Entscheidungsstichwort (Thema)
Kernneurose
Leitsatz (redaktionell)
Für eine Berentung scheiden alle vorgetäuschten Störungen, die in Wirklichkeit auf Simulation oder Aggravation beruhen, und auch nur gelegentlich auftretende Störungen aus, ferner Störungen, die der Betroffene bei der ihm zuzumutenden Willensanspannung selbst sogleich oder doch bald überwinden kann. Den Rentenbewerber trifft die objektive Beweislast für das tatsächliche Vorliegen von seelischen Störungen, für ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und für ihre Auswirkung auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. März 1960 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren am 9. März 1913, seit 1948 in zweiter Ehe verheiratet, war von 1932 bis 1945 als Büroangestellte beschäftigt; im Jahre 1953 arbeitete sie kurze Zeit als Sekretärin einer Landtagsfraktion. Im Juni 1955 beantragte sie Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung wegen Berufsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Oktober 1956 ab, da die Arbeitsfähigkeit der Klägerin in ihrem Beruf noch nicht um mehr als die Hälfte herabgemindert sei. Die Klägerin erhob Klage. Das Sozialgericht (SG) Schleswig zog einen Arztbrief, Befundberichte über stationäre Behandlungen der Klägerin in mehreren Krankenhäusern und ärztliche Gutachten bei; es wies durch Urteil vom 27. März 1958 die Klage ab. Auf die Berufung der Klägerin hob das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) nach Beiziehung weiterer Gutachten durch Urteil vom 9. März 1960 das Urteil des SG auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juli 1955 an zu gewähren: Die Klägerin leide an einer Schilddrüsenvergrößerung mit Überfunktion der Schilddrüse geringen Ausmaßes, dieses Leiden habe keine wesentliche erwerbsmindernde Bedeutung; die Klägerin leide im wesentlichen an psychischen Störungen und außerdem in den Herbst- und Wintermonaten an Phasen depressiver Gestimmtheit, die mit einer extremen Hemmung des Denkens und Handelns einhergehen. Diese "Neurose" sei so tief in die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin eingedrungen, dass die Klägerin sich aus eigener Kraft nicht mehr von ihr befreien könne und keine Möglichkeit bestehe, diese Störungen mit Aussicht auf Besserung zu behandeln, es handele sich um eine sog. "Kernneurose" von Krankheitswert; die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei dadurch dauernd auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden Büroangestellten herabgesunken, zumal bereits eine starke Entwöhnung von der Büroarbeit bestehe; die Klägerin sei deshalb berufsunfähig im Sinne von § 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nF (idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -); ob die Klägerin in den Herbst- und Wintermonaten in ihrer Erwerbsfähigkeit noch weiter eingeschränkt und in dieser Zeit erwerbsunfähig sei, könne dahingestellt bleiben, da nur der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit streitig sei. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Beklagten am 3. Mai 1960 zugestellt.
Am 15. Mai 1960 legte die Beklagte Revision ein, sie beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Schleswig vom 27. März 1958 zurückzuweisen.
Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist begründete die Beklagte die Revision am 2. August 1960: Das LSG habe zu Unrecht das Leiden der Klägerin als eine "Kernneurose" angesehen; neurotische Störungen, die nicht als "Kernneurose" oder richtiger "Zwangsneurose" anzusehen seien, sondern - wie bei der Klägerin - auf einer allgemeinen seelischen Fehlhaltung beruhten, seien nicht einer "Krankheit oder anderen Gebrechen" oder einer "Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte" im Sinne von § 23 Abs. 2 AVG gleichzustellen, sie führten nicht zu einer objektiv feststellbaren Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit auch nicht zur Berufsunfähigkeit. Aber auch wenn, entgegen der Meinung der Beklagten, bei der Klägerin eine "Kernneurose" bestehen sollte, so habe das LSG nicht schematisch davon ausgehen dürfen, durch dieses Leiden werde die Erwerbsfähigkeit in dem in § 23 Abs. 2 AVG vorausgesetzten Ausmaß beeinträchtigt; der Begriff der Berufsunfähigkeit im Sinne von § 23 AVG umfasse außer den medizinischen auch ökonomische, soziologische und andere Elemente, die das LSG zu Unrecht nicht berücksichtigt habe. Die Klägerin sei selbst in den Herbst- und Wintermonaten nicht "berufsunfähig", weil sie auch in diesen Zeiten nicht an echten Depressionen leide; es handele sich um "einfühlbare Zustandsbilder", die die Klägerin mit ihrem Willen durchaus beherrschen könne; das LSG habe schließlich zu Unrecht die bei der Klägerin bestehende starke Entwöhnung von der Bürotätigkeit zumindest als Teilursache der Berufsunfähigkeit angesehen; Arbeitsentwöhnung zähle nicht zu den Merkmalen der Berufsunfähigkeit.
Während des Revisionsverfahrens beantragte die Klägerin im Februar 1962 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, auch diesen Antrag lehnte die Beklagte ab; Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg. Auf Grund eines in jenem Verfahren erstatteten Gutachtens erklärte sich die Beklagte jedoch in dem anhängigen Revisionsverfahren bereit, bei der Klägerin Berufsunfähigkeit ab Juli 1960 anzuerkennen und ihr ab 1. Juli 1960 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Sie beantragte nunmehr,
unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Schleswig vom 27. März 1958 insoweit zurückzuweisen, als mit ihr ein Rentenanspruch für die Zeit vor dem 1. Juli 1960 verfolgt wird.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist jedoch nicht begründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch die Frage, ob das LSG in dem Urteil vom 9. März 1960 die Beklagte zu Recht verurteilt hat, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit - auch - für die Zeit vom 1. Juli 1955 (Antragstellung) bis 30. Juni 1960 zu zahlen; die Beklagte hat den weitergehenden Revisionsantrag, den sie bei Einlegung der Revision gestellt hat, während des Revisionsverfahrens auf diese Zeit beschränkt, sie hat damit die Revision zurückgenommen, soweit sie gegen die Verurteilung zur Gewährung von Rente für die Zeit vom 1. Juli 1960 an gerichtet ist; insoweit ist das Urteil des LSG rechtskräftig geworden.
Die Frage, ob die Klägerin in der Zeit vom 1. Juli 1955 bis 30. Juni 1960 berufsunfähig gewesen ist, hat das LSG zwar zu Unrecht auch insoweit, als es sich dabei um die Zeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG (1. Januar 1957) handelt, nach neuem Recht, nämlich nach § 23 AVG nF beurteilt; da die Klage bereits am 1. Januar 1957 rechtshängig gewesen ist, ist diese Frage für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 nach § 27 AVG aF zu beurteilen (Art. 2 § 43 AnVNG, vgl. BSG 8, 31, 33 mit weiteren Hinweisen). Nach beiden Vorschriften kommt es darauf an, ob die Arbeitsfähigkeit (§ 27 aF) oder die Erwerbsfähigkeit (§ 23 aF) des Versicherten "infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte" herabgesunken ist. Das LSG hat die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit der Klägerin auch für die Zeit von Juli 1960 im Ergebnis zu Recht bejaht. Es hat festgestellt, bei der Klägerin habe - damals - eine "echte Basedow'sche Erkrankung" nicht vorgelegen, die Schilddrüsenvergrößerung mit Überfunktion nur geringen Ausmaßes, an der die Klägerin leide, habe keine wesentliche erwerbsmindernde Bedeutung gehabt, eine echte endogene Depression liege bei der Klägerin nicht vor, das Krankheitsbild sei auch nicht wesentlich durch die Klimax beeinflußt gewesen. Diese Feststellungen sind für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 SGG). Das LSG hat weiter festgestellt, die Klägerin leide überwiegend an psychischen Störungen, an einer sog. "Kernneurose", diese Neurose sei bereits so tief in das Innere der Klägerin, in ihre Persönlichkeitsstruktur eingedrungen, dass die Klägerin sich aus eigener Kraft nicht von ihr befreien könne und auch keine Möglichkeit bestehe, diese Störung mit Aussicht auf Besserung zu behandeln; insoweit ist das LSG im wesentlichen den Gutachtern Dr. O und Dr. N gefolgt. Die Beklagte hat mit der Revision zwar "bezweifelt", ob das LSG den Gutachtern Dr. N und Dr. O in der Beurteilung des Zustandes der Klägerin als einer "Kernneurose" habe folgen dürfen; ob die Rüge der Beklagten, das LSG habe insoweit bei Feststellung der medizinischen Tatsachen gegen § 128 SGG verstoßen, im Sinne von § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG hinreichend substantiiert ist - die Beklagte hat im wesentlichen hierzu nur allgemeine Ausführungen gemacht -, kann dahingestellt bleiben. Das LSG hat auf die Feststellung die Klägerin leide an einer "Kernneurose", zwar - wie sich auch aus der Begründung für die Zulassung der Revision ergibt - deshalb Wert gelegt, weil es aus dem Urteil des BSG vom 23. Oktober 1958 (SozR Nr. 11 zu § 1254 RVO aF) entnommen hat, dass nicht nur organische, auf neurotische Fehlhaltungen als Folgeerscheinungen zurückzuführende Störungen ("organische Folgekrankheiten"), sondern jedenfalls auch "Kernneurosen", z. B. Zwangs- und Sexualneurosen ... schon im Hinblick auf ihre Stellung in der Nähe echter geistiger Störungen für das Gebiet der Sozialversicherung "Krankheitswert" hätten und deshalb Berufsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung zu begründen vermögen. Darauf, ob der Zustand der Klägerin mit dem medizinischen Begriff der "Kernneurose" vom LSG richtig erfasst ist, kommt es aber für die Entscheidung über den Anspruch der Klägerin auf Rente nicht an. Das BSG hat in Fortführung der Rechtsprechung des 4. Senats aaO in mehreren Entscheidungen (vgl. Urteile vom 16. März 1962, SozR Nr. 15 zu § 1254 RVO aF; vom 7. April 1964, SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO; Urteile des erkennenden Senats vom 1. Juli 1964 - 11/1 RA 158/61 und 11/1 RA 186/61) klargestellt, dass Neurosen auch dann eine Krankheit im Rechtssinne sein können, wenn sie noch nicht den Grad der Psychose angenommen, zu "organischen Folgekrankheiten" noch nicht geführt haben und wenn es sich (noch) nicht um eine "Kernneurose mit Umstrukturierung der Persönlichkeit" handelt. Der erkennende Senat hat aaO ausgeführt, es sei daran festzuhalten, dass der Krankheitsbegriff in der Rentenversicherung bei Neurosen seelische (seelisch-bedingte) Störungen mitumfasst, die der Versicherte aus eigener Kraft nicht zu überwinden vermag; er hat sich mit den medizinischen und rechtlichen Bedenken, die auch im vorliegenden Falle von der Beklagten allgemein gegen diese Auffassung geltend gemacht sind, auseinandergesetzt. Auch nach der Überzeugung des Senats scheiden für eine "Berentung" alle vorgetäuschten "Störungen", die in Wirklichkeit aus Simulation oder Aggravation beruhen, und auch nur gelegentlich auftretende Störungen aus, ferner Störungen, die der Betroffene bei der ihm zuzumutenden Willensanspannung selbst sogleich oder doch bald (innerhalb eines halben Jahres, vgl. § 53 Abs. 1 AVG) überwinden kann; es bleiben selbstverständlich auch alle Neurosen außer Betracht, die - zusammen mit etwaigen anderen Gesundheitsstörungen - die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Versicherten nicht in dem vom Gesetz vorausgesetzten Ausmaß beeinträchtigen. Im Hinblick auf die "Simulationsnähe" zahlreicher Neurosen hat der Senat aaO - ebenso wie der 4. Senat in dem Urteil vom 7. April 1964 - auch besonders auf die Beweisanforderungen und die objektive Beweislast hingewiesen und dargelegt, den Rentenbewerber treffe die objektive Beweislast für das tatsächliche Vorliegen von seelischen Störungen, für ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und für ihre Auswirkung auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und es gehe zu Lasten des Rentenbewerbers, wenn das Gericht trotz sorgfältiger Ermittlungen und bei gebotener kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse eine Vortäuschung der Störungen, ihre Unüberwindbarkeit und ihre Unerheblichkeit für die Berufsfähigkeit nicht ausschließen könne. Er hat weiter ausgeführt, dass auch die Fälle, in denen zuverlässig - im Wege ärztlicher "Prognose" - gesagt werden könne, die Ablehnung der Rente werde bei dem betroffenen Versicherten die neurotischen Erscheinungen ohne weiteres verschwinden lassen, für eine "Berentung" ausscheiden und dass in Fällen, in denen nach der Überzeugung der ärztlichen Sachverständigen sog. "Rehabilitationsmaßnahmen" (Heilbehandlung, Berufsförderung und soziale Betreuung) Erfolg versprechen und dem Versicherten zumutbar sind, der Versicherungsträger befugt ist (§ 13 Abs. 1 AVG), zunächst solche Maßnahmen durchzuführen und daß deshalb, wenn in absehbarer Zeit mit einem Erfolg solcher Maßnahmen zu rechnen ist, allenfalls eine Rente auf Zeit (§ 53 AVG) in Betracht kommen kann.
Das LSG hat ohne Verstoß gegen Verfahrensvorschriften festgestellt, dass die Voraussetzungen, unter denen demnach ein Anspruch auf Rente wegen einer "Neurose" zu versagen ist, bei der Klägerin auch in den Jahren 1955 bis 1960 nicht vorgelegen haben; es hat für diese Feststellung ausreichende medizinische Unterlagen gehabt. Bereits der Facharzt für innere Krankheiten Dr. K hat im Oktober 1953 die Klägerin wegen "erheblicher psychischer Labilität mit Neigung zu Depressionen in die Städtischen Krankenanstalten Kiel eingewiesen; im August 1956 haben die Internisten Prof. Dr. V und Dr. K eine "hochgradige Labilität des vegetativen Nervensystems" angenommen, im Juni 1959 hat Regierungsmedizinalrat Dr H (Internist) eine echte Hyperthyreose und typische Symptome einer Neurose, die "primär nichts mit einem Rentenwunsch zu tun habe" und psychotherapeutische Behandlung erfordere, festgestellt. Dr. O von der Abteilung für Psychotherapie des Landeskrankenhauses Schleswig hat im Oktober 1959 bei der Klägerin Gesundheitsstörungen psychischer Art (seelische Gesundheitsstörungen) festgestellt, die im wesentlichen auf ein organisches Psychosyndrom und eine neurotische Fehlhaltung zurückzuführen seien, die Erwerbsfähigkeit dauernd beeinflussen und die Klägerin nach seiner Meinung unfähig machen, den Anforderungen einer ihrer Ausbildung entsprechenden Berufstätigkeit als Büroangestellte zu genügen; übereinstimmend mit Dr. O hat auch der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N im März 1960 die Auffassung vertreten, es handele sich um eine tief in die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin eingreifende Neurose, die wenig Hoffnung auf Besserung durch psychotherapeutische Behandlung zulasse. Kein Gutachter hat in Zweifel gezogen, dass die Klägerin subjektiv an seelischen Störungen erheblichen Ausmaßes leide und kein Gutachter hat Simulation oder bewusste Übertreibung (Aggravation) angenommen. Die zahlreichen ärztlichen Gutachten haben dem LSG auch keinen Anlass gegeben für die Annahme, dass in dem noch streitigen Zeitraum eine zuverlässige Prognose für eine günstige Beeinflussung des Zustandes der Klägerin durch Rehabilitationsmaßnahmen habe gestellt werden können oder dass im Jahre 1955 etwa eine "begründete Aussicht" auf Behebung des Zustandes der Klägerin "in absehbarer Zeit" bestanden hätte und deshalb nur die Voraussetzungen für die Gewährung von Rente "auf Zeit" (§ 53 Abs. 1 AVG) vorgelegen hätten. Auf Grund der Gutachten von Dr. O und Dr. N hat das LSG auch davon überzeugt sein dürfen, die Klägerin verfüge nicht mehr über die Kraft, um ihre seelische Fehlhaltung zu überwinden. Das LSG hat nicht verkannt, dass sich die ärztlichen Gutachter in der Beurteilung der weiteren Frage, ob die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in ihrem Beruf als Büroangestellte und in verweisbaren Tätigkeiten in der streitigen Zeit infolge ihres körperlichen und seelischen Zustandes auf weniger als die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken gewesen ist, allerdings nicht einig gewesen sind. Die Internisten Prof. Dr. V und Dr. K, Dr. St und Dr. T sowie Dr. I haben diese Frage verneint, sie sind dabei aber im wesentlichen von den nach ihrer Auffassung damals für die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht bedeutsamen organischen und von den organisch bedingten seelischen Störungen ausgegangen und haben die von organischen Leiden unabhängigen seelisch bedingten Hemmungen - von dem medizinischen Standpunkt dieser Gutachter aus verständlich - nicht ausreichend in ihre Stellungnahme einbezogen. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N ist ebenfalls die Auffassung vertreten, die Klägerin sei nicht berufsunfähig; auch er ist zu dieser Meinung aber deshalb gekommen, weil er den seelischen Störungen der Klägerin, die auch er für erheblich und von dem Willen der Klägerin nicht beeinflussbar angesehen hat, aus allgemeinen medizinischen Erwägungen keinen "Krankheitswert" beimißt; das LSG ist ihm in dieser Betrachtungsweise sowohl in medizinischer als auch in rechtlicher Hinsicht nach der Überzeugung des Senats zu Recht nicht gefolgt. Das LSG ist aber nicht etwa, wie die Beklagte meint, allein deshalb, weil es übereinstimmend mit Dr. O und Dr. N das Leiden der Klägerin als "Kernneurose" und als Krankheit im medizinischen und rechtlichen Sinne angesehen hat, zu der Feststellung gelangt, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei in dem in § 23 Abs. 2 AVG vorausgesetzten Umfang beeinträchtigt; es ist zu dieser Ansicht vielmehr auf Grund der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens, insbesondere des Gutachtens von Dr. O gekommen. Da Dr. O die Klägerin zur Ausübung des Berufs einer Büroangestellten nach den von ihm durchgeführten Testverfahren als "dauernd nicht fähig", also auch nicht als in eingeschränktem Umfang fähig angesehen hat, weil ihr die für diesen Beruf erforderliche Spannkraft, Ausgeglichenheit, innere Sammlung und weitgehend das Altgedächtnis fehle, hat das LSG zu der Feststellung gelangen dürfen, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei in diesem Beruf auch in jener Zeit auf weniger als die Hälfte einer vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken gewesen, es hat zu dieser Ansicht auch dann kommen dürfen, wenn es sich, worauf verschiedene Gutachter hingewiesen haben, bei der Klägerin um "wechselnde Zustandsbilder" - gehandelt hat und ihre seelische Fehlhaltung nicht stets gleichmäßig stark in Erscheinung getreten ist. Dr. O hat nicht etwa, wie die Beklagte meint, einen die Berufunfähigkeit der Klägerin begründenden Zustand nur für die Herbst- und Wintermonate bejaht, in denen nach seiner Überzeugung Phasen depressiver Gestimmtheit "mit einer extremen Hemmung des Denkens und Handelns einhergehen", er hat vielmehr psychische Übererregbarkeit, Antriebsüberschuss und Schwäche des Altgedächtnisses als konstante Beschwerden dargelegt und nur die Frage offengelassen, ob die Klägerin in den Herbst- und Wintermonaten nicht etwa "erwerbsunfähig" sei. Das LSG hat den Gutachten von Dr. O und Dr. N auch dann folgen dürfen, wenn andere Gutachter sowohl in der Diagnose als auch in der - von der Diagnose in solchen Fällen schwer zu trennenden - Beurteilung des Einflusses des Zustandes der Klägerin auf ihre Erwerbsfähigkeit und das Ausmaß der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit anderer Ansicht gewesen sind. Es hat sich mit den verschiedenen ärztlichen Gutachten auseinandergesetzt und dargelegt, warum es im wesentlichen der Auffassung von Dr. O gefolgt ist. Die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen (§ 128 SGG; BSG 2, 236 ff), hat das LSG insoweit nicht überschritten. Es trifft schließlich auch nicht zu, dass das LSG bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin zu Unrecht "die starke Entwöhnung von der Büroarbeit" berücksichtigt habe. Das LSG hat, wenn es ebenso wie Dr. O auf die Entwöhnung von der Büroarbeit, die bei der Klägerin infolge der Nichtausübung ihres Berufes von 1945 bis mindestens 1953 eingetreten ist, hingewiesen hat, erkennbar nur zum Ausdruck bringen wollen, dass der seelische Zustand der Klägerin, der die Ausübung des Berufs einer Büroangestellten ohnehin ausschließe, dies umsomehr tue, als die Klägerin im Jahre 1953 oder später auch noch die Schwierigkeiten zu überwinden gehabt habe, die ein gesunder Versicherter nach langer Unterbrechung seiner Berufstätigkeit überwinden muss. Das Urteil des LSG lässt nicht den Schluss zu, es habe - zu Unrecht - in der Entwöhnung der Klägerin von der Büroarbeit eine wesentliche Bedingung oder überhaupt eine Bedingung für den Zustand der Berufsunfähigkeit gesehen.
Da das Urteil des LSG sonach weder in verfahrensrechtlicher Hinsicht noch hinsichtlich der Anwendung des materiellen Rechts zu beanstanden ist, ist die Revision der Beklagten unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen