Leitsatz (amtlich)
1. Nimmt ein Versicherungsträger von Amts wegen die erneute Prüfung seines rechtskräftigen Bescheides nach RVO § 1744 Fassung : 1924-12-15 iVm RVO §1723 Nr 6 Fassung: 1924-12-15 und RVO § 1729 Fassung: 1924-12-15 vor, so ist auch auf eine derartige Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens die Monatsfrist des RVO § 1728 Fassung: 1924-12-15 entsprechend anzuwenden.
Diese Frist ist jedenfalls dann gewahrt, wenn der Wiederaufnahmebescheid schon vor ihrem Ablauf beschlossen, dh unterschriftlich vollzogen war.
2. Die Ersatzzeitenregelung in RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23 gilt nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen die seit dem Inkrafttreten des ArVNG (1957-01-01 eingetreten sind; für früher eingetretene Versicherungsfälle ist RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23 auch nicht über ArVNG Art 2 § 8 S 1 iVm RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23 und RVO § 1250 Fassung: 1957-02-23 anwendbar (Anschluß BSG 1959-01-28 i RA 139/58 = BSGE 9, 92).
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 8 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23, § 1250 Fassung: 1957-02-23, § 1251 Fassung: 1957-02-23, § 1744 Fassung: 1924-12-15, § 1723 Nr. 6 Fassung: 1924-12-15, § 1728 Fassung: 1924-12-15, § 1729 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 21. November 1957 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10. November 1955 wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die ... 1885 geborene Klägerin war in ihrer Heimat im Sudetenland als Handschuhnäherin in Heimarbeit tätig; im August 1950 wurde sie aus dem Sudetenland in die Bundesrepublik umgesiedelt.
Am 28. November 1950 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung der Invalidenrente und gab dabei an, in der Zeit von 1930 bis zum 15. Juli 1950 als Handschuhnäherin beschäftigt gewesen zu sein und zuletzt Beiträge zur Sozialversicherungsanstalt in Eger entrichtet zu haben. Die Beklagte gewährte ihr darauf unter Zugrundelegung von 15 versicherten Berufsjahren die Invalidenrente vom 1. Dezember 1950 an durch den mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheid vom 26. Januar 1951.
Am 12. Mai 1952 gingen bei der Beklagten die Versicherungsunterlagen der Zentralsozialversicherungsanstalt (ZSVA.) Prag ein, aus denen sich ergab, daß die Klägerin bis zum Jahre 1945 nur 13 Monatsbeiträge an jene entrichtet hatte. Unter Berufung auf § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) hob die Beklagte darauf durch Bescheid vom 11. Juli 1952, der Klägerin zugestellt am 19. Juli 1952, den Rentenbescheid vom 26. Januar 1951 auf und stellte die Rentenzahlung ein, weil die eingegangenen Unterlagen ergeben hätten, daß die Wartezeit nicht erfüllt sei.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Berufung beim Oberversicherungsamt Regensburg ein, die mit dem 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht Nürnberg überging; dieses wies durch Urteil vom 10. November 1955 die Klage ab, weil es die Wartezeit als nicht erfüllt ansah.
Das Bayerische Landessozialgericht in München änderte auf die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 21. November 1957 dagegen das erstinstanzliche Urteil und den angefochtenen Bescheid der Beklagten dahin ab, daß der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente aus der Arbeiterrentenversicherung vom 1. Januar 1957 an dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt wurde; im übrigen wies es die Berufung zurück. Das Landessozialgericht sah die Neufeststellung durch die Beklagte nach § 1744 in Verbindung mit §§ 1723 Nr. 6 und 1728 RVO in der bis zum 31. Dezember 1953 gültigen Fassung als zulässig an; es stellte fest, daß die Klägerin außer den bis zum Jahre 1945 zur ZSVA. Prag geleisteten dreizehn Monatsbeiträgen in den Jahren 1947 bis 1950 noch weitere 42 Monatsbeiträge zur Bezirks-National-Versicherungsanstalt Eger, insgesamt also 55 Monatsbeiträge, entrichtet habe. Nach dem bis zum 1. Januar 1957 geltenden Recht sei die Wartezeit mit jenen 55 Beiträgen nicht erfüllt, ein Rentenanspruch bestehe daher insoweit nicht. Dagegen stehe der Klägerin vom 1. Januar 1957 an die Rente zu, weil nach § 1251 RVO n.F. die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 als Ersatzzeit anzurechnen sei, so daß die Klägerin nunmehr die Wartezeit erfüllt habe. § 1251 RVO sei gem. Art. 2 § 8 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) auch auf solche Versicherungsfälle anzuwenden, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten seien.
Gegen dieses am 4. März 1958 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 11. März 1958 die vom Landessozialgericht zugelassene Revision unter Stellung eines bestimmten Antrages ein und begründete das Rechtsmittel am 23. Mai 1958, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 26. Mai 1958 verlängert worden war.
Sie ist der Ansicht, daß § 1251 RVO n.F. nicht auf solche Versicherungsfälle anzuwenden sei, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, weil § 8 a.a.O. nur den § 1249 RVO n.F., nicht aber auch den § 1251 RVO n.F. für anwendbar erkläre.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die - im Revisionsverfahren durch einen Prozeßbevollmächtigten nicht vertretene Klägerin - hat keine Anträge gestellt und sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unter Antragstellung form- und fristgerecht eingelegt und innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet worden; sie ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie ausdrücklich zugelassen hat, sie ist demnach zulässig.
Die Revision erscheint auch begründet.
Zunächst war zu prüfen, ob die Beklagte noch an ihren Rentenbewilligungsbescheid vom 26. Januar 1951 gebunden ist. Dieser Bescheid war bereits rechtskräftig, als die Beklagte die Rentenzahlung durch ihren neuen Bescheid vom 11. Juni 1952 einstellte. Abgesehen von den hier zweifelsfrei nicht vorliegenden gesetzlichen Entziehungstatbeständen darf ein rechtskräftiger Bescheid zu Ungunsten des Betroffenen nur im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens nach § 1744 RVO aufgehoben werden (vgl. BSG. SozR. RVO § 1304 a.F. Aal Nr. 1). Bei der Prüfung der Anwendbarkeit der Wiederaufnahmebestimmungen ist § 1744 RVO noch in seiner vor dem 31. Dezember 1953 gültigen Fassung anzuwenden, da das im Jahre 1952 durchgeführte Wiederaufnahmeverfahren als Prozeßhandlung nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nach den damals geltenden Verfahrensvorschriften zu beurteilen ist. § 1744 RVO jener Fassung ließ unter den Voraussetzungen des § 1723 Nr. 1 bis 3, 5 und 6 RVO die Änderung eines rechtskräftigen Bescheids auch zu Ungunsten des Betroffenen zu und erklärte die §§ 1724 bis 1734 RVO für entsprechend anwendbar. Nach § 1723 Nr. 6 a.a.O. war die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig, wenn eine Partei nachträglich eine Urkunde, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde, aufgefunden hat oder zu benutzen instandgesetzt wird. Die Beklagte, die im Verwaltungsverfahren zwar nicht Partei ist, bei der entsprechenden Anwendung des § 1723 RVO aber ebenso behandelt werden muß, war bei Erlaß ihres Bewilligungsbescheids nicht in der Lage, die Unterlagen der ZSVA. Prag zu benutzen und bei der Entscheidung zu berücksichtigen; vielmehr wurde sie dazu erst nach Eintritt der Rechtskraft jenes Bescheides in die Lage versetzt. Die Unterlagen der ZSVA. Prag Sind auch Urkunden im Sinne der Nr. 6 a.a.O., so daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift gegeben waren. Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß die Beklagte zur Durchführung der Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens zuständig war (vgl. RVA. Amtl. Nachr. 1906 S. 429). Wenn § 1744 RVO auch nicht ausdrücklich vorschrieb, wer die neue Prüfung vorzunehmen hat, so folgt doch aus den allgemeinen Zuständigkeitsgrundsätzen bei der Wiederaufnahme eines Verfahrens, daß immer diejenige Stelle das Verfahren durchführt, die die rechtskräftig gewordene und zu beseitigende Entscheidung erlassen hat.
Nach § 1728 Abs. 1 und 2 RVO ist der Wiederaufnahmeantrag innerhalb eines Monats nach Kenntnis von dem Anfechtungsgrund zu stellen. Soweit das Verfahren durch den Versicherungsträger selbst im Spruchverfahren, also nicht vor einer höheren Instanz, auf genommen werden mußte, konnte allerdings niemals ein derartiger Antrag in Frage kommen, vielmehr mußte in einem solchen Falle die Wiederaufnahme nach § 1729 RVO stets von Amts wegen eingeleitet werden. Daraus kann jedoch nicht, wie die Beklagte will, geschlossen werden, daß diese von Amts wegen eingeleitete Wiederaufnahme nicht fristgebunden sei. Es ist zu beachten, daß § 1728 RVO im Rahmen des § 1744 RVO nur entsprechend, also nicht wörtlich anzuwenden ist. Daraus ist, wie dies bereits das Reichsversicherungsamt getan hat (z.B. Amtl. Nachr. 1906 S. 429, 1916 S. 404) zu schließen, daß für beide Beteiligten - Versicherten und Versicherungsträger als "Partei" - nicht nur vor dem Oberversicherungsamt dieselbe Frist gilt, sondern auch in dem Verfahren, das der Versicherungsträger auf Antrag oder von Amts wegen durchführt und in dem er sowohl "Partei" als auch entscheidende Stelle ist. Mit der Frist des § 1728 RVO wollte der Gesetzgeber nicht einerseits den Versicherten benachteiligen und den Versicherungsträger begünstigen, sondern beide Teile gleichstellen. Es ist daher zu prüfen, ob die Beklagte die Frist des § 1728 RVO gewährt hat. Die Beklagte ist am 12. Mai 1952 in den Besitz der Versicherungsunterlagen der ZSVA. Prag gekommen, sie erhielt also an diesem Tage Kenntnis vom Wiederaufnahmegrund. Der Rentenwegfallbescheid trägt das Datum vom 11. Juni 1952, also einen Tag vor Ablauf der Frist des § 1728 RVO; zugestellt wurde er jedoch erst nach Ablauf jener Frist am 19. Juni 1952. Es kommt deshalb darauf an, welcher Tag für die Rechtzeitigkeit der Wiederaufnahme maßgebend ist. Bei der entsprechend vorgeschriebenen Anwendung des § 1728 RVO ergibt sich in dieser Beziehung die Schwierigkeit, daß die Beklagte aus "Partei" und als Spruchstolle gehandelt hat. Daraus, daß das Gesetz auf den Tag des Antragseinganges bei dem Gericht abgestellt hat, hat es nach Ansicht des Senats den Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens durch die Partei bei der entscheidenden Stelle für maßgeblich erklärt. Es kann zwar im Einzelfall fraglich sein, welcher Zeitpunkt im internen Betrieb des Versicherungsträgers dieser Einleitung, d.h. praktisch, dem Eingang des Parteiantrages bei der Spruchstelle, gleichgesetzt werden müßte. Im vorliegenden Falle, in dem bereits die abschließende Spruchstellenentscheidung, der Wiederaufnahmebescheid selbst, vor Ablauf des Monats beschlossen worden ist, kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß jedenfalls auch die Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens rechtzeitig erfolgt war.
Es ist mithin der im Wiederaufnahmeverfahren erlassene neue, eine Rentengewährung ablehnende Bescheid auf seine sachliche Richtigkeit zu prüfen. Diese Entscheidung hängt allein von der Frage ab, ob für die auf die Wartezeit anzurechnenden Ersatzzeiten das alte oder das neue Recht gilt, da die der Klägerin nach Ansicht des Landessozialgerichts die Wartezeit erhaltende besondere Ersatzzeit erst durch das neue Recht eingeführt ist.
Der 1. Senat hat in ständiger Rechtsprechung (erstmals Urteil vom 28.1.1959 - 1 RA 139/58 -) für das mit dem hier zu beurteilenden Recht der Arbeiterrentenversicherung wörtlich übereinstimmende Wartezeitenrecht in der Angestelltenversicherung entschieden, daß auf die alten Versicherungsfälle die neue Ersatzzeitenregelung nicht anzuwenden sei.
Der erkennende Senat hat sich dieser Auffassung angeschlossen.
Auszugehen ist davon, daß das neue Recht nach Art. 2 § 5 ArVNG nur dann anzuwenden ist, wenn seine Anwendung für alte Versicherungsfälle in den folgenden Bestimmungen vorgeschrieben ist. Eine unmittelbare derartige Vorschrift findet sich nicht; die einzige Bestimmung, die sich ausdrücklich mit § 1251 neuen Rechts befaßt - § 9 des Art. 2 a.a.O. -, regelt vielmehr nur die Besitzstandswahrung für neue Fälle.
Art. 2 § 8 a.a.O. verweist nur auf § 1249 RVO. Die Ansicht, daß aus der Erwähnung des § 1250 in jenem § 1249 und aus der ausdrücklichen Verweisung auf § 1251 im § 1250 RVO folge, daß durch § 8 a.a.O. auch die letzte Vorschrift für Altfälle vorgeschrieben sei, erscheint unzutreffend. Die §§ 1250 und 1251 RVO n.F. sind keine bloßen unselbständigen Bestimmungen gegenüber 1249, sie haben vielmehr eine durchaus selbständige Bedeutung, wie sich daraus ergibt, daß sie auf die echten neuen Versicherungsfälle der §§ 1246 bis 1248 RVO n.F. u.s.w. auch ohne § 1249 anzuwenden sind. § 1249 RVO beschränkt sich dagegen in seiner Bedeutung im wesentlichen darauf, die bisher im nunmehr fortgefallenen Anwartschaftsrecht enthaltenen, gegen eine Berücksichtigung uralter Beiträge gerichteten Vorschriften materiellrechtlich aufrechtzuerhalten dadurch, daß er die gleichen Beschränkungen nunmehr für die auf die Wartezeit anzurechnenden Beiträge übernimmt. Wenn § 1249 RVO demnach formell auch eine die Wartezeit regelnde Vorschrift ist, so enthält er sachlich doch anwartschaftsrechtliche Vorschriften. Seine Bedeutung beschränkt sich auf jene Fälle mit alten Beiträgen vor dem Jahre 1929. Damit stimmt überein, daß auch Art. 2 § 8 a.a.O. erkennen läßt, daß mit der Verweisung auf § 1249 RVO einzig dessen das Anwartschaftsrecht ersetzende Funktion angesprochen werden soll, wie sich - wie der 1. Senat zu Recht ausgeführt hat - insbesondere aus dem nur aus dem Anwartschaftsrecht verständlichen Stichtag des 31. März 1945 ergibt. Ebenso spricht, wie der 1. Senat zu Recht hervorhebt, auch die Entstehungsgeschichte für seine Auffassung.
Wenn somit der Art. 2 des ArVNG keine ausdrücklichen Bestimmungen enthält, nach denen auf alte Versicherungsfälle die neuen Ersatzzeitenvorschriften für die Wartezeit anzuwenden sind, so kann schließlich auch aus der andersartigen Regelung im Knappschaftsversicherungsneuregelungsgesetz (KnVNG) nicht der Schluß gezogen werden, daß das ArVNG trotz fehlender entsprechender Vorschriften ebenso zu handhaben sei. Aus der Aufteilung und Erweiterung der Bestimmung des Art. 2 § 3 ArVNG in die entsprechenden Bestimmungen des Art. 2 § 6 KnVNG und den daneben gestellten, das Ersatzzeitenrecht zeitlich unbeschränkt einführenden § 7 KnVNG ist mit hinreichender Deutlichkeit zu erkennen, daß der Gesetzgeber das Knappschaftsrecht, das sich durch die individuelle Umstellung der Altrenten ohnehin wesentlich vom neuen Recht in der Arbeiter- und Angestellten-Rentenversicherung unterscheidet, auch hinsichtlich der Wartezeitenregelung bewußt anders regeln wollte. Rückschlüsse auf den Sinngehalt des ArVNG aus den genannten Bestimmungen des KnVNG verbieten sich demnach.
Da die Wartezeit somit nicht erfüllt ist, war das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2939541 |
BSGE, 151 |