Orientierungssatz

Zum Begriff "Schul- und Berufsausbildung" iS des AVG § 44 Abs 1 S 2 = RVO § 1267 (hier: Vorbereitung auf eine Prüfung für Bühnenreife durch einen privaten Schauspielunterricht von 2 Wochenstunden und durch Selbststudium).

 

Normenkette

AVG § 44 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 27. Juli 1962 und des Sozialgerichts Berlin vom 3. April 1962 werden aufgehoben; die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin, geboren am 18. Oktober 1941, erhielt bis zum 31. Oktober 1959 Waisenrente aus der Angestelltenversicherung (AnV) ihres Vaters. Sie beantragte im November 1959, ihr die Waisenrente über die Vollendung ihres 18. Lebensjahres hinaus zu gewähren, weil sie sich seit November 1959 in der Berufsausbildung als Schauspielerin befinde; sie legte eine Bescheinigung der Schauspielerin und Bühnenpädagogin, Frau G, vor, nach der die Klägerin wöchentlich 2 Stunden Schauspielunterricht erhält.

Die Beklagte lehnte die Weitergewährung der Waisenrente mit Bescheid vom 29. Dezember 1959 ab, weil die Ausbildung die Zeit und die Arbeitskraft der Klägerin nicht ganz oder überwiegend in Anspruch nehme und sie nicht daran hindere, einem Lohnerwerb nachzugehen.

Mit der Klage machte die Klägerin geltend, sie sei aus wirtschaftlichen Gründen genötigt, neben ihrer Schauspielausbildung erwerbstätig zu sein; sie sei seit April 1960 als Würstchenverkäuferin bei der Firma K mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von rund 48 Stunden tätig; für ihre Schauspielausbildung, d. h. zur Vorbereitung auf eine Prüfung vor der "paritätischen Prüfungskommission der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger" sei neben den 2 Unterrichtsstunden wöchentlich ein intensives Studium zu Hause nötig.

Das Sozialgericht (SG) Berlin holte über die Frage der Ausbildung für den Bühnenberuf Auskünfte von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger, von der Leiterin der M-Schule, Frau K, und von dem Senator für Volksbildung ein, außerdem noch ein Gutachten des geschäftsführenden Vorsitzenden der "paritätischen Prüfungskommission der Genossenschaft der Deutschen Bühnen-Angehörigen".

Das SG hob den Bescheid der Beklagten vom 29. Dezember 1959 auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin über den 31. Oktober 1959 hinaus Waisenrente zu gewähren (Urteil vom 3. April 1962).

Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) Berlin mit Urteil vom 27. Juli 1962 zurück: Die Klägerin betreibe ein fachlich ausreichendes Studium, um Schauspielerin zu werden; sie erfülle die Mindestvoraussetzungen für die Erlangung ihres Berufszieles; die Klägerin sei zwar mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden und einem monatlichen Arbeitseinkommen von etwa 400,- DM voll erwerbstätig und die herrschende Rechtsprechung habe den Standpunkt eingenommen, daß die Berufsausbildung, von der nach dem Gesetz die Waisenrente abhänge, die Zeit und Arbeitskraft der Waise ganz und überwiegend in Anspruch nehmen müsse: es würde jedoch dem Zweck des § 44 Abs. 2 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) widersprechen, der Klägerin die Waisenrente zu versagen, weil sie aus wirtschaftlichen Gründen neben ihrer Berufsausbildung einer Erwerbstätigkeit nachgehen müsse.

Das LSG ließ die Revision zu.

Das Urteil wurde der Beklagten am 21. August 1962 zugestellt, die Beklagte legte am 7. September 1962 Revision ein; sie beantragte,

das Urteil des LSG Berlin und das Urteil des SG Berlin aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 9. November 1962. Sie rügte, das LSG habe die Vorschrift des § 44 AVG verletzt.

Die Klägerin beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 i. V. m. §§ 153 Abs. 1 und 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II.

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.

Streitig ist, ob sich die Klägerin in Schul- oder Berufsausbildung i. S. des § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG befindet und ihr deshalb die Waisenrente über den Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres zusteht.

Der vom LSG festgestellte Sachverhalt rechtfertigt - entgegen der Auffassung des LSG - nicht die rechtliche Schlußfolgerung, daß die Klägerin einen Anspruch auf die Waisenrente nach § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG hat.

Schul- oder Berufsausbildung i. S. des § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG liegt nur vor, wenn die Ausbildung Zeit und Arbeitskraft der Waise ausschließlich oder überwiegend beansprucht. An diesem bereits von dem früheren Reichsversicherungsamt (RVA) aufgestellten Erfordernis für die Annahme von Schul- oder Berufsausbildung i. S. der Vorschriften über den Anspruch auf die sog. verlängerte Waisenrente oder den verlängerten Kinderzuschuß (§§ 44 Abs. 1 Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 2 AVG) haben der 4. und 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) für die dem § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG entsprechende Vorschrift des § 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) festgehalten (BSG 14, 285, 287 mit weiteren Hinweisen; Urteil vom 31. Oktober 1962, 12 RJ 328/61). Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung bereits in seinem Urteil vom 1. Juli 1964 - 11/1 RA 170/59 - (Soz. Recht Nr. 13 zu § 1267 RVO) angeschlossen; er sieht auch nach erneuter Prüfung der Rechtslage keinen Grund, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.

Sinn und Zweck der in den §§ 44 Abs. 1 Satz 2 und 39 Abs. 3 Satz 2 AVG getroffenen Regelungen über den verlängerten Anspruch auf Waisenrente bzw. Kinderzuschuß gehen dahin, die Fälle zu erfassen, in denen das Kind - entgegen dem vom Gesetz angenommenen Regelfall - auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen ist, weil es sich nicht selbst durch Erwerbstätigkeit unterhalten kann, sei es, daß entweder die Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist (1. Alternative) oder daß Gebrechlichkeit vorliegt (2. Alternative). Zwar stellt das Gesetz nur bei der 2. Alternative ausdrücklich darauf ab, daß das Kind "infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande ist, sich selbst zu unterhalten", das gilt jedoch sinngemäß auch für die 1. Alternative; auch eine Schul- oder Berufsausbildung ist nur dann anspruchsbegründend und damit Schul- oder Berufsausbildung i. S. der §§ 44 Abs. 1 Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 2 AVG, wenn das Kind infolge dieser Ausbildung gehindert ist, sich selbst einen ausreichenden Unterhalt zu verdienen. Das aber ist nur dann der Fall, wenn Zeit und Arbeitskraft des Kindes durch die Ausbildung ausschließlich oder überwiegend in Anspruch genommen werden, weil es nur dann dem Kind regelmäßig unmöglich sein wird, sich durch eine Erwerbstätigkeit außerhalb der für die Ausbildung erforderlichen Zeit selbst zu unterhalten (vgl. auch die Auslegung der vergleichbaren Vorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 2 des Kindergeldgesetzes - KGG - in dem Urteil des BSG vom 30. Juni 1964 - 7 RKG 4/62, Soz-Recht Nr. 12 zu § 2 KGG - ferner die Verwaltungsvorschriften - VVn - Nr. 11 und 12 zu den §§ 32 und 45 BVG a F und die VVn Nr. 12 zu den §§ 33 b und 45 BVG nF; ferner § 18 Abs. 2 des Bundesbesoldungsgesetzes - BBesG - vom 18. Dezember 1963 und die Urteile des BVerwG hierzu vom 17. Oktober 1963, Buchholz in BVerwG Nr. 6 zu § 18 BBesG und Nr. 1 zu BesG Rheinland-Pfalz).

Die Voraussetzungen für den Anspruch nach § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG sind danach nicht schon dann erfüllt, wenn die Klägerin, um Schauspielerin zu werden, ein fachlich ausreichendes Studium ernsthaft betreibt und damit die Mindestvoraussetzungen für die Erlangung ihres Berufszieles erfüllt; erforderlich ist vielmehr auch, daß die Ausbildung die Klägerin so beansprucht, daß es ihr nicht möglich ist, erwerbstätig zu sein und dadurch ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ist die Ausbildung nach Art und Umfang so gestaltet, daß sie die Klägerin nicht daran hindert, sich durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu unterhalten, so liegt keine Ausbildung i. S. des § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG vor (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 1. Juli 1964 - 11/1 RA 170/59 -). Die Ausbildung, der sich die Klägerin unterzieht, d. h. die Vorbereitung auf eine Prüfung für Bühnenreife durch einen privaten Schauspielunterricht von 2 Wochenstunden und durch Selbststudium entspricht danach nicht den Erfordernissen einer Ausbildung i. S. des § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG. Diese Art der Ausbildung für den Bühnenberuf soll es - anders als die Ausbildung durch den Besuch einer Schauspielschule - gerade auch Erwerbstätigen ermöglichen, ihr Berufsziel zu erreichen. Das wird auch durch das Gutachten des geschäftsführenden Vorsitzenden der paritätischen Prüfungskommission der Genossenschaft der Deutschen Bühnen-Angehörigen bestätigt; darin wird die Frage, ob der Studierende neben einer Ausbildung für den Bühnenberuf, wie sie die Klägerin betreibt, eine andere Berufstätigkeit ausüben kann, ausdrücklich bejaht; es wird auch zum Ausdruck gebracht, daß Erwerbstätigkeit des Studierenden neben dieser Art der Ausbildung die Regel sei. Die Klägerin kann daher trotz ihrer Ausbildung einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wie sie das auch tut; sie ist als Würstchenverkäuferin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden und einem Monatsverdienst von etwa 400,- DM voll erwerbstätig. Die Voraussetzungen für die Weitergewährung der Waisenrente nach § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG liegen danach nicht vor.

Die im wesentlichen auf sozialpolitischen Erwägungen beruhende abweichende Ansicht des LSG vermag nicht zu überzeugen. Der Gesetzgeber hat an der "herkömmlichen Auslegung", den der Begriff "Schul- oder Berufsausbildung" - i. S. der "verlängerten Leistungsansprüche" - im Sozialversicherungsrecht, im Versorgungsrecht und im öffentlichen Dienstrecht gefunden hat, offensichtlich nichts ändern wollen, sonst hätte er nicht in zahlreichen neuen Gesetzen die "einschlägigen Vorschriften" in ihrem alten Wortlaut aufrechterhalten (BSG 14, 285, 287; vgl. auch Urteile des BVerwG aaO). Wenn die Klägerin, wie sie meint, allein durch ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen ist, den angestrebten Beruf einer Schauspielerin neben ihrer Erwerbstätigkeit durch Privatunterricht und Selbststudium vorzubereiten, so kann dieser Erschwerung jedenfalls nicht dadurch Rechnung getragen werden, daß der Begriff Schul- oder Berufsausbildung in einer mit dem Gesetz nicht zu vereinbarenden Weise ausgedehnt wird. Die berufliche Förderung mittelloser, aber strebsamer und begabter Jugendlicher - über die Leistungspflicht der Versicherungsträger nach § 44 Abs. 1 Satz 1 AVG hinaus - ist eine allgemeine staatliche Aufgabe.

Das LSG und das SG haben danach die Rechtslage nicht zutreffend beurteilt und den Klageanspruch zu Unrecht als begründet angesehen; ihre Urteile sind daher aufzuheben; die Klage ist abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380343

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