Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisungen im nichtrevisiblen Landesgesetz auf revisibles Gesetz. Revisibilität von Landesgesetzen

 

Orientierungssatz

1. In den Fällen, in denen ein nichtrevisibles Landesgesetz auf ein revisibles Gesetz verweist, ist angewendetes Gesetz grundsätzlich allein das nichtrevisible Landesgesetz. Eine Ausnahme ist nur dann zu machen, wenn das Landesgesetz die an sich revisible Vorschrift nicht als Landesrecht qualifiziert sehen will, sondern gerade als Bundesrecht übernehmen wollte.

2. Bei der Regelung des Art 1 Abs 1 ZPflG BY liegt keine Übereinstimmung mit Bundesrecht vor, die auf einem Rahmengesetz des Bundes beruht und der bewußt angestrebten Vereinheitlichung eines Rechtsgebietes dient.

3. Auch die Tatsache, daß andere Länder der Bundesrepublik Deutschland Gesetze zu Gunsten der Zivilblinden mit ähnlichem Wortlaut erlassen haben, führt nicht zur Revisibilität der in diesen Landesgesetzen enthaltenen Normen.

 

Normenkette

ZPflG BY Art 1 Abs 1 Fassung: 1982-10-01; SGG § 162

 

Verfahrensgang

SG Reutlingen (Entscheidung vom 22.10.1987; Aktenzeichen S 6 J 1696/86)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Zivilblindenpflegegeld nach Bayerischem Landesrecht für die Zeit von Oktober 1984 bis September 1986.

Der in K.         (Baden-Württemberg) wohnhafte Kläger, der dort auch mit seinem ersten Wohnsitz gemeldet war, nahm vom 4. Oktober 1984 bis Ende September 1986 an einer Umschulungsmaßnahme in V.            (Bayern) teil. Am 24. Juli 1986 stellte der Kläger bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) einen Antrag auf Gewährung von Zivilblindenpflegegeld. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 31. Juli 1986). Sie führte aus, der Kläger habe weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 4. Oktober 1984 bis 30. September 1986 Zivilblindenpflegegeld zu gewähren (Urteil vom 22. Oktober 1987). Der Kläger habe zumindest seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort seit Beginn der Umschulungsmaßnahme in V.            gehabt. Er habe aus eigenem Willen den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse sowohl in K.         (Baden-Württemberg) wie auch in V.            (Bayern) gehabt.

Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 30 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I). Der Kläger habe sich vom 4. Oktober 1984 bis 19. März 1986 in der blindentechnischen Grundausbildung für Rehabilitanden im Süddeutschen Rehabilitationswerk für erwachsene Blinde in V.            (Bayern) aufgehalten. Im Anschluß habe er am gleichen Ort bis zum 26. September 1986 einen blindenspezifischen Massagegrundkurs besucht. Die eigentliche Ausbildung zum Masseur sei sodann in der Rehabilitations- und Ausbildungsstätte für Massage in M.    erfolgt. Während der Grundausbildung im süddeutschen Rehabilitationswerk für erwachsene Blinde in V.         habe der Kläger seinen Wohnsitz in K.         beibehalten. Landesblindenhilfe habe er ursprünglich vom Landeswohlfahrtsverband Baden erhalten. Unter diesen Umständen unterfalle der Kläger nicht dem Bayerischen Zivilblindenpflegegesetz (ZPflG). Durch das Voranstellen des Begriffes "Wohnsitz" in Art 1 Abs 1 ZPflG habe der Gesetzgeber ausgedrückt, daß es auf den gewöhnlichen Aufenthalt nur ankomme, wenn die betreffende Person keinen Wohnsitz habe. Dagegen regele sich die Zuständigkeit eines Landes zur Leistung an Blinde nach dem Wohnsitz und nicht nach dem gewöhnlichen Aufenthalt, wenn der Betreute einen Wohnsitz habe. Bei anderer Betrachtung könne ein Blinder durch Verlegung seines Wohnsitzes bestimmen, nach welchem Landesrecht er Leistungen erhalten wolle. Mit dem annähernd zweijährigen Aufenthalt in Bayern habe der Kläger auch nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort genommen. Entscheidend sei, daß der Aufenthalt von vornherein zeitlich begrenzt gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Der Kläger und der Beigeladene halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision der Beklagten ist statthaft. Das SG hat die Sprungrevision zugelassen. An diese Entscheidung ist das Bundessozialgericht (BSG) gebunden (BSG SozR 1500 § 161 Nr 15); es hat nicht zu prüfen, ob das SG die Sprungrevision zu Recht zugelassen hat. Die Sprungrevision ist auch mit der erforderlichen Zustimmung des Gegners form- und fristgerecht eingelegt worden und damit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Die Rechtsfragen, um die es im vorliegenden Rechtsstreit geht, folgen aus Landesrecht. Gemäß § 162 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist Landesrecht jedoch nicht revisibel.

Das SG hat den Anspruch des Klägers gegen die Beklagte aufgrund des Bayerischen Gesetzes über die Gewährung von Pflegegeld an Zivilblinde vom 1. Oktober 1982 (ZPflG) - Bayer. Gesetz und Verordnungsblatt 1982 S 868; inzwischen ersetzt durch Gesetz vom 25. Januar 1989, Bayer. Gesetz und Verordnungsblatt 1989 S 21 - bejaht. Die allgemeinen Voraussetzungen des Anspruchs, der sich auf Landesrecht stützt, können damit vom Revisionsgericht nicht überprüft werden. Dasselbe gilt auch für das Tatbestandsmerkmal, mit dem das Gesetz den berechtigten Personenkreis bestimmt.

Art 1 Abs 1 Bayer. ZPflG beschränkt den Anspruch auf Zivilblindenpflegegeld auf Personen, die "ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" in Bayern haben. Art 4 Abs 2 Bayer. ZPflG bestimmt, daß in Angelegenheiten des Gesetzes das Erste und das Zehnte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB I und SGB X) und die Vorschriften des SGG über das Vorverfahren entsprechende Anwendung finden. Die Formulierung "ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" wird auch in § 30 Abs 1 SGB I gebraucht. Aus dieser Übereinstimmung ist allerdings nicht zu folgern, daß die Regelung des Art 1 Abs 1 Bayer. ZPflG damit seine Qualität als nichtrevisibles Landesrecht verloren hat. Es mag zwar durchaus sein, daß ein Landesgesetzgeber dann, wenn er dieselben Worte wie in einem Bundesgesetz verwendet und zusätzlich ausdrücklich auf dieses Bundesgesetz Bezug nimmt, die wortidentische Tatbestandsfassung des Landesgesetzes inhaltlich genauso verstanden wissen will, wie sie in dem Bundesgesetz zu verstehen ist. Das besagt aber noch nicht, daß er zugleich den Willen hatte, damit Bundesrecht unter Beibehaltung seines Charakters als Bundesrecht in sein Landesgesetz aufzunehmen.

In den Fällen, in denen ein nichtrevisibles Landesgesetz auf ein revisibles Gesetz verweist, ist angewendetes Gesetz grundsätzlich allein das nichtrevisible Landesgesetz. Eine Ausnahme ist nur dann zu machen, wenn das Landesgesetz die an sich revisible Vorschrift nicht als Landesrecht qualifiziert sehen will, sondern gerade als Bundesrecht übernehmen wollte (s BGHZ 10, 367, 371; BVerwGE 57, 204). Von einem solchen Ausnahmefall, daß der Landesgesetzgeber bei der Setzung seines (Landes-) Rechts Bundesrecht unter Beibehaltung dessen Eigenart als Bundesrecht übernehmen wollte, ist hinsichtlich der Wendung "ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" nicht auszugehen. Diese Wendung kommt in verschiedenen Gesetzen und Rechtsgebieten vor und ist als allgemein gültiger Rechtsbegriff nicht nur durch ihre definitorische Festlegung in § 30 Abs 3 SGB I, sondern auch etwa durch § 9 der Abgabenordnung von 1977 hinsichtlich des gewöhnlichen Aufenthaltes und durch § 7 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bezüglich des Wohnsitzes in einer über die verschiedenen Spezialgesetze hinausgehenden Weise festgelegt.

Freilich kann in Einzelfällen aus dem Zweck eines einzelnen Gesetzes, in dem auf Wohnsitz, auf gewöhnlichen Aufenthalt oder auf "Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" abgestellt wird, geschlossen werden, daß dort die Worte "Wohnsitz" und "Aufenthalt" in spezifischem Sinn zu verstehen sind. So hat etwa das BSG in seinem Urteil vom 15. Juni 1982 - 10 RKg 26/81; BSGE 53, 294, 295 = SozR 5870 § 1 Nr 10 - seine Meinung, der Asylbewerber habe noch nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, auf folgende Erwägung gestützt: Wer im Gebiet der Bundesrepublik ein Kind aufziehe und dadurch einen Beitrag zur künftigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Existenz der Gesellschaft in diesem Staat leiste, erhalte für die im Interesse der Sicherung des Bestandes der staatlichen Gesellschaft dienenden persönlichen und finanziellen Opfer einen Ausgleich durch Kindergeld. Das sei nicht so beim Asylbewerber, sondern erst beim anerkannten Asylberechtigten. Erst nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis habe er deshalb seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz in der Bundesrepublik. Im Urteil des BSG vom 28. Juni 1984 - 3 RK 27/83; BSGE 57, 93, 95 = SozR 2200 § 205 Nr 56 - heißt es dagegen, der Anspruch auf Gewährung von Leistungen der Familienkrankenhilfe sei nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Angehörige Asylbewerber sei. Im Hinblick auf die heutige Dauer des Asylverfahrens sei es ausgeschlossen, den Aufenthalt des Asylbewerbers in der Bundesrepublik Deutschland nur als vorübergehend anzusehen. Dem würde auch der Zweck der Familienkrankenhilfe entgegenstehen. Die Entscheidung vom 15. Juni 1982 stehe dem nicht entgegen, da sie aus den Besonderheiten des Kindergeldrechtes begründet sei. Mit Urteil vom 14. September 1989 - 4 REg 7/88 - hat das BSG erklärt, daß ein Asylbewerber, der sich im Geltungsbereich des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) befinde und asylberechtigt sei, hier seinen (berechtigten) gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG nicht erst von der nachträglichen verwaltungsmäßigen Feststellung des Asylrechts an habe.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte ihre Auslegung der Begriffe "Wohnsitz" oder "gewöhnlicher Aufenthalt" gerade aus dem Sinn und Zweck des hier in Frage stehenden Landesgesetzes hergeleitet. Sie macht damit selbst zu Recht deutlich, daß sich auch ein allgemein gebrauchter und definierter Begriff nicht gänzlich aus dem Zusammenhang lösen läßt, in dem er verwendet wird. Bezogen auf die hier in Frage stehende rechtliche Qualität einer Vorschrift als Bundes- oder Landesrecht ist als Zusammenhang in diesem Sinn der Umstand zu nehmen, daß es sich bei dem vom SG für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreites angewendeten Gesetz um ein Landesgesetz handelt. Die in ihm enthaltenen einzelnen Regelungen sind daher mangels einer ausreichenden Begründung für ein anderes Ergebnis in ihrer Qualität ebenfalls nur als Landesrecht einzuordnen.

Bei der Regelung des Art 1 Abs 1 Bayer. ZPflG liegt auch keine Übereinstimmung mit Bundesrecht vor, die auf einem Rahmengesetz des Bundes beruht und der bewußt angestrebten Vereinheitlichung eines Rechtsgebietes dient. In einem solchen Fall wäre es abweichend von dem oben Dargelegten möglich, Revisibilität anzunehmen (so BGH in VersR 1961, 471, 472; 1967, 902, 903).

Schließlich führt auch die Tatsache, daß andere Länder der Bundesrepublik Deutschland Gesetze zu Gunsten der Zivilblinden mit ähnlichem Wortlaut erlassen haben, nicht zur Revisibilität der in diesen Landesgesetzen enthaltenen Normen (vgl Baden-Württembergisches "Gesetz über die Landesblindenhilfe" vom 8. Februar 1982 - GBl S 56; Bremisches "Gesetz über die Gewährung von Pflegegeld an Blinde und Schwerstbehinderte - Landespflegegeldgesetz -" vom 31. Oktober 1972 - Brem GBl S 235; Hamburgisches "Gesetz über die Gewährung von Blindengeld" idF vom 22. Dezember 1983 - GVBl S 343; "Landesblindengeldgesetz" des Landes Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 1970 - GV NW S 435; Rheinland-Pfälzisches "Landespflegegeldgesetz" vom 31. Oktober 1974 - GVBl S 466; Saarländisches "Gesetz über die Gewährung einer Blindheitshilfe" vom 20. April 1982 - Amtsblatt des Saarlandes S 391; Schleswig-Holsteinisches "Landesblindengeldgesetz" vom 5. August 1976 - GVBl Schlesw Holst S 205). Denn unabhängig davon, ob zwischen den angeführten Landesgesetzen eine inhaltliche Übereinstimmung von der Art gegeben ist, daß trotz der gesetzesformal verschiedenen Vorschriften von einer gehaltlich einsinnig zu verstehenden Regelung - gewissermaßen von "gemeinsamen/gemeinen" Recht - gesprochen werden muß, kann die Revision schon aus Prozeßgründen nicht hierauf gestützt werden. Wie der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 15. November 1983 - 1 S 10/82; BSGE 56, 45, 50 f mwN - näher ausgeführt hat, hat ein Revisionskläger eine solche Deckungsgleichheit gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG mit seiner Revision darzutun. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung einschließlich der dafür gegebenen Begründung an. Die Beklagte und Revisionsklägerin ist in ihrer Revisionsbegründung aber an keiner Stelle auf die Übereinstimmung der Landesgesetze in diesem Sinn eingegangen.

Da somit das Verständnis, daß das SG bei der Anwendung des Bayer. ZPflG in seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, revisionsgerichtlich nicht überprüft werden kann, muß es vom erkennenden Senat ohne materiell-rechtliche Stellungnahme dazu übernommen werden. Die von der Beklagten eingelegte Sprungrevision ist damit unbegründet und somit gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661027

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