Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 09.03.1966) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. März 1966 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt die Nachzahlung von Witwenrente für die Zeit vom 14. Juli 1956 bis zum 30. April 1960. Die Beklagte lehnte die Nachzahlung mit der Begründung ab, der Anspruch sei gemäß § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verjährt. Zu entscheiden ist, ob die Zulässigkeit der Klage gegen einen solchen Bescheid– die Durchführung eines Vorverfahrens gemäß §§ 78, 79 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) voraussetzt.
Die Klägerin lebt seit 1926 in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und besitzt seit 1947 die amerikanische Staatsangehörigkeit. Durch Bescheid vom 27. April 1954 gewährte die Beklagte ihr Witwenrente unter dem Hinweis, daß die Rente ruhe. Am 12. Mai 1964 beantragte die Klägerin aus Anlaß eines bevorstehenden Besuches in Deutschland die Auszahlung der Rente für die Zeit des Besuches. Durch Bescheid vom 14. Mai 1964 stellte die Beklagte fest, die Witwenrente habe bis zum 13. Juli 1956 gemäß § 1282 RVO aF geruht; mit dem Inkrafttreten des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsabkommens zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland vom 29. Oktober 1954 (BGBl 1956 II, 487; vgl. Bekanntmachung des BMA usw. vom 28.6.1956, BABl S. 488) seien die Voraussetzungen für das Ruhen der Rente vom 14. Juli 1956 an entfallen; da die Klägerin erstmalig am 12. Mai 1964 die Auszahlung der Witwenrente beantragt habe, könne unter Berücksichtigung der Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 RVO die Nachzahlung von Rentenbeträgen frühestens vom 1. Mai 1960 an erfolgen.
Das Sozialgericht (SG) hat, ohne daß ein Vorverfahren stattgefunden hat, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 14. Mai 1964 verurteilt, der Klägerin die Witwenrente für die Zeit vom 14. Juli 1956 bis zum 30. April 1960 zu zahlen; es hat die Berufung zugelassen. Gegen das Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin Entscheidung in der Sache beantragt, auch wenn die Klage wegen Fehlens des Vorverfahrens nicht als zulässig angesehen werden sollte. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert und die Klage als unzulässig abgewiesen, weil es an dem Vorverfahren fehle, das durch §§ 78, 79 Nr. 1 SGG zwingend vorgeschrieben sei; es hat die Revision zugelassen.
Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 79 Nr. 1 SGG. Nach ihrer Auffassung ist ein Verwaltungsakt, der eine Rentenleistung wegen Verjährung des Zahlungsanspruches nach § 29 Abs. 3 RVO ablehne, nicht mit dem Widerspruch (§§ 78, 83 SGG), sondern mit der Klage anzufechten. Die Ablehnung der Rentenzahlung sei ein Verwaltungsakt, der eine Leistung betreffe, auf die nach § 1264 RVO ein Rechtsanspruch bestehe. Die Geltendmachung der Verjährungseinrede sei keine Ermessensausübung. In dem Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Februar 1966 – 4 RJ 543/65 – (SozR Nr. 14 zu § 79 SGG) sei zwar die Geltendmachung der Verjährungseinrede als eine Ermessensentscheidung angesehen und die Vorverfahrenspflicht bejaht worden, wenn die Ablehnung einer Pflichtleistung darauf beruhe. Die Begründung erscheine jedoch nicht zwingend. Es sei nicht einzusehen, daß der Versicherungsträger grundsätzlich die Freiheit haben sollte, nach außerrechtlichen Erwägungen von der Verjährungseinrede nach § 29 Abs. 3 RVO abzusehen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. März 1966 sowie das Urteil des SG Düsseldorf vom 30. Juni 1965 aufzuheben und die Klage als unbegründet ab zuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht die Klage als unzulässig abgewiesen, weil es an dem gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahren fehlt.
Die Beklagte ist durch die angefochtene Entscheidung beschwert, weil sie über den von der Klägerin gegen den Bescheid vom 14. Mai 1964 erhobenen Widerspruch noch zu entscheiden haben wird, falls das Urteil des LSG Rechtskraft erlangt. Der Senat hat bereits in seinem Beschluß vom 13. März 1968 (SozR Nr. 15 zu § 79 SGG) entschieden, daß, wenn im sozialgerichtlichen Verfahren eine Klage, der ein Vorverfahren vorauszugehen hat, als unzulässig abgewiesen worden ist, weil das Vorverfahren nicht durchgeführt wurde, der beklagte Rechtsmittelführer trotz Ablaufs der Klagefrist beschwert ist, wenn er mit einer neuen Klage deshalb rechnen muß, weil über den eingelegten Widerspruch noch nicht entschieden ist.
Nach § 78 SGG sind vor Erhebung der Klage Verwaltungsakte in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Ein Vorverfahren findet gemäß § 79 Nr. 1 SGG statt, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt wird, der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Der 4. Senat des BSG hat in seinem Beschluß vom 28. Februar 1966 (SozR Nr. 14 zu § 79 SGG) entschieden, daß, wenn ein Versicherungsträger eine Rentenleistung nach Ablauf der Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 RVO ausschließlich wegen der Verjährung ablehnt, der Verwaltungsakt vor Erhebung der Klage in einem Vorverfahren gemäß § 79 Nr. 1 SGG nachzuprüfen ist. Der Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an.
Der 4. Senat hat in seinem. Beschluß dargelegt, die Vorschrift des § 79 Nr. 1 SGG werde nach der ständigen Rechtsprechung des BSG dahin ausgelegt, daß nicht nur Verwaltungsakte, die eine echte Ermessensleistung („Kannleistung”) des Versicherungsträgers beträfen, in einem Vorverfahren nachzuprüfen seien, sondern – vorbehaltlich des § 81 SGG – auch solche, bei denen es um irgendwelche anderen, von einem Ermessen der Verwaltungsbehörde beeinflußte Entschließungen gehe, und daß sich diese Grundsätze aus dem Zweck des Vorverfahrens ergäben (vgl. hierzu auch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 17.9.1964 in SozR Nr. 13 zu § 79 SGG). Bei einem Verwaltungsakt, der eine Rentenleistung ausschließlich wegen Verjährung ablehne, handele es sich – unabhängig davon, ob man darin einen Verwaltungsakt erblicken wolle, der eine Rentenleistung mit Rechtsanspruch betreffe – jedenfalls um eine Ermessensentscheidung im Sinne des § 79 Nr. 1 SGG. Zur Begründung seiner Auffassung hat der 4. Senat ausgeführt, wenn der Verjährungstatbestand des § 29 Abs. 3 RVO erfüllt sei, berühre dies den Anspruch des Versicherten auf die verjährten Rückstände nicht ohne weiteres. Die Durchsetzung des Anspruches sei erst beeinträchtigt, wenn der Versicherungsträger sich im Verwaltungsverfahren auf die Verjährung berufe oder im gerichtlichen Verfahren die Einrede der Verjährung erhebe. Einen solchen, dem Begehren des Versicherten entgegenwirkenden Schritt müsse die Verwaltungsbehörde nicht tun. Es wäre wenig sinnvoll, wenn das Gesetz ihr nicht auch „freistellen” wollte, von diesem Schritt abzusehen; denn sie müsse sich wegen ihrer Entschließung u.U. vor dem Richter „verantworten” und sich möglicherweise sagen lassen, daß sie von ihrem „Recht” einen „unzulässigen Gebrauch” gemacht habe. Dem entspreche es, daß das Reichsversicherungsamt (RVA) in seinem Rundschreiben vom 30. Juli 1941 betreffend Soziale Rechtsanwendung ua ausgeführt habe, die Verjährungseinrede gegenüber Ansprüchen auf Erstattung von Beiträgen oder auf Leistungen (§ 29 Abs. 2 und 3 RVO) sei „jedenfalls dann nicht angebracht, wenn nur die – regelmäßig anzunehmende – Rechtsunkenntnis des Versicherten oder sonstige echte Hinderungsgründe die rechtzeitige Antragstellung verzögerten” (AN 1941 II, 311). Der Rechtsauffassung des 4. Senats des BSG haben sich bereits der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 12. Mai 1967 – 11 RA 50/65 – (zustimmend besprochen von Tannen in DRV 1967, 305) und der 2. Senat des BSG in seinem Urteil vom 31. Januar 1969 – 2 RU 234/66 – angeschlossen. Zu Unrecht wendet sich die Revision gegen diese Rechtsprechung. Sie findet ihre Rechtfertigung in dem mit der Verfahrensvorschrift des § 79 Nr. 1 SGG verfolgten Gesetz es zweck, nämlich sicherzustellen, daß alle Entscheidungen des Versicherungsträgers, bei denen ein Ermessen auch nur in einer irgendwie gearteten Form ausgeübt worden ist, in einem, weiteren Verwaltungsverfahren voll nachgeprüft werden können, was eben nur durch eine weitere Verwaltungsstelle im Rahmen des Widerspruchsverfahrens geschehen kann (vgl. Urteil des Senats vom 17.9.1964– in SozR Nr. 13 zu § 79 SGG).
Sie Beklagte meint, die Entschließung über die Geltendmachung der Verjährung durch den Versicherungsträger sei keine Ermessensentscheidung; eine solche Entschließung beruhe nicht auf einer Zweckmäßigkeitsprüfung im Rahmen eines dem Versicherungsträger eingeräumten Ermessens, sondern nur auf einer Rechtmäßigkeits- und Tatbestandsprüfung über das Vorliegen eines dem Versicherungsträger gesetzlich zustehenden Rechts, sich auf die Verjährung zu berufen, bei Wertung des Sachverhalts durch den Versicherungsträger, ob von dem Recht Gebrauch zu machen ist, sei kein Ermessensspielraum, sondern lediglich ein Beurteilungsspielraum gegeben. Auch wenn bei der Entschließung über die Geltendmachung der Verjährung der Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung zu beachten sei, erfolge keine Rechtsgestaltung nach Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern eine Rechtsanwendung, nämlich eine Subsumtion unter einen rechtlichen Tatbestand, dessen Merkmale keine Ermessensbegriffe, sondern unbestimmte Rechtsbegriffe seien, so daß auch hier für die Wertung des Sachverhalts kein Ermessens-, sondern nur ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei. Der Versicherungsträger sei in der Entscheidung darüber auch nicht frei, ob er sich auf die Verjährung berufen solle oder nicht, sondern er müsse dieses Recht im Interesse der Versichertengemeinschaft und im Interesse einer ordnungsgemäßen Verwaltung von Gesetzes wegen stets wahrnehmen.
Die Beklagte verkennt indessen, daß der Versicherungsträger, wenn er den Anspruch auf eine Leistung wegen Verjährung ablehnt, nicht nur von einem ihm zustehenden Recht, sondern auch von einem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch macht. Die erforderliche verwaltungsmäßige Prüfung beschränkt sich nicht auf die Beurteilung, ob die gesetzlichen, d. h. tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 29 Abs. 3 RVO für das Recht zur Erhebung der Verjährungseinrede erfüllt sind, wozu auch gehört, ob Treu und Glauben (eine unzulässige Rechtsausübung) der Geltendmachung dieses Rechts nicht entgegenstehen. Ergibt die Prüfung, daß die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für den Eintritt der Verjährung eines Anspruchs auf Leistungen gemäß § 29 Abs. 3 RVO erfüllt sind, das Recht auf die Einrede der Verjährung also besteht und Treu und Glauben es nicht ausschließen, so hat sich dieser Prüfung die weitere Prüfung anzuschließen, ob es auch der Zweckmäßigkeit und Billigkeit entspricht, in dem gegebenen Einzelfall von diesem Recht Gebrauch zu machen. Mögen die Versicherungsträger im Interesse der Versichertengemeinschaft und nach den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Verwaltung grundsätzlich auch gehalten sein, ihr Recht, die Einrede der Verjährung zu erheben, wahrzunehmen, so schließt dies doch nicht aus, daß sich die Geltendmachung dieses Rechts nach den besonderen Umständen des Einzelfalles aus Zweckmäßigkeitsgründen als untunlich oder für den Betroffenen, der ebenfalls zu der Versichertengemeinschaft gehört, als unbillige oder besondere Härte darstellt. In diesen Fällen dürfen die Versicherungsträger auch im Rahmen einer Ordnungsgemäßen Verwaltung von ihrem Recht auf Geltendmachung der Einrede der Verjährung absehen. Da hierüber in jedem. Einzelfall mitzuentscheiden ist, stellt sich die Prüfung und Entschließung, ob die Verjährungseinrede erhoben werden soll oder nicht, stets als die Prüfung im Rahmen eines dem Versicherungsträger eingeräumten Ermessens dar.
Neben die unter Umständen aus Treu und Glauben herzuleitende Rechtspflicht, das Recht auf die Einrede der Verjährung nicht geltend zu machen, also neben die Beschränkung oder den Verlust dieses Rechts tritt jedenfalls die rechtliche Möglichkeit, in Ausübung eines pflichtgemäßen Ermessens von der Geltendmachung des dem Versicherungsträger zustehenden Rechts zur Erhebung der Einrede der Verjährung Abstand zu nehmen. Hier handelt es sich um ein echtes Verwaltungsermessen; denn dem Versicherungsträger ist die Freiheit – der Ermessensspielraum – eingeräumt, nach Zweckmäßigkeits-, Billigkeits- und Angemessenheitserwägungen von mehreren dem Gesetz entsprechenden, also von mehreren möglichen rechtmäßigen Entscheidungen eine zu treffen, nämlich entweder die Einrede der Verjährung zu erheben oder von ihr abzusehen. Die gesetzmäßige Ausübung dieses Ermessens unterliegt ebenso der Nachprüfung durch die Gerichte wie die Prüfung, ob die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, daß der Anspruch auf Zahlung von Rentenbeträgen gemäß § 29 Abs. 3 RVO verjährt ist, dem Versicherungsträger die Einrede der Verjährung zusteht, ihre Geltendmachung mit den Grundsätzen von Treu und Glauben in Einklang steht und ob die Einrede in rechtlich zu beachtender Weise erhoben ist.
Der Senat schließt sich aus diesen Gründen der Rechtsauffassung des 4. Senats an, daß ein Vorverfahren gemäß §§ 78, 79 Nr. 1 SGG stattzufinden hat, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Bescheides begehrt wird, der eine Rentenleistung ausschließlich mit der Begründung ablehnt, der Anspruch sei gemäß § 29 Abs. 3 RVO verjährt.
Das Verfahren des LSG litte zwar an einem wesentlichen Mangel, wenn es die Klage als unzulässig abgewiesen hätte, ohne den Beteiligten Gelegenheit gegeben zu haben, das Vorverfahren durchzuführen (BSG 20, 199; 25, 66). In dem gegenwärtigen Fall hat die Klägerin von der ihr gegebenen Gelegenheit, das Vorverfahren durchzuführen, keinen Gebrauch gemacht. Sie hat es vor dem Berufungsgericht abgelehnt, einen dahingehenden Hilfsantrag zu stellen und ausdrücklich beantragt, in der Sache auf die erhobene Klage zu entscheiden. Auf einen solchen Antrag hin mußte das LSG die Klage wegen Fehlens einer Prozeßvoraussetzung als unzulässig abweisen.
Die Kostenentscheidung folgt auf § 193 SGG.
Unterschriften
Schmidthals, Bundesrichterin Geyser ist infolge Urlaubs verhindert, zu unterschreiben. Schmidthals, Dr. Friederichs
Fundstellen