Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufshilfe für Kinder, Schüler und Studenten
Leitsatz (amtlich)
Muß ein (zunächst) normal entwickeltes Kind infolge eines anerkannten Kindergartenunfalls eine private Sonderschule besuchen, so sind die dadurch entstehenden erhöhten Kosten des Schulbesuchs von dem Unfallversicherungsträger im Rahmen der Berufshilfe (RVO § 567) zu tragen bzw dem Sozialhilfeträger zu ersetzen. Insoweit besteht ein Kostentragungsvorrang des Unfallversicherungsträgers gegenüber dem allgemeinen Beschulungsanspruch des Kindes.
Leitsatz (redaktionell)
Leistungspflicht des Unfallversicherungsträgers für die schulische Eingliederung (RVO § 567 Abs 2):
1. Der Anspruch unfallversicherter Schüler, Studenten und Kinder in Kindergärten auf Berufshilfe umfaßt nicht (erst) die Hilfe für die eigentliche berufliche Tätigkeit, sondern besteht auch in der Hilfe zur Erlangung des (einer Berufsausbildung vorausgehenden) schulischen Abschlusses (RVO §§ 567 Abs 1 Nr 2 und Abs 2).
2. Berufshilfe für Kinder, Schüler und Studenten:
Bei Kindern, Schülern und Studenten umfaßt die Berufshilfe nicht (erst) die Hilfe für die eigentliche berufliche Tätigkeit, sondern besteht auch in der Hilfe zur Erlangung des - einer Berufsausbildung vorausgehenden - schulischen Abschlusses.
Anspruch auf Berufshilfe (RVO § 567) bei unfallversicherten Kindern, Schülern, Lernenden und Studierenden; Ersatzanspruch nach RVO § 1531 sowie Umfang der dem vorleistenden Leistungsträger zu ersetzenden Aufwendungen:
3. Bei den nach RVO § 539 Abs 1 Nr 14 unfallversicherten Kindern, Schülern, Lernenden und Studierenden besteht die Berufshilfe (RVO § 567) im wesentlichen in der Hilfe zur Erlangung des einer Berufsausbildung vorausgehenden schulischen Abschlusses und umfaßt alle Maßnahmen und Leistungen, die wegen der Unfallfolgen erforderlich und geeignet sind, dem Verletzten entsprechend seiner Leistungsfähigkeit eine angemessene Schulbildung zu ermöglichen.
4. RVO § 1531 regelt einen selbständigen Ersatzanspruch des Trägers der Sozialhilfe, der nicht davon abhängt, ob die Voraussetzung für die Gewährung der Leistung an den Versicherten selbst erfüllt sind; Voraussetzungen und Höhe des Ersatzanspruchs richten sich allein nach RVO § 1531.
Orientierungssatz
Ist aufgrund der Vorleistung eines Sozialleistungsträgers die Ersatzverpflichtung eines anderen Sozialleistungsträgers im Streit, so ist für eine Ermessensausübung durch letzteren kein Raum mehr. Wenn er der Art nach zur streitigen Leistung verpflichtet ist, so muß er die verwaltungsmäßige Entscheidung des vorleistenden Sozialleistungsträgers gegen sich gelten lassen, soweit sie sich im Rahmen der für den vorleistenden Träger geltenden Rechtsvorschriften hält.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. a Fassung: 1971-03-18, § 567 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1974-08-07, Abs. 2 Fassung: 1974-08-07, § 1531 Fassung: 1945-03-29
Verfahrensgang
SG Ulm (Entscheidung vom 29.03.1977; Aktenzeichen 3 9 U 1327/76) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29. März 1977 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten der teilstationären Unterbringung des Beigeladenen in der Privaten Heimsonderschule Wört ab 18. August 1975 zu ersetzen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der beklagte Gemeindeunfallversicherungsverband verpflichtet ist, die Kosten für die teilstationäre Unterbringung des beigeladenen Schülers Stefan S (S.) in einer privaten Sonderschule zu tragen.
Der im August 1967 geborene S. erlitt im Februar 1973 auf dem Weg zum Kindergarten bei einem vom Beklagten mit Bescheid vom 24. Januar 1975 als Arbeitsunfall anerkannten Autounfall ein schweres Schädelhirntrauma, das unter anderem eine leichte spastische Halbseitenlähmung sowie eine Wesensveränderung (Antriebsminderung, Verlangsamung, Konzentrations- und Merkschwäche) zur Folge hatte (MdE 80 vH). S. besuchte zunächst die normale Grundschule. Jedoch wurde auf Grund eines pädagogisch-psychologischen Gutachtens in Verbindung mit einem neurologischen Gutachten Sonderschulbedürftigkeit wegen der Unfallfolgen festgestellt. Seit dem 18. August 1975 besucht S. täglich (an fünf Tagen in der Woche) die Private Heimsonderschule für körperbehinderte Kinder und Jugendliche in Wört. Die Kosten für die dortige teilstationäre Unterbringung in Höhe bis zu ca. 800,- DM monatlich (täglich 30,- DM, abzüglich 1,50 DM Elternanteil) werden vom Kläger als örtlichem Träger der Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) getragen.
Die auf Ersatz dieser Aufwendungen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Ulm durch Urteil vom 29. März 1977 abgewiesen. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt: Die teilstationäre Unterbringung stelle keine Maßnahme dar, die als Berufshilfe iS des § 567 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen sei. Die Gewährung einer Sonderschulausbildung gehöre nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, sondern sei eine staatliche Aufgabe, die sich aus der allgemeinen Schulpflicht ergebe. Als Berufshilfe kämen nur die Schulausbildung begleitende Maßnahmen in Betracht, nicht die Kostenübernahme für die Ausbildung selbst.
Der Kläger hat die vom SG (unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter) mit Beschluß vom 11. Juli 1977 zugelassene Sprungrevision eingelegt. Er ist der Ansicht, aus Sinn und Zweck der Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in den versicherten Personenkreis der gesetzlichen Unfallversicherung ergebe sich, daß der Begriff der Berufshilfe nicht eng ausgelegt werden könne, etwa in dem Sinne, daß darunter lediglich berufsbezogene Maßnahmen zu verstehen wären. Die Berufshilfe erfasse auch die Hilfe zum Besuch einer Sonderschule, wenn dieser als Folge eines versicherten Unfalls notwendig sei. Insoweit handele es sich um echte Rehabilitation. Der Besuch der Sonderschule sei Voraussetzung für später einsetzende unmittelbar berufsbezogene Maßnahmen. Es sei nicht einzusehen, weshalb die Kosten der Sonderschulausbildung eines unfallverletzten Kindes primär den Eltern aufgebürdet werden sollten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29. März 1977 aufzuheben und den Beklagten zur Übernahme der Kosten der teilstationären Unterbringung des Beigeladenen in der Privaten Heimsonderschule Wört ab 18. August 1975 zu verurteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29. März 1977 als unbegründet zurückzuweisen.
Er meint, das SG gehe ohne Rechtsirrtum davon aus, daß die teilstationäre Unterbringung in der privaten Sonderschule keine im Rahmen der Berufshilfe zu tragende Maßnahme sei. Auf die allgemeine Sonderschulausbildung habe jedes behinderte Kind Anspruch, gleichgültig, welche Ursache die Behinderung habe. Es sei nicht gerechtfertigt, den Unfallversicherungsträger zur Kostentragung für eine langjährige Sonderschulausbildung nur deshalb heranzuziehen, weil die Behinderung auf einem versicherten Unfall beruhe. Die schulgesetzlichen Vorschriften hätten auch hier Vorrang. Der Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Sprungrevision ist begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und der Beklagte antragsgemäß zu verurteilen. Der Kläger kann von ihm Ersatz der für die teilstationäre Unterbringung des S. in der Privaten Heimsonderschule für Körperbehinderte in W aufgewandten Kosten verlangen.
Der Klageanspruch gründet sich auf § 1531 Satz 1 der RVO. Danach kann der Träger der Sozialhilfe Ersatz beanspruchen, wenn er nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstützt, für die dieser einen Leistungsanspruch nach der RVO hat, jedoch nur bis zur Höhe dieses Anspruchs. Die Unterstützung des Beigeladenen ist "infolge des Unfalls" gewährt worden (§ 1534 RVO).
Der Kläger hat seinen Ersatzanspruch zutreffend in der Form der allgemeinen Leistungsklage im Sinne von § 54 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erhoben. § 1531 RVO regelt einen selbständigen Anspruch eigener Art, nicht etwa einen übergeleiteten Anspruch im Sinne des § 90 BSHG (BSGE 21, 84, 85). Dieser Anspruch kann nicht - entgegen der aus der Revisionserwiderung zu entnehmenden Ansicht des Beklagten - durch Verwaltungsakt (Bescheid) geregelt werden, da zwischen Kläger und Beklagtem als gleichgeordneten Rechtsträgern des öffentlichen Rechts eine hoheitliche Regelung in der Form des einen Verwaltungsakt darstellenden Bescheides nicht möglich ist (BSGE 13, 94, 96; Meyer/Ladewig, SGG Rdnr 41 zu § 54).
Der Beigeladene ist vom Kläger nach gesetzlicher Pflicht unterstützt worden. Die Übernahme der Kosten für die teilstationäre Unterbringung in der Sonderschule ist im Rahmen der Eingliederungshilfe nach den §§ 39 Abs 1 und 3, 40 Abs 1 Nr 3 BSHG erfolgt (vgl Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG 9. Aufl, § 40 Rdnr 13). Hierfür ist der Kläger als örtlicher Träger Der Sozialhilfe (§ 96 Abs 1 BSHG) zuständig, da § 100 BSHG diese Aufgabe nicht dem überörtlichen Sozialhilfeträger zuweist (§ 99 BSHG).
Der Kläger kann vom Beklagten Kostenersatz verlangen, weil der Beigeladene während der Gewährung der Eingliederungshilfe einen Leistungsanspruch gegen den Beklagten gehabt hat bzw. noch hat. Der erkennende Senat ist entgegen der Ansicht des SG der Auffassung, daß der Besuch der privaten Heimsonderschule von dem Beklagten im Rahmen der "Berufshilfe" zu finanzieren ist.
Der Beklagte als Träger der Unfallversicherung hat nach § 547 RVO unter anderem Berufshilfe zu gewähren. Nach § 556 Abs 1 Nr 2 RVO soll diese - ebenso wie die Heilbehandlung - mit allen geeigneten Mitteln dazu dienen, den Verletzten nach seiner Leistungsfähigkeit und unter Berücksichtigung seiner Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern. Die Berufshilfe umfaßt insbesondere Maßnahmen zur beruflichen Anpassung, Fortbildung, Ausbildung und Umschulung, einschließlich eines zur Teilnahme an diesen Maßnahmen erforderlichen schulischen Abschlusses (§ 567 Abs 1 Nr 3 RVO), sowie sonstige Hilfen der Arbeits- und Berufsförderung, um dem Verletzten eine angemessene und geeignete Berufs- und Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder in einer Werkstatt für Behinderte zu ermöglichen (§ 567 Abs 1 Nr 4 RVO). Der Beklagte meint zu Unrecht, die Übernahme von Kosten für den Besuch einer Sonderschule durch einen Träger der Unfallversicherung sei hier nicht möglich, weil die allgemeine Sonderschulausbildung keine Berufshilfemaßnahme sein könne und weil ferner schulgesetzliche Vorschriften Vorrang hätten.
Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, daß bei einer am Wortlaut haftenden Anwendung des § 567 RVO zweifelhaft sein könnte, ob schulische Maßnahmen im eigentlichen Sinne unter den Begriff "Berufshilfe" fallen. Entsprechend dieser Bezeichnung ist in den genannten Nrn 3, 4 des § 567 Abs 1 RVO der Bezug zur beruflichen Tätigkeit ausdrücklich gewahrt, und auch der in Nr 3 genannte "schulische Abschluß" steht in Zusammenhang mit "beruflicher" Anpassung, Fortbildung, Ausbildung und Umschulung.
Der hier streitige Schulbesuch geht dagegen der erst später einsetzenden beruflichen Ausbildung und Tätigkeit des Beigeladenen voraus, er steht noch in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit einer Berufsausübung. Eine so enge wörtliche Anwendung des § 567 RVO würde aber nicht mit dem Gesetzeszweck im Einklang stehen. Dabei ist zu beachten, daß Leistungen auf Grund eines im Rahmen der Unfallversicherung für Schüler, Studenten und Kinder in Kindergärten versicherten Unfalls des Beigeladenen streitig sind. Die durch das entsprechende Gesetz vom 18. März 1971 (BGBl I, 237) mit der Neufassung des § 539 Abs 1 Nr 14 RVO eingeführte Versicherung für diesen Personenkreis ist, gemessen an der herkömmlichen gesetzlichen Unfallversicherung, die die im Berufsleben arbeitenden Menschen gegenüber Unfallrisiken und -folgen absichern und eine Ablösung der zivilrechtlichen Haftung des Arbeitgebers darstellen soll (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand April 1977, S 469 und S 474 qu III), systemfremd und weicht von dem herkömmlichen Begriff des Arbeitsunfalls ab. Die Grundsätze und Begriffe der allgemeinen Unfallversicherung können deshalb auf die Unfallversicherung der Schüler, Studenten und Kinder in Kindergärten vielfach nicht direkt angewandt werden, da sie auf die berufliche Tätigkeit zugeschnitten sind (vgl Urteil BSG vom 25.1.1977 - 2 RU 65/76 -).
Der genannte Personenkreis sollte aber voll in den Leistungsumfang der gesetzlichen Unfallversicherung mit einbezogen werden (vgl Vollmar in Sozialversicherung 1972 S 73), wie sich aus den Materialien zu dem genannten Gesetz entnehmen läßt. Das gilt insbesondere auch für den Bereich der Berufshilfe (vgl Bundestagsdrucksache VI/1333 Seite 3 und insbesondere die Ausführungen der Abgeordneten Dr. F. und B. in der 90. Sitzung des 6. Deutschen Bundestages, Protokolle Seite 4978f, die die Ausdehnung der Berufshilfe auf Schüler und Studenten besonders hervorgehoben haben). Bei diesem noch nicht im Berufsleben stehenden Personenkreis sind die Begriffe der allgemeinen Unfallversicherung teilweise nur entsprechend anzuwenden. Für den Begriff der Berufshilfe ergibt sich hieraus, daß er bei Schülern, Studenten und Kindern nicht (erst) die Hilfe für die eigentliche berufliche Tätigkeit erfaßt, sondern daß hier Berufshilfe im wesentlichen in der Hilfe zur Erlangung des einer Berufsausbildung vorausgehenden schulischen Abschlusses besteht (§ 567 Abs 1 Nr 3 RVO; s. auch BSG SozR 4100 AFG § 40 Nr 10). Diese Zielsetzung der Berufshilfe wird deutlich in dem durch das Rehabilitations-Angleichungsgesetz (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I, 1881) eingefügten Absatz 2 des § 567 RVO: "War der Verletzte vor dem Unfall noch nicht erwerbstätig, so ist ihm Berufshilfe zu gewähren, soweit seine Fähigkeit, eine angemessene Berufs- oder Erwerbstätigkeit zu erlernen oder auszuüben, infolge des Unfalls beeinträchtigt ist" (vgl) auch Brackmann aaO S 566 i). Nach der Begründung zum Entwurf des RehaAnglG wurde diese Bestimmung eingefügt, um den Umfang der Berufshilfe, insbesondere der Berufsvorbereitung, "vor allem für die nach § 539 Abs 1 Nr 14 RVO versicherten Kinder und Jugendlichen zu umschreiben" (BT-Drucks 7/1237 Seite 68). § 567 Abs 2 RVO ist demnach eine über die Aufzählung des § 567 Abs 1 RVO hinausgehende Sonderregelung, (vgl § 9 Abs 1 RehaAnglG) die den Umfang der Berufshilfe bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu den im Arbeitsleben stehenden Versicherten auf die der Berufsausbildung vorangehende Schulausbildung erweitert (vgl Jung/Preuß, RehaAnglG, 2. Auflage, Erl zu § 21 Nr 50 = § 567 RVO; Brackmann aaO Seite 566n, Vollmar aaO Seite 74). Bei dem genannten Personenkreis umfaßt die Berufshilfe alle Maßnahmen und Leistungen, die wegen der Unfallfolgen erforderlich und geeignet sind, dem Verletzten entsprechend seiner Leistungsfähigkeit eine angemessene Schulbildung zu ermöglichen (Lauterbach, Unfallversicherung, Stand August 1977, Anm 15a zu § 567).
Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten der Berufshilfe für Kinder und Schüler wird auch die Kostentragung des Unfallversicherungsträgers für einen unfallbedingten Sonderschulbesuch hiervon erfaßt. Sie ist nicht etwa - wie der Beklagte meint - auf den Schulbesuch begleitende Maßnahmen beschränkt, sondern gilt gleichermaßen für den Besuch der Sonderschule selbst. Wenn ein Kind oder Jugendlicher durch einen versicherten Unfall außerstande gesetzt ist, einen für eine spätere berufliche Ausbildung erforderlichen Abschluß in einer allgemeinbildenden Schule zu erreichen, gehört es zum Aufgabenbereich des zuständigen Unfallversicherungsträgers, ihm im Rahmen der Rehabilitation eine statt dessen mögliche andere Berufsvorbereitung zu gewähren. Kommt als solche aufgrund fachlicher Beurteilung - wie hier - der Sonderschulbesuch in Betracht, hat der Unfallversicherungsträger entsprechende Maßnahmen durchzuführen und etwaige damit verbundene Kosten zu tragen. Nur auf diese Weise kann das in § 556 Abs 1 Nr 2 RVO genannte Ziel, eine berufliche Eingliederung unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit und Eignung des Versicherten herbeizuführen, vorbereitet und erreicht werden. Die berufliche Eingliederung setzt zunächst einmal die Durchführung einer für den Verletzten am besten geeigneten Schulausbildung voraus; das kann auch die Sonderschulausbildung sein. Entgegen der Auffassung des SG wird auch in der Literatur die Übernahme der Kosten des Besuchs von Sonderschulen als eine Möglichkeit der dem Unfallversicherungsträger obliegenden schulischen Rehabilitation angesehen (vgl Brackmann, aaO Seite 566n; Jung/Preuss aaO; Lauterbach aaO Anm 15a Ziff c), wenn der Entwicklungsstand oder das körperliche bzw geistige Leistungsvermögen des Verletzten durch den Unfall so beeinträchtigt ist, daß er trotz individueller Hilfen in der allgemeinen Schule nicht oder nicht ausreichend gefördert werden kann. Die Berufshilfe muß u.U. sogar noch früher einsetzen, wenn das verletzte Kind auf den Besuch der (allgemeinen oder Sonder-) Schule erst vorbereitet werden muß (vgl Lauterbach aaO).
Der Beklagte meint zu Unrecht, der Übernahme der streitigen Kosten durch ihn stehe entgegen, daß auch behinderte Kinder der allgemeinen Schulpflicht unterlägen und deshalb schulrechtliche Bestimmungen vorgingen. Es ist zwar richtig, daß auch leistungsbehinderte Kinder grundsätzlich zum gleichen Zeitpunkt schulpflichtig werden wie die anderen Kinder (vgl Heckel/Seipp, Schulrechtskunde, 4. Auflage, S 350 und 359). Deshalb war auch für den Beigeladenen unabhängig von der Einleitung von Eingliederungsmaßnahmen durch den Kläger die Verpflichtung zum Besuch einer Schule, gegebenenfalls einer Sonderschule, entstanden. Dieser Umstand allein ist aber nicht entscheidend für die Frage, ob der Beklagte die Kosten eines Sonderschulbesuchs zu tragen hat. Der Schulpflicht steht lediglich die Pflicht der staatlichen Organe gegenüber, durch Bereitstellung der erforderlichen Schulen den Schulpflichtigen den Schulbesuch zu ermöglichen, dh ihren Beschulungsanspruch zu erfüllen (vgl Heckel/Seipp aaO S 349). Das kann auch durch Bereitstellung von Sonderschulen geschehen (s. auch den vom BSG am 25.1.1977 entschiedenen Fall - 2 RU 65/76 -). Hieraus folgt aber nicht, daß jeder im Rahmen der Schulpflicht stattfindende Schulbesuch von der Allgemeinheit - zum Beispiel über die (volle) Schulgeldfreiheit und Fahrgeldfreiheit - zu finanzieren wäre. Vielmehr muß insoweit bei behinderten oder besonderer Betreuung bedürftigen Kindern nach dem Grund der Behinderung unterschieden werden.
Handelt es sich um eine angeborene oder durch Krankheit (oder aus sonstigen, unfallunabhängigen Ursachen) entstandene Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit des Kindes, dann trifft die Verantwortung und damit die Kostentragungspflicht in erster Linie den Staat zwecks Erfüllung des (allgemeinen) Beschulungsanspruchs des behinderten Kindes. Sind dagegen besondere schulische Maßnahmen - und dazu gehört unter Umständen auch der Besuch einer privaten Sonderschule - aus Gründen einer in die Leistungsverpflichtung eines Unfallversicherungsträgers fallenden Rehabilitation erforderlich, dann sind die damit verbundenen Kosten auch von diesem Träger zu zahlen. Insoweit besteht ein Kostentragungsvorrang des Unfallversicherungsträgers. Das bedeutet nicht etwa, daß die Kosten für eine ohnehin laufende allgemeine Sonderschulausbildung, die nach einem Unfall im selben Umfang fortgesetzt wird, von der Berufsgenossenschaft im Rahmen der von ihr zu leistenden Berufshilfe zu tragen sind (vgl Boller, Sozialversicherung 1971, 127, 129). Ist aber ein versicherter Unfall wesentliche Bedingung dafür, daß das verletzte Kind einen Schulbesuch und einen etwaigen schulischen Abschluß nur in einer speziell die Leistungsminderung berücksichtigenden Schule erreichen kann, dann ist ein solcher Schulbesuch ursächlich auf den Unfall zurückzuführen mit der Folge, daß die damit verbundenen (erhöhten) Kosten vom Unfallversicherungsträger im Rahmen der Berufshilfe zu tragen sind. Dann beruht dieser (Sonder-) Schulbesuch lediglich sekundär auf der allgemeinen Schulpflicht; primär ist er eine Unfallfolge und findet deshalb statt, um dem Kind trotz seiner durch den Unfall hervorgerufenen Behinderung eine spätere berufliche Eingliederung zu ermöglichen. Deshalb kann die allgemeine Schulpflicht die Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung von Berufshilfe im hier streitigen Umfang nicht beseitigen.
Dem Klageanspruch steht auch nicht entgegen, daß es grundsätzlich im Ermessen des Unfallversicherungsträgers steht, welche Maßnahmen er im einzelnen im Rahmen der Berufshilfe durchführen will (vgl Brackmann aaO Seite 566c; Lauterbach aaO Anm 4 zu § 567), während im vorliegenden Rechtsstreit der Beklagte zumindest für die erste Zeit, für die der Kläger Ersatz seiner Kosten begehrt, keinen Einfluß auf die dem Beigeladenen gewährten Leistungen hatte. Hier ist aber zu beachten, daß nicht die Berufshilfemaßnahmen selbst begehrt werden, sondern daß ein Ersatzanspruch im Streit ist. Ein solcher ist nicht identisch mit dem Leistungsanspruch des Versicherten, er steht vielmehr selbständig neben ihm (vgl Brackmann aaO S 738e und S 970f). Seine Durchsetzung kann deshalb nicht davon abhängen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung der streitigen Leistung an den Versicherten selbst erfüllt sind, seine Begründetheit richtet sich vielmehr allein nach den in § 1531 RVO genannten Voraussetzungen (BSGE 24, 16; 21,84;14, 261, 266; vgl auch die Urteile des 3. Senats des BSG vom 13.Juli 1977, - 3 RK 84/76, 3 RK 3/77 -). Ist aufgrund der Vorleistung eines Sozialleistungsträgers die Ersatzverpflichtung eines anderen Sozialleistungsträgers im Streit, so ist für eine Ermessensausübung durch letzteren kein Raum mehr. Wenn er der Art nach zur streitigen Leistung verpflichtet ist, so muß er die verwaltungsmäßige Entscheidung des vorleistenden Sozialleistungsträgers gegen sich gelten lassen, soweit sie sich im Rahmen der für den vorleistenden Träger geltenden Rechtsvorschriften hält (vgl auch den in § 43 Abs 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgedanken). § 1531 RVO sieht lediglich hinsichtlich der Höhe des Ersatzanspruchs eine Begrenzung vor. Der Beklagte hat im Revisionsverfahren ausdrücklich bestätigt, er könne in dem hier vorliegenden Fall "keine bessere Alternative anbieten" als die von der Schulbehörde getroffene Entscheidung des Besuchs der Sonderschule Wört. Nach § 567 Abs 1 Satz 2 RVO gehört zu den berufsfördernden Maßnahmen auch die Übernahme der erforderlichen Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Gegen die Höhe der Ersatzforderung hat der Beklagte keine Einwendungen erhoben; solche sind auch nicht ersichtlich.
Soweit das SG den Klageanspruch auch deshalb verneint hat, weil der Unfallversicherungsträger grundsätzlich nur zur Gewährung von berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation verpflichtet sei, hier aber Geldleistungen begehrt werden, hat es nicht ausreichend beachtet, daß nicht der Leistungsanspruch des Verletzten, sondern der selbständig daneben bestehende Ersatzanspruch im Streit ist. Letzterer ist seiner Art nach ein Geldanspruch. Dem Beklagten bleibt es unbenommen, für die Zukunft zu prüfen, ob er Sachleistungen an den Beigeladenen selbst erbringen will.
Nach alledem war der Revision stattzugeben und der Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils antragsgemäß zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Abs 4 SGG. Es ist nicht ersichtlich, daß dem Beigeladenen außergerichtliche Kosten entstanden sind.
Fundstellen
Haufe-Index 1654067 |
BSGE, 290 |