen Gesetz eines Vortragsstaates angeordnete Anrechnung und Anpassung von Ansprüchen und Sozialleistungen für in einem inzwischen selbständig gewordenen Gebiet dieses Staates zurückgelegte Versicherungszeiten auch für alle Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaates der Gemeinschaft anwendbar sind, die ihren Wohnsitz in einem der anderen Mitgliedsstaaten haben?

 

Gründe

I

Streitig ist, ob im Rahmen der Verordnung Nr. 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeiter (EWG-VO Nr. 3) bei der dem Kläger mit Bescheid vom 17. Mai 1967 ab 1. Januar 1962 zuerkannten Bergmannsrente und bei der mit Bescheid vom 29. Juni 1971 ab 3. Juli 1970 zuerkannten Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit die von dem Kläger in der Zeit vom 1. Juli 1960 bis zum 30. Juni oder 31. Juli 1962 in Algerien zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind.

Der Kläger war damals bei der Staatlichen Algerischen Ölgesellschaft S.N.IEPAL in Algier als Palynologo beschäftigt. Für ihn wurden Beiträge zur Caisse autonome de retraite et de prévoyance des mines d'Algérie entrichtet. Der zuständige französische Versicherungsträger (Caisse autonome nationale de la Sécurité Sociale dans les mines) hat mitgeteilt, für ihn bestehe nach der Entlassung Algeriens in die Unabhängigkeit am 1. Juli 1962 keine Verpflichtung über den im Rahmen des Gesetzes Nr. 64 _ 1330 vom 26. Dezember 1964 hinaus Lasten zu übernehmen, für die normalerweise algerische Versicherungsträger zuständig seien. Daher könnten die vom Kläger in Algerien zurückgelegten Zeiten nicht übernommen werden. Nach dem genannten Gesetz würden algerische Versicherungszeiten aus der Zeit vor dem 1. Juli 1962 nur dann als französische Zeiten angesehen, wenn es sich um französische Staatsangehörige oder um gewisse in Frankreich wohnende Ausländer handele. Algerien war zunächst als Teil Frankreichs von dem Geltungsbereich der EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4 erfaßt, es wurde aber später in Anhang B der EWG-VO Nr. 3 gestrichen (Art. 5, 16 Abs. 2 VO Nr. 109/65 EWG vom 30.6.1965 - BABl 196.5, 703).

Mit Bescheid vom 9. Dezember 1969 lehnte die Beklagte die Berücksichtigung der in Algerien zurückgelegten Versicherungszeiten ab, der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 1970 zurückgewiesen. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover die ergangenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Bergmannsrente des Klägers durch Berücksichtigung der vom 1. Juli 1960 bis zum 31. Juli 1962 in Algerien zurückgelegten Versicherungszeiten zu erhöhen, weil es sich bei diesen Versicherungszeiten nicht um eine algerische, sondern um eine französische Versicherungszeit gehandelt habe. Auf die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 27. Oktober 1971 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung führt es aus, es sei nicht möglich, daß die Beklagte anstelle der berücksichtigten 209 anrechnungsfähigen Versicherungsmonate bei der von ihr gezahlten Rente eine Versicherungszeit von 234 Monaten (209 + 25 in Algerien zurückgelegte Versicherungsmonate) zugrunde lege. Das entspreche nicht der in Art. 28 EWG-VO Nr. 5 getroffenen Regelung, denn danach schulde ein Versicherungsträger eines jeden Mitgliedsstaates nur den Betrag, der sich aus den Verhältnis der nach seinen Rechtsvorschriften vor Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegten Zeiten und der Gesamtdauer der nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedsstaaten vor Eintritt des Vorsicherungsfalles zurückgelegten Zeiten ergebe. Die EWG-VO Nr. 3 habe kein gemeinschaftliches System der sozialen Sicherheit eingeführt, das dem Leistungsempfänger einen einheitlichen Anspruch gewähre. Die selbständigen Versicherungssysteme, aus denen sich selbständige Ansprüche ergeben, seien vielmehr stehen geblieben. Auch habe das SG übersehen, daß nur die vor Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegten Zeiten berücksichtigt werden dürften (Art. 28 EWG-VO Nr. 3). Der Versicherungsfall der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit sei aber schon im Dezember 1961 eingetreten. Für den Monat Juli 1962 sei im übrigen auch von Kläger überhaupt kein Beitrag mehr entrichtet worden, so daß dieser Kalendermonat schon deshalb keine Versicherungswert sein körne. Der Versicherungsträger, der die Beiträge erhalten habe, gehöre nach Anhang 2 EWG-VO Nr. 4 (EGBl 1959 II 496) zu Algerien. Zwar sei die EWG-VO Nr. 3 nach Art. 3 in Verbindung mit Anhang B aF auch auf die in Algerien geltenden Rechtsvorschriften über das System der sozialen Sicherheit im Bergbau anzuwenden gewesen, jedoch sei Algerien dort nach seiner Selbständigkeit ersatzlos gestrichen worden. Übergangsbestimmungen hinsichtlich der vor dem 18. Januar 1965 eingetretenen Versicherungsfälle seien nicht vorhanden. Hieraus müsse gefolgert werden, daß der Verordnungsgeber die Berücksichtigung von algerischen Versicherungszeiten nicht mehr zulasse, und zwar selbst dann nicht, wenn der Versicherungsfall vor dem 18. Januar 1965 eingetreten, jedoch der Anspruch erst nach diesem Zeitpunkt zuerkannt worden sei. Dementsprechend habe der zuständige französische Versicherungsträger seine Zuständigkeit verneint, so daß es sich nicht um eine französische Versicherungszeit handle. Die Klage gegen den eine Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zusprechenden Bescheid vom 29. Juni 1971 könne schon deshalb keinen Erfolg haben, weil der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit erst eingetreten sei, nachdem Algerien im Anhang B der EWG-VO gestrichen gewesen sei. Gegen das Urteil hat das IEG die Revision zugelassen.

Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor, bis zur Selbständigkeit Algeriens habe es sich bei den Versicherungsträger, zu dem die Beiträge entrichtet worden seien, um eine französische Institution gehandelt. Algerien sei vor seiner Selbständigkeit auch in versicherungsrechtlicher Hinsicht nicht von Frankreich getrennt gewesen. Er sei auch bei einer französischen Firma tätig gewesen, die ihren Hauptsitz in Paris gehabt habe. Im übrigen sei die EWG-VO Nr. 3 nach Art. 3 in Verbindung mit dem Anhang B alter Fassung auch auf die in Algerien geltenden Rechtsvorschriften über das System der sozialen Sicherheit im Bergbau anzuwenden gewesen. Die Tatsache, daß die Geltung der EWC-VO Nr. 3 und 4 mit Wirkung vom 19. Januar 1965 für Algerien aufgehoben worden sei, stehe der Anrechnung der streitigen Versicherungszeiten nicht entgegen, weil die in Betracht kommenden Zeiten bereits vor diesem Stichtag zurückgelegt worden seien und der Versicherungsfall der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit schon vor diesem Zeitpunkt eingetreten sei. Von der ersatzlosen Streichung Algeriens in der EWG-VO könnten nur solche Versicherungszeiten betroffen werden, die erst nach dem 18. Januar 1965 in Algerien zurückgelegt worden seien. Jede andere Handhabe würde für den Kläger eine unbillige Härte bedeuten, da Versicherte, die unter gleichen Umständen die Rente schon vor dem 18. Januar 1965 beantragt hätten, in den Genuß der in Algerien zurückgelegten Versicherungszeiten gelangt seien.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Oktober 1971 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 3. März 1971 mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß festgestellt wird, daß die in Algerien zurückgelegte Versicherungszeit vom 1. Juli 1960 bis zum 30. Juni 1962 im Rahmen der EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4 von der Beklagten zu berücksichtigen sind.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Oktober 1971 zurückzuweisen,

hilfsweise: das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesozialgericht zurückzuverweisen.

Nach Ansicht der, Beklagten hat Frankreich Versicherungslastregelungen aus den bis zum 1. Juli 1562 zurückgelegten algerischen Versicherungszeiten nur für bestimmte Personengruppen unter besonderen Voraussetzungen aufgrund französischer innerstaatlicher Gesetzgebung übernommen, von denen der Klüger nach Meinung der französischen Versicherungsträger nicht erfaßt sei. Die Feststellung des französischen Versicherungsträgers sei für sie bindend. Eine eigene Interpretation sei ihr im Hinblick auf Art. 1 Buchst. p EWG-VO Nr. 3 verwehrt.

II

Der Kläger hat den von ihm in der Berufungsinstanz gestellte Klageantrag verdeutlicht: Er beantragt die Feststellung, daß seine in Algerien zurückgelegte Versicherungszeit vom 1. Juli 1960 bis zum 30. Juni 1962 im Rahmen der EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4 von der Beklagten zu berücksichtigen ist. Das deutsche Recht läßt eine derartige Feststellungsklage zu (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - und § 137 des Reichsknappschaftsgesetzes -RKG -); sie ist für alle Versicherungszeiten möglich, die in irgendeiner Weise von einem deutschen Versicherungsträger zu berücksichtigen sind. Der Kläger hat schon deshalb ein Rechtsschutzinteresse an dieser Feststellung, weil hiervon z.B. die Erfüllung der Wartezeit nach § 49 Abs. 3 Satz 1 RKG abhängen könnte.

Im vorliegenden Fall führte ein von Kläger am 21. März 1960 gestellter Rentenantrag zur Zuerkennung einer Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab 1. Januar 1962 durch den Bescheid der Beklagten von 17. Mai 1967. Der Versicherungsfall der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit ist also schon zu einer Zeit eingetreten, als Algerien noch zu Frankreich und damit zur EWG gehörte. Ein weiterer Antrag des Klägers vom 1. April 1970, ihn statt der Bergmannsrente die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen, führte zur Zuerkennung einer Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit ab 3. Juli 1970 mit Bescheid vom 29. Juni 1971.

Der französische Versicherungsträger lehnte die Übernahme der in Algerien zurückgelegten Versicherungszeit ab, weil der Kläger nicht zu dem durch das Gesetz Nr. 64 - 1330 vom 26. Dezember 1964 begünstigten Personenkreis gehöre. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat mit Urteil vom 10. Oktober 1973 in der Rechtssache 110/73 entschieden (Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes 1973 - 7 S. 1001 ff.), daß Anhang A der Verordnung Nr. 3 in seiner ursprünglichen Fassung für die französischen Versicherungsträger die Verpflichtung begründet, die von einem Wanderarbeitnehmer vor dem 19. Januar 1965 in Algerien erworbenen Rechte zu beachten. In dem vom Gerichtshof entschiedenen Fall hatte der Betroffene am 26. Januar 1963 einen Antrag auf Übernahme der bisher von einem algerischen Versicherungsträger gezahlten Invalidenrente von einem deutschen Versicherungsträger gestellt, der den Antrag unter Einschaltung der Zentralstelle für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer erst am 31. Hai 1967 an den französischen Versicherungsträger weitergeleitet hatte. Die Entscheidung des Gerichtshofes läßt nicht erkennen, ob zu den in Algerien vor dem 19. Januar 1965 erworbenen Rechten auch Anwartschaften gehören, insbesondere ob Rentenanwartschaften aus Beiträgen, die vor dem 19. Januar 1965 in Algerien von einem Deutschen zur Caisse autonome de retraite et de prévoyance des mines d___AMPX_’_SEMIKOLONX___XAlgérie entrichtet worden sind, bei der Feststellung von Renten nach Kapitel 2 und 3 der EWG-VO Nr. 3 auch dann zu berücksichtigen sind, wenn der Versicherungsfall und der Rentenantrag des heute in der Bundesrepublik Deutschland wohnenden Versicherten erst nach diesem Zeitpunkt liegen. Diese Frage ist deshalb für die zu treffende Entscheidung bedeutsam, weil nach deutschem Recht für den bereits in Januar 1962 eingetretenen Versicherungsfall der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit die nach diesem Zeitpunkt in Algerien entrichteten Beiträge zwar nicht mehr berücksichtigt werden können, dies jedoch für den in Juli 1970 eingetretenen Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit möglich wäre. Wird die erste Frage bejaht, so erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage. Wird dagegen die erste Trage verneint, so kommt es auf die Beantwortung der zweiten Frage an. Die Bejahung der zweiten Frage würde zu einer. Berücksichtigung der algerischen Beiträge im Rahmen der EWG-VO Nr. 3 und 4 zugunsten des Klägers durch den deutschen Versicherungsträger führen, sobald der französische Gesetzgeber der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Rechnung tragend, die Anrechnung und Anpassung von Ansprüchen und Sozialleistungen für in Algerien zurückgelegte Dienstzeiten auf die in einen EWG-Staat wohnenden Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates ausdehnen würde.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648841

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