Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhe der Krankenversicherungsbeiträge für freiwillig Versicherte in Härtefällen. kein Nulltarif zu Lasten der Solidargemeinschaft. notwendige Beiladung im Streitverfahren um Aufsichtsanordnung
Orientierungssatz
1. Die Beiträge der freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten dürfen auch nicht in Härtefällen unter die Grenze herabgesetzt werden, die sich aus dem Mindestgrundlohn nach § 180 Abs 4 S 1 RVO iVm § 385 Abs 1 S 1 RVO ergibt. Dies gilt auch für freiwillig Versicherte, die kein Arbeitsentgelt und keine sonstigen Einnahmen zum Lebensunterhalt haben.
2. Im Streitverfahren um eine Aufsichtsanordnung, durch die eine Kasse angewiesen wird, die Mindestgrenze nach § 180 Abs 4 S 1 iVm § 385 Abs 1 S 1 RVO in Zukunft einzuhalten, sind die davon betroffenen Versicherten nicht notwendig beizuladen.
3. Die Solidarität der Höherverdienenden mit den geringer Verdienenden gilt nur für bestimmte pflichtversicherte Personengruppen. Diejenigen, die das Gesetz nicht zur Solidargemeinschaft heranzieht, die sich ihre Versicherung also "kaufen" müssen, sind verpflichtet, für diese Versicherung einen Betrag zu zahlen, der einigermaßen ins Gewicht fällt. Für diejenigen, die auch den sich aus dem Mindestlohn ergebenden Mindestbetrag nicht zahlen können, hat nicht die Versichertengemeinschaft, sondern die Sozialhilfe einzutreten.
4. In diesem Verfahren ist nicht zu prüfen, ob der Ausschluß einkommensloser minderjähriger Kinder von der Familienkrankenhilfe durch Art 1 § 1 Nr 18 KVKG vom 27.6.1977 mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes vereinbar ist.
Normenkette
SGG § 75 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 176b Abs 1 Nr 2 Fassung: 1977-06-27, § 180 Abs 4 S 1 Fassung: 1977-06-27, § 180 Abs 4 S 3 Fassung: 1977-06-27, § 205 Abs 1 S 2 Fassung: 1977-06-27; SGB 4 § 87 Abs 1 Fassung: 1976-12-23; SGB 4 § 89 Abs 1 S 2 Fassung: 1976-12-23; RVO § 385 Abs 1 S 1 Fassung: 1976-12-23; GG Art 20 Abs 3 Fassung: 1949-05-23; KVKG Art 1 § 1 Nr 18 Fassung: 1977-06-27; SGG § 54 Abs 3 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 11.04.1980; Aktenzeichen L 1 S 6/79) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 17.05.1979; Aktenzeichen S 2 S 3/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, wie die Krankenversicherungsbeiträge zu berechnen sind, die freiwillig Versicherte zu zahlen haben, für die ein Grundlohn nicht zu ermitteln ist.
Die klagenden Allgemeinen Ortskrankenkassen meinen, sie seien nach § 180 Abs 4 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes (KVKG) vom 27. Juni 1977 - BGBl I 1069 - ermächtigt, den für die Berechnung der Beiträge maßgebenden (§ 385 Abs 1 RVO) Grundlohn unterhalb des Mindestgrundlohns des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO anzusetzen. Das beklagte Aufsichtsamt für Sozialversicherung als Aufsichtsbehörde nach § 91 Abs 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeine Vorschriften für die Sozialversicherung - vom 23. Dezember 1976 (SGB 4) - BGBl I 3845 - hält dem entgegen, § 180 Abs 1 Satz 1 RVO lege den Mindestgrundlohn nicht nur für freiwillig Versicherte fest, die Arbeitsentgelt oder sonstige Einnahmen zum Lebensunterhalt haben, sondern auch für freiwillig Versicherte, die keine Einkünfte haben. Diese Rechtsauffassung gab sie durch Rundverfügung vom 23. März 1978 den ihrer Aufsicht unterstellten Krankenkassen bekannt. Die klagenden Kassen beharrten jedoch auf ihrer Meinung und setzten auch dementsprechend den Grundlohn aus sozialen Gründen unterhalb des Mindestgrundlohns fest.
Durch Aufsichtsanordnungen vom 23. Oktober 1978 wies die Beklagte die Klägerinnen an, auch für die freiwillig Versicherten ohne Einkommen, bei denen sich kein Grundlohn ermitteln läßt, spätestens ab 1. Dezember 1978 Beiträge mindestens nach dem sich aus § 180 Abs 4 Satz 1 RVO ergebenden Mindestgrundlohn (damals 13,-- DM) zu erheben.
Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die gegen diese Aufsichtsanordnungen erhobenen Klagen verbunden und ihnen stattgegeben (Urteil vom 17. Mai 1979). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat der Berufung der Beklagten stattgegeben und die Klagen abgewiesen (Urteil vom 11. April 1980).
Die Klägerinnen haben die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügen eine Verletzung des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO.
Sie beantragen,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG
vom 11. April 1980 aufzuheben und die Berufung
des Beklagten gegen das Urteil des SG Itzehoe
vom 17. Mai 1979 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Die Sachurteilsvoraussetzungen sind gegeben. Die Klage ist zulässig. Die Klägerinnen können mit der Anfechtungsklage Rechtsschutz gegen eine Anordnung der Aufsichtsbehörde mit der Behauptung begehren, diese Anordnung überschreite das Aufsichtsrecht (§ 54 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Die Versicherten, deren Grundlohnbestimmung zwischen den Beteiligten umstritten ist, müssen nicht notwendigerweise beigeladen werden. Sie sind an dem hier streitigen Rechtsverhältnis nicht so beteiligt, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (§ 75 Abs 2 SGG). Auch wenn durch dieses Gerichtsverfahren die Verpflichtung, einen anderen Grundlohn als bisher zu bestimmen, rechtskräftig wird, steht nicht fest, ob und wie diese Grundlohnbestimmung gegenüber den Versicherten mit der Folge höherer Beiträge durchgesetzt werden kann. Insbesondere bleibt offen, ob und inwieweit Vertrauensgrundsätze einer Erhöhung der Beiträge entgegenstehen.
Der Beklagte hat sein Aufsichtsrecht nicht überschritten. Die Klägerinnen verstoßen mit ihrer Praxis, bei Anwendung des § 180 Abs 4 Satz 3 RVO in bestimmten Fällen den Mindestgrundlohn nach § 180 Abs 4 Satz 1 RVO zu unterschreiten, gegen das Gesetz. § 180 Abs 4 Satz 1 RVO verbietet es nämlich ausnahmslos, einen niedrigeren Grundlohn zu bestimmen. Dabei kann es unentschieden bleiben, ob § 180 Abs 4 Satz 3 RVO überhaupt für Fälle gilt, in denen der Feststellung des Grundlohns keine Schwierigkeiten entgegenstehen und festgestellt werden kann, daß der Grundlohn Null DM beträgt.
Nach § 180 Abs 4 Satz 1 RVO gilt als Grundlohn für freiwillig Versicherte der auf den Kalendertag entfallende Teil des Arbeitsentgelts und sonstiger Einnahmen zum Lebensunterhalt bis zu einer bestimmten Höchstgrenze und bis zu einer bestimmten Mindestgrenze (nach dem KVKG ab 1. Juli 1977 der 150. Teil der Bezugsgröße, nach dem 21. Rentenanpassungsgesetz vom 25. Juni 1978 - BGBl I 1089 - ab 1. Januar 1979 13,-- DM und ab 1. Januar 1981 der 180. Teil der Bezugsgröße). Die Mindestgrenze ist nach dieser Vorschrift unbestritten auch dann einzuhalten, wenn das Arbeitsentgelt oder/und die sonstigen Einnahmen zum Lebensunterhalt wesentlich unter dieser Mindestgrenze liegen. Eine Differenzierung, die gerade bei geringer Verdienenden aus sozialen Gründen angebracht erscheinen könnte, wird nicht zugelassen. Da die Beiträge nach dem Grundlohn zu bemessen sind (§ 385 Abs 1 Satz 1 RVO), wird diesen freiwillig Versicherten zugemutet, für ihre Krankenversicherung mehr aufzubringen, als sie sich nach ihren Einkünften leisten können. Das Gesetz (§ 180 Abs 4 Satz 1 iVm § 385 Abs 1 Satz 1 RVO) bewertet das Interesse an einem angemessenen Verhältnis von Beitrag und Leistung bei diesem Personenkreis höher als das Interesse an einem angemessenen Verhältnis von Beitrag und Einkünften.
Die Solidarität der Höherverdienenden mit den geringer Verdienenden ist zwar schon immer in der Krankenversicherung ein tragender Grundsatz. Die Solidarität endet auch nicht immer bei denjenigen, die nur geringfügige Einkünfte haben, aus denen die Beiträge berechnet werden. Sie kann bei besonders schutzwürdigen Personengruppen (vgl §§ 168 RVO, 8 SGB 4) bis zur Versicherung annähernd zum "Nulltarif" führen. Die Solidarität gilt aber nur für bestimmte pflichtversicherte Personengruppen. Diejenigen, die das Gesetz nicht zur Solidargemeinschaft heranzieht, die sich ihre Versicherung also "kaufen" müssen, sind verpflichtet, für diese Versicherung einen Betrag zu zahlen, der einigermaßen ins Gewicht fällt. Für diejenigen, die auch den sich aus dem Mindestlohn ergebenden Mindestbetrag nicht zahlen können, hat nicht die Versichertengemeinschaft, sondern die Sozialhilfe einzutreten.
Es besteht kein Grund, diesen sich aus § 180 Abs 4 Satz 1 RVO ergebenden Gedanken bei denjenigen konsequent durchzuhalten, die nur geringfügige Einkünfte haben, und da aufzugeben, wo keine Einkünfte festzustellen sind. Es ist nicht Aufgabe der Krankenversicherung, gerade bei Anwendung des § 180 Abs 4 Satz 3 RVO sozialen Gründen in weiterem Umfang Geltung zu verschaffen, als dies § 180 Abs 4 Satz 1 RVO zuläßt. Es wäre unverständlich, das Verbot des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO, freiwillige Versicherungen nicht allzu billig zu "verkaufen", nur bei denjenigen gelten zu lassen, die noch geringfügige Einkünfte haben, und bei denjenigen unbeachtet zu lassen, die keine eigenen Einkünfte haben. Ein solches beschränktes Verbot würde dazu verführen, geringfügige Verdienstmöglichkeiten aufzugeben, nur um in den Genuß des "Nulltarifs" zu kommen.
Die Klägerinnen haben keine überzeugenden Gründe dafür angeführt, daß § 180 Abs 4 Satz 3 RVO unabhängig von § 180 Abs 4 Satz 1 RVO zu sehen sei. Der Hinweis darauf, daß für Pflichtversicherte die entsprechende Mindestgrenze des § 8 SGB 4 nicht gilt, besagt - wie oben ausgeführt - nichts.
Das Interesse der Klägerinnen, die Beiträge einkommensloser freiwillig Versicherter möglichst gering zu halten, ist allerdings aus einem Grund verständlich, den die Beteiligten nicht anführen: Es geht nämlich um die Versicherung vorwiegend von minderjährigen Kindern, die ohne die einschneidende Änderung des § 205 Abs 1 RVO durch das KVKG kostenlos durch die Familienkrankenhilfe versichert wären und vor Inkrafttreten des KVKG auch in der Weise versichert waren. Nach § 205 Abs 1 Satz 3 RVO idF des KVKG besteht für Kinder kein Anspruch auf Familienkrankenhilfe, "wenn der mit Kindern verwandte Ehegatte des Versicherten nicht Mitglied bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ist und sein Gesamteinkommen regelmäßig im Monat ein Zwölftel der Jahresarbeitsverdienstgrenze (§ 165 Abs 1 Nr 2 RVO) übersteigt und regelmäßig höher als das Gesamteinkommen des Versicherten ist".
Selbst wenn der Entzug des kostenlosen Versicherungsschutzes durch das KVKG - etwa wegen des entschädigungslosen Eingriffs in eine eigentumsähnliche Lage des Versicherten (Art 14 des Grundgesetzes; BSGE 41, 13, 14) oder wegen der Rückwirkung (vgl auch den Vorlagebeschluß des 1. Senats vom 23. April 1981 - 1 RA 111/79 zu § 1255a Satz 1 Nr 1 Satz 3 RVO idF des KVKG) - verfassungswidrig war, konnte die Frage der Verfassungswidrigkeit hier unentschieden bleiben. Denn die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufsichtsanordnung umfaßt nicht zugleich - wie bereits oben im Zusammenhang mit § 75 Abs 2 SGG ausgeführt ist - die Rechtmäßigkeit der Begründung einer freiwilligen Versicherung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 SGG.
Fundstellen