Leitsatz (amtlich)
Wer bereits am Beginn des vereinbarten Tages des Arbeitsantritts zur Verrichtung der im Arbeits-(Ausbildungs-)vertrag vorgesehenen Beschäftigung nicht fähig ist, und die Beschäftigung nicht aufnimmt, tritt nicht in die versicherungspflichtige Beschäftigung ein (§ 306 Abs 1 RVO).
Orientierungssatz
Die Mitgliedschaft von Personen, die zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt werden, beginnt nach § 306 Abs 1 RVO mit dem Tag des Eintritts in die versicherungspflichtige Beschäftigung.
Normenkette
RVO § 165 Abs 1, § 206 Fassung: 1924-12-15, § 306 Abs 1 Fassung: 1975-06-24
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 27.02.1980; Aktenzeichen L 4 Kr 54/78) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 27.04.1978; Aktenzeichen S 7 Kr 85/76) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, der bereits bei Beginn des Tages der vereinbarten Aufnahme seiner Ausbildung arbeitsunfähig war, einen Krankengeldanspruch gegen die Beklagte hat.
Der 1959 geborene Kläger war seit dem 1. Juli 197ö als Bezieher einer Waisenrente bei der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse versichert. Zum 1. September 1976 wurde er als von seinem zukünftigen Arbeitgeber versicherungspflichtiger Auszubildender bei der beklagten Innungskrankenkasse angemeldet. Er konnte aber die Ausbildung an diesem Tag nicht aufnehmen, weil er seit dem 28. oder 31. August 1976 wegen akuter Hepatitis arbeitsunfähig krank war. Mit Schreiben vom 1. September 1976 übersandte der Pflegevater des Klägers dessen Arbeitspapiere der Ausbildungsfirma und entschuldigte zugleich sein Fernbleiben. Die Ausbildung begann der Kläger erst am 1. Dezember 1976. Die Beklagte nahm die vom Arbeitgeber für die Zeit vom 1. September bis zum 12. Oktober 1976 gezahlten Beiträge unbeanstandet an. Am 20. Oktober 1976 erklärte sie gegenüber dem Kläger, das Ausbildungsverhältnis unterliege vorerst nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Daher sei keine Mitgliedschaft und kein Leistungsanspruch gegen sie entstanden. Den Widerspruch des Klägers dagegen wies sie zurück. Die Beklagte übernahm zwar als vorläufige Leistung nach § 43 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - die Krankenhauskosten und die Kosten der Krankenpflege, lehnte aber die Gewährung von Krankengeld ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) M nach § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beigeladen und die gegen die Beklagte auf Gewährung von Leistungen gerichtete Klage abgewiesen. In den Gründen des Urteils ist ausgeführt, leistungspflichtig sei die Beigeladene. Die vom SG zugelassene Berufung der Beigeladenen gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen und ausgeführt, die Beklagte sei nicht leistungspflichtig, da der Kläger nicht ihr Mitglied geworden sei. Nach § 306 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beginne die Mitgliedschaft mit dem Tag des Eintritts in die versicherungspflichtige Beschäftigung bzw in das versicherungspflichtige Ausbildungsverhältnis. Der Kläger habe aber nicht in das Ausbildungsverhältnis eintreten können, da er bereits vorher arbeitsunfähig geworden sei. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 26, 124 trete der Arbeitnehmer allerdings in die versicherungspflichtige Beschäftigung auch dann ein, wenn er an dem für den Dienstantritt vereinbarten Tag durch eine Erkrankung gehindert sei, die Arbeit aufzunehmen. Das Urteil sei aber dahin zu verstehen, daß es für den Beginn der Mitgliedschaft nur genüge, wenn die Arbeitsunfähigkeit am vereinbarten Tag des Beschäftigungsbeginns eintrete.
Die Beigeladene hat Revision eingelegt und macht geltend, nach dem Urteil des BSG vom 22. November 1968 - 3 RK 9/67 - (= BSGE 29, 30) beginne die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung auch dann, wenn der Arbeitnehmer schon vor diesem Tag arbeitsunfähig gewesen sei. Es genüge, daß er sich der Direktionsbefugnis des Arbeitgebers unterstelle und die Parteien erkennbar am Vertrag festhalten wollen. Rechtserheblich sei nach der Rechtsprechung des BSG auch, daß ein Anspruch auf Fortzahlung der vereinbarten Vergütung bestanden habe. Es bestehe kein überzeugender Grund für die Besserstellung von Arbeitnehmern, die am Tag des vereinbarten Arbeitsbeginns erkranken, gegenüber solchen, deren Krankheit bereits einen Tag vorher eingetreten sei. Die Verneinung des Versicherungsschutzes bei einem sogenannten mißglückten Arbeitsversuch ergebe sich aus der Notwendigkeit einer Mißbrauchsabwehr und daraus, daß niemand Mitglied der Versichertengemeinschaft werden kann, der von vornherein wegen Arbeitsunfähigkeit als Beitragszahler ausscheide. Der Gesichtspunkt des Mißbrauchs scheide beim Kläger aus, weil er Versicherungsschutz auch dann genieße, wenn die Beklagte nicht zuständig sei.
Die Beigeladene beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom
27. April 1978 und das Urteil des Bayerischen
Landessozialgerichts vom 27. Februar 1980
sowie den Bescheid der Beklagten vom
20. Oktober 1976 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 1976
aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte
ab 1. September 1976 der für die Krankenversicherung
des Klägers zuständige Versicherungsträger ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Der Kläger ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig. Der Revisionskläger ist als Beigeladener zur Einlegung von Rechtsmitteln befugt. Nach § 75 Abs 4 SGG kann der Beigeladene innerhalb der Anträge der anderen Beteiligten selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend machen und alle Verfahrenshandlungen wirksam vornehmen. Ein nach § 75 Abs 2 SGG Beigeladener wie die Revisionsklägerin kann auch abweichende Sachanträge stellen. Die erforderliche Beschwer ist gegeben, weil das Urteil des LSG für die Beigeladene ungünstig ist (BSGE 9, 250, 251). In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausdrücklich festgestellt, nicht die Beklagte, sondern die Beigeladene sei leistungspflichtig.
Die Revision ist indessen nicht begründet. Der Kläger hat für die fragliche Zeit gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Krankengeld, denn er ist nicht schon am 1. September 1976 ihr Mitglied geworden. Erst mit der Mitgliedschaft entsteht aber der Anspruch auf die Regelleistungen (§ 206 RVO).
Mitglieder der Innungskrankenkassen können die in den Betrieben, die der Innung angehören, beschäftigten Versicherungspflichtigen oder Versicherungsberechtigten sein (§ 250 Abs 1 und 3 RVO). Die Mitgliedschaft von Personen, die zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt werden, beginnt nach § 306 Abs 1 RVO mit dem Tag des Eintritts in die versicherungspflichtige Beschäftigung. Der Kläger ist am 1. September 1976 nicht in die versicherungspflichtige Beschäftigung (§ 165 Abs 1 Nr 1 iVm § 165a Nr 2 RVO) eingetreten.
Dem Eintritt des Klägers in die Beschäftigung hat entgegengestanden, daß er bereits bei Beginn des vereinbarten Tags des Dienstantritts zur Verrichtung der im Ausbildungsvertrag vorgesehenen Tätigkeit nicht fähig war. Wer bereits in dem frühesten Augenblick, der für die Arbeitsaufnahme in Betracht kommt, nach objektiver Feststellung arbeitsunfähig ist, tritt nicht in die Beschäftigung ein. Deshalb braucht im vorliegenden Fall, da der Kläger bereits bei Beginn des 1. September 1976 arbeitsunfähig war, nicht geklärt zu werden, wann im einzelnen eine Arbeitsaufnahme vorliegt. Der Rechtsgedanke, der diesem Ergebnis zugrundeliegt, findet seinen Ausdruck auch in der Rechtsprechung des BSG zum mißglückten Arbeitsversuch. Danach begründet ein mißglückter Arbeitsversuch keine Leistungsansprüche gegen die im Fall der Beschäftigung zuständige Krankenkasse. Ein mißglückter Arbeitsversuch liegt vor, wenn objektiv feststeht, daß der Beschäftigte bei Aufnahme der Arbeit zu ihrer Verrichtung nicht fähig war oder die Arbeit nur unter schwerwiegender Gefährdung seiner Gesundheit würde verrichten können und wenn er die Arbeit entsprechend der darauf zu gründenden Erwartung vor Ablauf einer wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit aufgegeben hat (BSG SozR 2200 § 165 RVO Nr 33 und 34 mwN). Mit der Rechtsfigur des mißglückten Arbeitsversuchs werden also nur Fälle erfaßt, bei denen der zu Versichernde anders als der Kläger die Arbeit tatsächlich aufgenommen hat. Der Grundsatz dieser Rechtsprechung, daß, wer bereits bei Aufnahme der Arbeit arbeitsunfähig ist, grundsätzlich kein Krankenversicherungsverhältnis begründet (BSG SozR 2200 § 165 RVO Nr 2 = KVRS 1020/13), muß aber erst recht gelten, wenn die Arbeit wegen der Arbeitsunfähigkeit überhaupt nicht aufgenommen wurde. War die Arbeit trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit tatsächlich aufgenommen, so entsteht lediglich die Frage, ob aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit die Versicherung wirksam wird. Darum geht es beim mißglückten Arbeitsversuch (BSG aaO). Der Kläger kann seinen Anspruch nicht auf einen Vertrauensschutz stützen. Arbeit hat er nicht verrichtet und aus der Beitragszahlung konnte sich ein Leistungsanspruch erst nach dreimonatiger unbeanstandeter Annahme der Beiträge ergeben (§ 213 RVO) - für den Kläger hat die Beklagte nur etwa sechs Wochen lang Beiträge angenommen.
Der Kläger ist schließlich auch nicht deshalb bereits am 1. September 1976 in die versicherungspflichtige Beschäftigung eingetreten, weil seine Arbeitsunfähigkeit nur bis zum 30. November 1976 gedauert hat. Selbst wenn die Arbeitsunfähigkeit deshalb als vorübergehend bezeichnet werden könnte, wäre der Kläger nicht Mitglied der Beklagten geworden. Es geht in seinem Fall um die Frage, ob er am 1. September 1976 in die Beschäftigung eingetreten ist. Die Arbeitsfähigkeit muß in dem Augenblick bestanden haben, in dem der Arbeitnehmer die übrigen Voraussetzungen für das Tatbestandsmerkmal des Eintritts in die Beschäftigung erfüllt hat. Arbeitsfähigkeit wird für einen bestimmten Augenblick verlangt; dem würde es widersprechen, wenn nur eine dauernde Arbeitsunfähigkeit dem Anspruch entgegenstehen würde. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum der Arbeitnehmer trotz einer - wenn auch nur vorübergehenden - Arbeitsunfähigkeit sollte in die Beschäftigung eintreten können. Nur im Rahmen von bestehenden Dauerrechtsverhältnissen kann es eine Rolle spielen, ob Ereignisse, die ihr Fortbestehen beeinträchtigen könnten, vorübergehend und deshalb im Verhältnis zur Dauer des Rechtsverhältnisses unerheblich sind. Auf ein weiteres Bedenken hat der Senat bereits hingewiesen: Ob die Arbeitsunfähigkeit eine dauernde oder eine nur vorübergehende ist, wird häufig nicht leicht zu entscheiden sein; auch kann eine zunächst nur vorübergehende Arbeitsunfähigkeit im Laufe der Erkrankung in eine dauernde übergehen, während die Frage der Leistungspflicht der Krankenkasse alsbald nach Eintritt des Versicherungsfalles geklärt werden muß (BSG SozR RVO § 165 Nr 75 = KVRS 1020/12). Die Rechtslage mag anders sein, wenn der Arbeitnehmer nach dem vereinbarten Beginn der Beschäftigung nur für ganz kurze Zeit arbeitsunfähig ist.
Ein Krankenversicherungsschutz bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit schon vor dem vereinbarten Tag des Dienstantritts rechtfertigt sich auch nicht aus einem besonderen Schutzbedürfnis in diesen Fällen. Oft wird der vorher bestehende Versicherungsschutz erhalten bleiben, wenn der bisher Versicherte nicht Mitglied der für das neue Beschäftigungsverhältnis zuständigen Kasse wird. So erlischt nach § 312 Abs 1 RVO die Mitgliedschaft erst, wenn der Versicherte Mitglied einer anderen Kasse wird. In den Fällen des § 312 Abs 3 bis 6 RVO hat dagegen der Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen, daß der Versicherungsschutz mit dem ihn begründenden Rechtsverhältnis ohne weiteres wegfällt, auch wenn kein neuer Versicherungsschutz besteht.
Das Urteil steht nicht im Widerspruch zur Entscheidung des Senats vom 28. Februar 1967 - 3 RK 17/65 - (= BSGE 26, 124). Wie das LSG mit Recht hervorgehoben hat, war die Anspruchstellerin im damaligen Fall zu Beginn des Tages des vereinbarten Dienstantritts noch arbeitsfähig. Arbeitsunfähig wurde sie erst durch einen Unfall auf dem Weg zur Arbeitsstelle. Gerade aus dem Umstand, daß die Verletzte den Weg zur Arbeitsstelle schon angetreten hatte, hat der Senat geschlossen, sie habe dem Arbeitgeber zur Verfügung gestanden. Der Kläger war hingegen schon vor Beginn des Tages, an dem er das Ausbildungsverhältnis antreten sollte, arbeitsunfähig.
Das Urteil weicht schließlich auch nicht von der Entscheidung des 8. Senats des BSG vom 28. Juni 1979 - 8b/3 RK 80/77 - (= BSGE 48, 235) ab. Allerdings hat der 8. Senat darin ausgesprochen, es stehe dem Beginn der Mitgliedschaft bei der zuständigen Krankenkasse nicht entgegen, daß der Versicherte im Zeitpunkt des vereinbarten Beginns der Beschäftigung arbeitsunfähig ist; der Eintritt in die versicherungspflichtige Beschäftigung erfolge nicht grundsätzlich erst mit der tatsächlichen Arbeitsaufnahme. Es genüge, daß sich der Arbeitnehmer der Verfügungsmacht des Arbeitgebers unterstellt. Der 8. Senat hat aber entscheidend darauf abgestellt, daß der arbeitsunfähige Arbeitnehmer schon vor der vorgesehenen Aufnahme der Beschäftigung im selben Betrieb als Auszubildender beschäftigt war und die Vertragsparteien die Zugehörigkeit zum Betrieb in Kenntnis der Arbeitsunfähigkeit ohne Unterbrechung fortsetzen wollten. Damit sei der Arbeitnehmer dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterstellt geblieben. Nach den vom 8. Senat in Bezug genommenen Urteilen liegt eine solche Unterstellung schon vor, wenn der vertragsgebundene Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine Arbeitspapiere übersendet und dieser von seinem Dispositionsrecht in der Weise Gebrauch macht, daß er ihn von der Arbeit freistellt (BSGE 36, 161, 164); aufgrund seiner Verfügungsmacht handelt der Arbeitgeber nach dieser Rechtsprechung auch, wenn er den Arbeitnehmer nur anweist, ein ärztliches Attest vorzulegen (BSGE 26, 124, 126). Das BSG hat aber in beiden Urteilen auf diese Ausführungen nicht seine Entscheidung gestützt.
Dagegen hat das BSG in keinem Fall ausgesprochen, daß auch ein vor Beginn des vereinbarten Beschäftigungsverhältnisses nicht beschäftigter und vor diesem Zeitpunkt und weiterhin arbeitsunfähiger Arbeitnehmer das Beschäftigungsverhältnis mit dem Beginn des Tages des vereinbarten Dienstantritts aufnehme. Versicherungsschutz kann er in diesen Fällen vielmehr nur erwerben, wenn er trotz Arbeitsunfähigkeit tatsächlich eine wirtschaftlich ins Gewicht fallende Zeit gearbeitet hat.
Aus allen diesen Gründen ist die Revision mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen. Eine Erstattung von Kosten des Klägers kommt nicht in Betracht, da er im Revisionsverfahren nicht vertreten war.
Fundstellen
Haufe-Index 1658729 |
Breith. 1982, 281 |