Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Kausalzusammenhang zwischen Berufskrankheit und Todesursache
Orientierungssatz
Die Voraussetzungen des Begriffes "offenkundig" im Sinne des § 589 Abs 2 Satz 2 RVO liegen dann vor, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit auch nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat (vgl BSG 1968-03-14 5 RKn 92/66 = SozR RVO § 589 Nr 4).
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.09.1967) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. September 1967 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten anstelle der ihr zuerkannten einmaligen Witwenbeihilfe Hinterbliebenenrente mit der Behauptung, der Tod ihres am 17. September 1964 verstorbenen Ehemannes, des ehemaligen Bergmanns F S, sei die Folge der zuletzt mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. als Berufskrankheit (BK) anerkannt gewesenen Silikose.
Neben der Silikose litt der Versicherte schon seit Jahren an einer zunehmenden Linksherzinsuffizienz, die zur Dilation der linken Herzkammer mit relativer Mitralklappeninsuffizienz und Lungenstauung und auch zur Insuffizienz des rechten Herzens führte. Vom 28. Juli bis zum 9. September 1964 war der Versicherte wegen der "Silikose, einer dekompensierten Herzinsuffizienz und allgemeiner Arteriosklerose" in stationärer Behandlung. Am 17. September 1964 erlitt der Versicherte einen Herzhinterwandinfarkt, wurde erneut in stationäre Behandlung überwiesen und starb zwei Stunden nach seiner Einlieferung in das Krankenhaus.
Die Beklagte holte von dem Facharzt für innere Krankheiten P von der Medizinischen Klinik und Poliklinik der Berufsgenossenschaftlichen Krankenanstalten "B" B ein Gutachten ein. Dr. P führt in diesem Gutachten u.a. aus, im Zeitpunkt des Todes habe der Herzinfarkt im Vordergrund gestanden, die Silikose sei nicht als wesentliche Ursache des Todes anzusehen. Der staatliche Gewerbearzt in B schloß sich dieser Äußerung an.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. März 1965 den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ab. Es sei offenkundig, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin mit der Quarzstaublungenerkrankung nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) nach Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. G, Direktor des Pathologischen und Gewerbepathologischen Instituts in G, abgewiesen hat. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen, nachdem es noch ein Gutachten des Internisten Prof. Dr. W, Chefarzt des Krankenhauses B in M, und ein Ergänzungsgutachten zu diesem Gutachten von Prof. Dr. W eingeholt hatte. Das LSG hat zur Begründung seines Urteils ausgeführt: Es sei offenkundig, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin mit der BK nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe (§ 589 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Es könne "überhaupt nicht der geringste Zweifel" bestehen, daß der Ehemann der Klägerin "an einer plötzlichen Verschlimmerung seines schon lange bekannt gewesenen Herzleidens (so Prof. Dr. G) gestorben ist". Ursache des Todes sei nach dem Gutachten von Prof. Dr. W "ein frischer Hinterwandinfarkt auf dem Boden einer Coronarsklerose" gewesen; Prof. Dr. W habe bei nochmals kritischer Würdigung aller zur Verfügung stehenden Befundunterlagen keine ernstlich ins Gewicht fallenden Zweifel daran gehabt, daß die Silikose den Tod des Ehemannes der Klägerin im medizinischen Sinne nicht in erheblichem Maße verursacht und auch sein Leben nicht um wenigstens ein Jahr verkürzt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt.
Sie rügt, das LSG habe § 589 Abs. 2 RVO verletzt; es habe den Begriff der "Offenkundigkeit" verkannt. Der Gesetzgeber habe bewußt den Begriff der Offenkundigkeit verwendet. Demzufolge dürfe der Richter die Kausalität nur dann ablehnen, wenn "offenkundige Tatsachen" gegen den vermuteten Zusammenhang sprächen. Lägen nach dem Ermittlungsergebnis keine offenkundigen Tatsachen vor, dann dürfe Beweis nicht erhoben werden. Wenn aber Beweis erhoben worden sei, dann sei er überflüssig und unbeachtlich, weil aus ihm keine Schlüsse gezogen werden dürften. Der Richter hätte in einem solchen Falle eine fehlerhafte Schlüssigkeitsprüfung vorgenommen und sei dadurch zu einem unerheblichen Beweisergebnis gekommen. Offenkundige Tatsachen seien z.B. Flugzeugabsturz, Messerstecherei, Blitzschlag, Verkehrsunfall.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Essen und des Urteils des SG Gelsenkirchen die Beklagte zu verurteilen, ihr die beantragte Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hängt davon ab, ob die entschädigungspflichtige Silikose ihres Ehemannes mit einer MdE von zuletzt 50 v.H. rechtlich wesentliche Ursache seines Todes ist. Nach § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO wird das Vorliegen dieses Kausalzusammenhangs vermutet. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, weil die Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch die Folgen seiner entschädigungspflichtigen Silikose mit einer MdE von mindestens 50 v.H. gemindert war. Diese Vermutung ist allerdings nach Satz 2 des § 589 Abs. 2 RVO als widerlegt anzusehen, wenn "offenkundig" ist, daß die Silikose nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist, wobei entgegen der Auffassung der Revision der Gesetzgeber, wie § 589 Abs. 2 Satz 3 RVO ergibt, Beweiserhebung über diese Frage für durchaus möglich hält. Die Voraussetzungen des Begriffes "offenkundig" im Sinne des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO liegen dann vor, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 14. März 1968 - 5 RKn 92/66, SozR RVO § 589 Nr. 4 - entschieden hat, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit auch nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat. Es bestehen keine Bedenken, wenn das Gericht aus dem Umstand, daß nur eine ganz entfernte, d.h. eine lediglich theoretische Möglichkeit besteht, daß die Silikose den Tod des Versicherten in dem o.a. Sinne verursacht hat, annimmt, daß der Tod des Versicherten ohne jeden ernsthaften Zweifel nicht durch die Silikose in dem o.a. Sinne verursacht ist. Die Vorschrift des § 589 Abs. 2 RVO hat den Zweck sichergestellt, daß in den Fällen, in welchen eine Silikose mit einer MdE von mindestens 50 v.H. und ein anderes Leiden vorgelegen haben, und die Silikose den Tod des Versicherten mittelbar oder unmittelbar rechtlich wesentlich verursacht haben könnte, die Hinterbliebenenrente grundsätzlich gewährt wird. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen ist von der Gewährung der Hinterbliebenenrente abzusehen. Diese Grundsätze hat das LSG zutreffend erkannt und auch auf den vorliegenden Fall richtig angewandt. Es hat auf Grund der ärztlichen Gutachten festgestellt, daß "keine ernstlich ins Gewicht fallenden Zweifel daran bestehen, daß die Silikose den Tod des Ehemanns der Klägerin im medizinischen Sinne nicht in erheblichem Maße verursacht und auch sein Leben nicht um wenigstens ein Jahr verkürzt hat". Diese Entscheidung läßt keinen Rechtsirrtum erkennen.
Die Revision ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen