Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungspflicht bei Entziehung der vorläufigen Rente und Ablehnung der Dauerrente
Orientierungssatz
Fehlt es an der rechtzeitigen Vervollständigung der entscheidungserheblichen Unterlagen (Tatsachen) vor einer angemessenen Anhörungsfrist, hat der Träger der Unfallversicherung nur die Möglichkeit, die vorläufige Rente kraft Gesetzes zur Dauerrente werden zu lassen (RVO § 1585 Abs 2) und eine künftige Änderung nachzuweisen (Fortführung BSG 1979-04-30 8a RU 64/78 = SozSich 1979, 319; BSG 1979-08-30 8a RU 24/79 = SozR 1200 § 34 Nr 9).
Leitsatz (redaktionell)
Die Frist der §§ 622 Abs 2, 1585 Abs 2 RVO ist keine für die Entscheidung iS des § 34 Abs 2 Nr 2 SGB 1 maßgebliche Frist.
Normenkette
SGB I § 34 Abs. 1 Fassung: 1975-12-11, Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 1975-12-11; RVO § 622 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1585 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
SG Kiel (Entscheidung vom 17.10.1978; Aktenzeichen S 4 U 20/78) |
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 25.04.1979; Aktenzeichen L 4 U 79/78) |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Rentenentziehungsbescheid vom 27. Januar 1978 rechtswidrig ist, weil die Beklagte den Kläger vor Erlaß ihres Bescheides nicht angehört hat.
Der Kläger bezog wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls durch Bescheid vom 29. März 1977 eine vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH. Er teilte der Beklagten im April 1977 unter Angabe des neuen Wohnortes fernmündlich mit, daß er verzogen sei. Am 11. Oktober 1977 beauftragte die Beklagte den Leitenden Arzt eines berufsgenossenschaftlichen Krankenhauses, ein Gutachten über die Feststellung der MdE für eine Dauerrente gemäß § 1585 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu erstellen, wobei sie die frühere Anschrift des Klägers angab; sie forderte den Sachverständigen gleichzeitig auf, ihr das Gutachten, auf jeden Fall aber die Akte bis spätestens 30. Dezember 1977 zuzusenden. Sie fügte hinzu: "Sollten Sie schon jetzt erkennen, daß Sie diesen Termin nicht einhalten können, geben Sie uns bitte die Akte sofort zurück. Sollte sich erst später zeigen, daß Sie diesen Termin nicht mehr einhalten können, bitten wir um sofortige fernmündliche Unterrichtung". Eine an die frühere Anschrift des Klägers gerichtete Abschrift des Gutachtenauftrages kam mit dem Vermerk: "Verzogen, neue Anschrift nicht bekannt" zurück, worauf die Beklagte am 18. Oktober 1977 eine Anfrage an das Einwohnermeldeamt nach der neuen Anschrift des Klägers richtete. Das berufsgenossenschaftliche Krankenhaus lud den Kläger am 2. November 1977 zur Untersuchung am 13. Dezember 1977 vor und teilte der Beklagten am 16. Dezember 1977 mit, daß die Untersuchung stattgefunden habe. Ein Sachbearbeiter der Beklagten vermerkte am 5. Januar 1978 in einer "Gesprächs-Notiz", daß das Gutachten noch nicht geschrieben sei, aber bis 20. Januar 1978 bei ihr eingehen solle. Das am 18. Januar 1978 erstattete Gutachten ging sodann am 19. Januar 1978 bei der Beklagten ein, worauf sie ohne Anhörung des Klägers die vorläufige Rente entzog und einer Dauerrente ablehnte (Bescheid vom 27. Januar 1978). Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid aufgehoben (Urteil vom 17. Oktober 1978), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 24. April 1979).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 34 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1).
Sie beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Mit Recht haben beide Vorinstanzen von der Beklagten verlangt, daß sie den Kläger vor Erteilung des Bescheides vom 27. Januar 1978 anhören mußte.
Nach SGB 1 § 34 Abs 1 ist einem Beteiligten, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung rechtserheblichen Tatsachen zu äußern. Von der Anhörung kann nur unter bestimmten Voraussetzungen abgesehen werden (SGB 1 § 34 Abs 2). Als derartige Voraussetzung ist hier nur SGB 1 § 34 Abs 2 Nr 2 in Betracht zu ziehen. Danach kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn durch sie die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist in Frage gestellt würde. Dazu gehört die Frist des § 622 Abs 2 Satz 1 RVO nicht (BSG SozR 1200 § 34 Nr 4; Lauterbach/Wickenhagen, Unfallversicherung, Band 2, 3.Aufl 1979, § 622; SGB 1 § 34 Anm 3 d).
Wie der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) wiederholt entschieden hat (SozR 1200 § 34 Nrn 3 und 4; Urteil vom 9. März 1978 - 2 RU 105/77 - in USK 7827) - der 5. Senat und der erkennende Senat (Urteile vom 16. Januar 1979 - 5 RKnU 5, 6, 7/78 -; Urteil vom 30. August 1979 - 8a RU 24/79 - SozR 1200 § 34 Nr 9) haben sich dem angeschlossen -, ist in Fällen, in denen eine vorläufige Rente entzogen und eine Dauerrente erstmals niedriger festgestellt oder abgelehnt wird, SGB 1 § 34 Abs 1 anzuwenden.
Die Gelegenheit zur Äußerung (Anhörung) muß im Verwaltungsverfahren gegeben werden. Sie kann nach ständiger Rechtsprechung nur im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden (BSG SozR 1200 § 34 Nrn 1 und 2; Urteile vom 25.Januar 1979 - 3 RK 35/77 -; 1.März 1979 - 6 RKa 17/77 -; 6. Dezember 1978 - 8 RU 108/77 - BSGE 47,249; 30.April 1979 - 8a RU 64/78 - SozSich 1979, 319 - 320). Dem steht SGB 1 § 34 Abs 2 mit den dort abschließend aufgezählten Sachverhalten nicht entgegen. Die Frist des § 622 Abs 2 Satz 1 RVO, bis zu deren Ablauf der Entziehungsbescheid dem Kläger zugestellt sein mußte, endete am 3. Februar 1978. Das für die Entscheidung der Beklagten bedeutsame Gutachten ist bei dieser am 19. Januar 1978 eingegangen; der Entziehungsbescheid wurde am 27. Januar 1978 abgesandt. Die kurze Zeitspanne, die sonach für eine Anhörung noch zur Verfügung stand, konnte die Beklagte aber nicht von ihrer Verpflichtung, den Kläger anzuhören, befreien. Selbst wenn sie zur Wahrung der ihr von Anfang an bekannten Frist alles Zumutbare getan hätte und der verspätete Gutachteneingang von ihr nicht zu vertreten wäre, könnte dies das ihr durch § 622 Abs 2 Satz 1 RVO auferlegte Risiko nicht mindern (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 30. August 1979 - 8a RU 24/79 - SozR 1200 § 34 Nr 9). Auf die von der Beklagten geltend gemachten Einzelheiten, warum sie sich an der Anhörung des Klägers gehindert gesehen haben will, kommt es daher nicht an. (Fehlt es an der rechtzeitigen Vervollständigung der entscheidungserheblichen Unterlagen (Tatsachen) vor einer angemessenen Anhörungsfrist, hat der Träger der Unfallversicherung nur die Möglichkeit, die vorläufige Rente kraft Gesetzes zur Dauerrente werden zu lassen (RVO § 1585 Abs 2) und eine künftige Änderung nachzuweisen.) An dieser im Grundsatz schon vor dem Inkrafttreten des SGB 1 am 1. Januar 1976 geltenden Rechtsfolge hat SGB 1 § 34 Abs 1 nichts geändert. Er hat lediglich eine angemessene Anhörungsfrist eingeschoben und damit den Zweijahreszeitraum geringfügig verkürzt. Der Beklagten ist es demnach verwehrt, sich auf nicht vertretbare Gründe für eine zu späte Bescheidzustellung mit Erfolg zu berufen.
Der Senat hat deshalb keine Bedenken, seine Rechtsprechung in den Urteilen vom 30. April 1979 und 30. August 1979 - 8a RU 64/78, SozSich 1979, 319, 320 und 8a RU 24/79, SozR 1200 § 34 Nr 9 - fortzusetzen und damit die Urteile der Vorinstanzen zu bestätigen. Zu der entgegenstehenden Auffassung des LSG Niedersachsen im Urteil vom 21. November 1978 - L 3 U 5/78 - hat bereits der 2. Senat im Urteil vom 2. Mai 1979 - 2 RU 9/79 - Stellung genommen; er konnte dort allerdings die Maßgeblichkeit der Frist des § 622 Abs 2 Satz 1 RVO im Sinne von SGB 1 § 34 Abs 2 Nr 2 dahingestellt lassen. Die dort offengelassene Frage ist aber, wie bereits erwähnt, schon durch den 2. Senat und später durch den 8a Senat beantwortet worden (BSG SozR 1200 § 34 Nrn 4 und 9).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen