Entscheidungsstichwort (Thema)

Statthaftigkeit der Revision bei wesentlichem Verfahrensmangel. Grenzen der freien Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

1. Die Revision ist nach SGG § 162 Abs 1 Nr 2 statthaft, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt.

2. Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt auch darin, wenn das Gericht bei seiner Urteilsfindung die Grenzen der freien richterlicher Beweiswürdigung überschreitet, weil es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht vollständig berücksichtigt.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1958-08-23, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1958-08-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 11.07.1967)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 24.11.1965)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachse vom 11. Juli 1967 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger erlitt bei seiner Tätigkeit als Tischler im Betrieb seines Bruders A zwei Arbeitsunfälle, bei denen jeweils die rechte Wade betroffen wurde. Der erste ereignete sich Ende Oktober 1960, der zweite am 15. November 1960. Der erste Arbeitsunfall hinterließ keine Folgen. Am 27. November 1960 zeigte der Arbeitgeber des Klägers der Beklagten den Unfall vom 15. November 1960 mit folgenden Angaben an: Ein umfallendes Brett habe gegen die rechte Wade des Klägers geschlagen, wobei diese geprellt worden sei. Nach vier Tagen habe der Kläger eine Venenentzündung bekommen. Er habe seine Arbeit nicht sofort, sondern erst am 17. November 1970, 17 Uhr, eingestellt. Der praktische Arzt Dr. S, der den Kläger erstmals am 21. November 1960, 18 Uhr, untersuchte, führte in seinem Krankheitsbericht vom 23. Dezember 1960 aus, es habe eine Schwellung und Druckempfindlichkeit des rechten Unterschenkels bestanden; der Kläger sei bis 3. Dezember 1960 arbeitsunfähig gewesen. Am 14. Februar 1961 stellte sich der Kläger dem Facharzt für Chirurgie Dr. N in Alfeld vor und berichtete ihm über seinen Unfall vom 15. November 1960. Er gab an, es sei ihm eine Bohle gegen die rechte Wade geschlagen; wiederholte Arbeitsversuche nach 17-tägiger Arbeitsunfähigkeit seien negativ verlaufen, da der rechte Unterschenkel immer wieder angeschwollen sei. Dr. N stellte in seinem Durchgangsarztbericht eine Weichteilschwellung nach Wadenprellung rechts fest und schrieb den Kläger vom 11. Februar 1961 an arbeitsunfähig. Nach zwischenzeitlicher Behandlung durch Dr. S veranlaßte Dr. N wegen der noch bestehenden Wadenschwellung vom 23. Mai 1961 an eine stationäre Behandlung im Städtischen Krankenhaus A. Die dort durchgeführten Untersuchungen ergaben neben einer Zuckerkrankheit eine Thrombophlebitis migrans und eine wandernde Venenentzündung. Dr. N berichtete, es werde eine generalisierende Erkrankung angenommen. Der Arbeitgeber des Klägers erklärte während der von der Beklagten angestellten Ermittlungen am 25. Mai 1961, er habe den Unfall selbst nicht gesehen, sondern lediglich bemerkt, wie sich der Kläger seinen rechten Unterschenkel betrachtet habe; er habe sich nach Schilderung des Unfalls durch den Kläger die Wade selbst angesehen und lediglich eine schwache Rötung ohne sonstige Verletzungszeichen bemerkt. In einer von der Beklagten angeforderten gutachtlichen Stellungnahme vom 4. Juli 1961 führte der Leitende Arzt der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses S. in Bethel, Prof. Dr. von H, aus, es handle sich um eine traumatisch bedingte Venenentzündung. In einem Gutachten nach Aktenlage vom 30. September 1961 kam er mit der Begründung, daß die Verletzung geringfügig sei und der Kläger nach zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit vom 3. Dezember 1960 bis Februar 1961 wieder gearbeitet habe, zu dem Ergebnis, daß das Ereignis vom 15. November 1960 nicht als wesentliche Teilursache der später festgestellten Venenentzündung angesehen werden könne. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 17. Oktober 1961 den Anspruch des Klägers, ihm Rente und weitere Heilbehandlung zu gewähren, ab. Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Braunschweig durch Urteil vom 24. November 1965 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 11. Juli 1967 das erstinstanzliche Urteil abgeändert; es hat festgestellt, daß die Veränderungen am rechten Bein, insbesondere die venösen Durchblutungsstörungen, Folgen des Arbeitsunfalls vom 15. November 1960 seien und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Heilbehandlung und Unfallrente zu gewähren. In den Gründen hat das LSG ausgeführt: Nach den überzeugenden ärztlichen Gutachten sei davon auszugehen, daß die Wiedererkrankung des Klägers aufgrund eines thrombotischen Geschehens in der rechten Wade erfolgt sei. Die Wiedererkrankung sei auch wesentlich ursächlich durch das schädigende Ereignis vom 15. November 1960 bedingt worden. Aufgrund des im ersten Rechtszug eingeholten Gutachtens des Arztes Dr. P sei festzustellen, daß sich im rechten Bein eindeutig ein massiver thrombotischer Prozeß abgespielt habe, der nachgewiesenermaßen sowohl die tiefen Unterschenkelvenen wie auch die Knie- und Oberschenkelvenen beteiligt habe. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfallgeschehen und Wiedererkrankung am 11. Februar 1961 sei deshalb wahrscheinlich. Es könne weder dem im Verwaltungsverfahren von der Beklagten eingeholten Gutachten des Prof. Dr. von H noch dem vom SG gehörten Sachverständigen Dr. K gefolgt werden, die einen ursächlichen Zusammenhang ausgeschlossen hätten. Die Untersuchungen von Dr. P, dessen Gutachten von dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. K in vollem Umfang bestätigt worden sei, hätten eindeutig ergeben, daß der Kläger an keiner generalisierenden Erkrankung des Venensystems leide und sich das thrombotische Geschehen überwiegend in der von dem Unfall betroffenen rechten Wade abgespielt habe. Trotz der widersprechenden Angaben des Arbeitgebers des Klägers müsse als erwiesen angesehen werden, daß der Arbeitsunfall vom 15. November 1960 auch wesentliche Ursache der noch heute bestehenden und von Dr. P und Dr. K übereinstimmend festgestellten Krankheitserscheinungen gewesen sei. Immerhin sei der Schlag eines umfallenden Buchenbrettes vom 32 mm Stärke eine erhebliche Gewalteinwirkung auf die Wade, ohne daß es bei Tragen von Ober- und Unterbekleidung zu einer äußerlich sichtbaren Verletzung führen müsse.

Mit der vom LSG nicht zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt nicht hinreichend erforscht und zudem die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten. Zugleich habe es mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen und wegen der willkürlichen Beweiswürdigung auch bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Erkrankung des Klägers mit dem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt. Die Beklagte hält deshalb die Revision für statthaft. Sie sieht das Rechtsmittel auch als begründet an, weil nach ihrer Auffassung das Berufungsgericht bei fehlerfreier Beweiswürdigung zur Abweisung der Klage hätte kommen müssen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen.

Er hält die Revision für nicht statthaft, weil das angefochtene Urteil verfahrensfehlerfrei und ohne Verletzung der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm zustande gekommen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete (§§ 164, 166 SGG) Revision der Beklagten ist statthaft. Das LSG hat zwar das Rechtsmittel nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen. Es ist jedoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Nach dieser Vorschrift ist die Revision statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts in einer der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechenden Form gerügt ist und auch vorliegt (BSG 1, 150). Das ist hier der Fall.

Mit Recht rügt die Revision, das LSG habe seine richterliche Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet und deshalb § 128 Abs. 1 SGG verletzt. Das Berufungsgericht hat nämlich seine Feststellung, zwischen dem Unfallgeschehen vom 15. November 1960 und den in der Folgezeit beim Kläger aufgetretenen Krankheitserscheinungen bestehe ein ursächlicher Zusammenhang, zu Unrecht auf eine Übereinstimmung der vom SG gehörten Sachverständigen Dr. P und Dr. K in der Feststellung der Krankheitserscheinungen und ihrer Folgen zurückgeführt. Das LSG hat übersehen, daß Dr. K in seinem Gutachten vom 26. Juli 1965 einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und den Krankheitserscheinungen nur für den Fall angenommen hat, daß das Gericht feststelle, das herabfallende Brett habe an der rechten Wade des Klägers durch Prellung eine Wunde verursacht. Dr. K hat ausdrücklich hervorgehoben, daß auch er die erforderliche Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs in Übereinstimmung mit den Ausführungen des von der Beklagten im Verwaltungsverfahren gehörten Arztes Prof. Dr. von H in seinem Gutachten vom 30. September 1961 nicht hätte begründen können, wenn er von dem Sachverhalt hätte ausgehen müssen, daß der Unfall vom 15. November 1960 an der Wade des Klägers keine Wunde verursacht habe. Der Sachverständige Dr. P hat hingegen in seinem auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten vom 16. Juli 1962 den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallgeschehen und Krankheitserscheinungen auch schon für den Fall für wahrscheinlich gehalten, daß bei der Prellung der rechten Wade durch das herabfallende Brett keine Wunde bewirkt wurde. Damit ergebe sich aber, wie die Revision zutreffend gerügt hat, daß das LSG im angefochtenen Urteil (S. 9) zu Unrecht festgestellt hat, Dr. K bestätige das Gutachten von Dr. P "in vollem Umfange". Das Berufungsgericht hat damit bei seiner Überzeugungsbildung die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) überschritten, weil es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht vollständig berücksichtigt hat (BSG SozR Nr. 10 zu § 128 SGG).

Die somit nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthafte Revision der Beklagten ist auch begründet. Es läßt sich nicht ausschließen, daß bei einer verfahrensrechtlich fehlerfreien Beweiswürdigung eine für die Beklagte günstigere Entscheidung ergehen wird. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, ohne daß es noch eines Eingehens auf die von der Beklagten erhobenen weiteren Verfahrensrügen bedarf.

Da die bisher getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts über den Hergang des Unfalls und die Einzelheiten der Verletzung des Klägers, auf die es hier möglicherweise entscheidend ankommt, in der Sache selbst nicht ausreichen, muß der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird nach dem bisherigen Stand der Beweiserhebungen in erster Linie festzustellen haben, ob das Unfallereignis zu einer Wunde an der rechten Wade des Klägers geführt hat. Sollte es im Zusammenhang mit dieser Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, daß das Erscheinungsbild der Wade unmittelbar nach dem Unfall keinen sichern Schluß auf die Folgen des Schlages zuläßt, weil Ober- und Unterkleidung des Klägers es möglicherweise verhindert haben, daß die Wirkung des Schlages voll sichtbar geworden ist, so wird weiter zu klären sein, welche Bekleidung im einzelnen der Kläger getragen hat. Ob es danach einer erneuten Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen bedarf, wird das LSG nach eigenem Ermessen zu beurteilen haben.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens hat das LSG in dem abschließenden Urteil mitzuentscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654233

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