Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankengeld. Ruhen des Anspruchs. Maßregel der Besserung und Sicherung
Leitsatz (amtlich)
Die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung iS des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO.
Orientierungssatz
1. Gegen die vom Gesetzgeber vorgenommene Einbeziehung aller freiheitsentziehenden Maßregeln in die Ruhensregelung des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO bestehen keine Bedenken aus rechtlich übergeordneter, insbesondere verfassungsrechtlicher Sicht (insbesondere Eigentumsgarantie, Rechtsstaatsgebot, Sozialstaatsgebot und Gleichheitssatz).
2. Freiheitsentziehende Maßregeln iS des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO sind solche des Strafrechts (§§ 61 bis 72 StGB); als solche ist ua die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzusehen (§ 61 Nr 1 in Verbindung mit § 63 StGB).
3. Wird ein Versicherter aufgrund einer einstweiligen Anordnung nach § 126a StPO schon vor Abschluß des Strafverfahrens in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht, ruht der Anspruch auf Krankenhilfe nach § 216 Abs 1 Nr 1 RVO.
Normenkette
RVO § 216 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1975-05-07; StPO § 126a; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 14 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 3 Fassung: 1949-05-23; StGB § 61 Nr 1, §§ 72, 63
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.07.1986; Aktenzeichen L 16 Kr 12/84) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 21.11.1983; Aktenzeichen S 12 (8) Kr 60/81) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Krankengeld für die Zeit vom 7. Juli 1979 bis zum 13. August 1980.
Der Kläger war in dieser Zeit im Landeskrankenhaus E untergebracht. Das Amtsgericht B hatte die einstweilige Unterbringung nach § 126a der Strafprozeßordnung (StPO) angeordnet, weil es ihn für dringend verdächtig hielt, im Zustand der Schuldunfähigkeit (wegen eines paranoiden Syndroms) eine nach § 306 des Strafgesetzbuches (StGB) mit Strafe bedrohte Handlung begangen zu haben. Am 14. August 1980 wurde er aufgrund einer Anordnung des Landgerichts Bin die Heilstätte S H, ein Fachkrankenhaus für Suchtkranke, verlegt. Das Landgericht ordnete schließlich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StBG an und verurteilte den Kläger, die Verfahrenskosten und seine notwendigen Auslagen zu tragen.
Die beklagte Betriebskrankenkasse, bei der der Kläger als Bezieher von Arbeitslosengeld versichert war, lehnte die Gewährung von Krankengeld für die Zeit der einstweiligen Unterbringung im Landeskrankenhaus E unter anderem deshalb ab, weil die Ruhensvorschrift des § 216 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden sei. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) führt zur Begründung seiner Entscheidung aus: Das Ruhen eines etwaigen Anspruchs des Klägers auf Krankenhilfe -Krankengeld- ergebe sich bereits zwanglos aus einer wort- und begriffsgerechten Auslegung des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO; der Umstrukturierung bzw "Einfärbung" strafrechtlicher Begriffe in krankenversicherungsrechtliche (so das Sozialgericht -SG-) bedürfe es nicht. Der Unterschied zwischen dem "Vollzug" einer durch Urteil ausgesprochenen Maßregel der Besserung und Sicherung gemäß §§ 61 ff StGB und dem "Vollzug" einer vorläufigen Maßnahme nach § 126a StPO spiele nach den Vorstellungen des Gesetzgebers keine Rolle. Der Regelungsinhalt der Unterbringungstatbestände des § 61 Abs 1 Nr 1 und Nr 2 StGB sei, ob für sich gesehen oder iVm § 126a StPO, gleichgelagert. Es gehe um die fachmedizinische Betreuung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt zwecks Behebung eines die strafrechtliche Schuldfähigkeit ausschließenden oder verminderten Zustandes und Verhinderung von infolge dieses Zustandes drohenden weiteren Straftaten. Das Ergebnis werde nicht dadurch beeinflußt, daß ein vorläufig Untergebrachter möglicherweise später die Kosten der Unterbringung selbst zu tragen habe. Hieran eine Differenzierung zwischen "vorläufiger" und "endgültiger" Unterbringung zu knüpfen, scheitere bereits daran, daß die fraglichen Kostenvorschriften für jede Verurteilung oder gerichtliche Anordnung einer Maßregel der Besserung oder Sicherung gälten. Es bestünden schließlich keine Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO.
Mit der Revision rügt der Kläger, das LSG habe zu Unrecht die Anwendbarkeit des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO auf seinen Krankengeldanspruch für die Zeit der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO bejaht. Eine Gleichsetzung dieser Unterbringung mit dem Vollzug der Maßregel nach §§ 61 ff StGB sei nicht gerechtfertigt. Der Begriff der "freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung" beinhalte keineswegs die Anordnung der "einstweiligen Unterbringung". Letztere sei eine gesonderte Präventivmaßnahme, die zum Vollzug der Maßregel der Besserung und Sicherung ebenso gravierende Unterschiede aufweise wie die Untersuchungshaft zur Freiheitsstrafe. Zudem sei im vorliegenden Fall (auch im Hinblick auf die Brandverletzung) unabhängig von einer möglichen rechtswidrigen Tat eine Krankenhauspflege ohnehin erforderlich gewesen. Die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO stelle sich nicht anders dar als eine Unterbringung zB nach dem PsychKG. Deshalb vermöge auch das Argument der Vermeidung von Doppelleistungen die Auslegung des LSG nicht zu rechtfertigen. In den §§ 136 ff des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) sei von einer Anwendung des § 58 StVollzG nicht die Rede. Indem der Gesetzgeber die Ruhenstatbestände in § 216 RVO im einzelnen aufgeführt habe, sei dies abschließend erfolgt, so daß eine über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Ausweitung unzulässig sei.
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Juli 1986, das Urteil des SG Dortmund vom 21. November 1983 sowie die Bescheide der Beklagten vom 22. Oktober 1980, 6. November 1980 und 13. November 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1981 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 7. Juli 1979 bis zum 13. August 1980 Krankengeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Hilfsweise macht sie geltend: Der Krankengeldanspruch sei auch deshalb unbegründet, weil der Tag der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (30. September 1980) außerhalb des Zeitraumes liege, für den Krankengeld beansprucht werde (§ 182 Abs 3 Satz 1 RVO). Der Krankengeldanspruch habe jedenfalls bis zum 15. Juni 1980 geruht, weil die Arbeitsunfähigkeit erst am 16. Juni 1980 gemeldet worden sei (§ 216 Abs 3 RVO). Die nach § 126a StPO vollzogene Unterbringungsmaßnahme könnte Züge einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme tragen, für die vorrangig der Rentenversicherungsträger leistungspflichtig wäre.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Die Beklagte und die gerichtlichen Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß auf den vom Kläger geltend gemachten Krankengeldanspruch die Ruhensvorschrift des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO Anwendung findet. Sieht man von der hier nicht in Betracht kommenden Möglichkeit der Krankengeldgewährung an Angehörige ab, ruht nach der genannten Vorschrift der Anspruch auf Krankenhilfe - also auch der Anspruch auf Krankengeld (§ 182 Abs 1 RVO) -, solange sich der Berechtigte in Untersuchungshaft befindet oder gegen ihn eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. Bei der Unterbringung des Klägers im Landeskrankenhaus E während der streitbefangenen Zeit handelte es sich um eine freiheitsentziehende Maßregel im Sinne dieser Vorschrift.
Unter § 216 Abs 1 Nr 1 RVO fallen die freiheitsentziehenden Maßregeln im Sinne des Strafrechts. Das ergibt sich aus dem Zusammenhang der geregelten Tatbestände (Ruhen des Anspruchs auch während der Untersuchungshaft und des Vollzugs einer Freiheitsstrafe). Es ist deshalb auszugehen von den Vorschriften des StGB, die den Maßregeln der Besserung und Sicherung gewidmet sind (§§ 61 bis 72 StBG). Als freiheitsentziehende Maßregel ist unter anderem die hier in Frage stehende Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorgesehen (§ 61 Nr 1 iVm § 63 StGB).
Die Unterbringung des Klägers erfolgte aufgrund einer Anordnung nach § 126a StPO. Diese Vorschrift ermächtigt das Gericht, die einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unter bestimmten Voraussetzungen schon vor Abschluß des Strafverfahrens (vor dem Urteil) anzuordnen. Während die Anordnung nach § 63 StGB voraussetzt, daß eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen worden ist, genügt für die Anordnung nach § 126a StPO, daß dringende Gründe für die Annahme einer solchen Handlung vorhanden sind; es muß jedoch hinzukommen, daß die öffentliche Sicherheit die einstweilige Unterbringung erfordert. § 126a StPO übernimmt also die in § 63 StGB vorgesehene Maßregel als eine vorläufige Maßnahme (entsprechend: § 64 StGB - § 126a StPO; § 69 StGB - § 111a StPO; § 70 StBG - § 132a StPO; vgl Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO, Großkommentar, 24. Aufl, vor § 112 RdNr 5, § 112a RdNr 10, § 126a RdNr 1).
Die Anwendung des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Unterbringung nach § 126a StPO nicht endgültig durch Urteil, sondern als einstweilige Maßnahme angeordnet wird. Auch insoweit macht die getroffene Regelung in ihren Zusammenhängen deutlich, daß es auf diesen Unterschied nicht ankommt. Die Untersuchungshaft, ebenfalls ein Ruhenstatbestand, ist wie die Unterbringung nach § 126a StPO eine einstweilige Maßnahme. Sie ist im selben Abschnitt der StPO geregelt (9. Abschnitt des ersten Buches). Den jeweiligen Einzelregelungen (§§ 112, 112a einerseits und § 126a andererseits) sind keine Gesichtspunkte zu entnehmen, die eine unterschiedliche Behandlung im Rahmen des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO rechtfertigen könnten. Für den Vollzug der einstweiligen Unterbringung sind die Regelungen über den Vollzug der Untersuchungshaft maßgebend (§ 126a Abs 2 iVm § 119 StPO). Auch hinsichtlich der Anrechnung auf eine verhängte Freiheitsstrafe gilt die gleiche Regelung (§ 51 StPO).
Der Umstand, daß die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO in § 216 Abs 1 Nr 1 RVO nicht wie die Untersuchungshaft gesondert Erwähnung findet, läßt eine andere Schlußfolgerung nicht zu. Die Untersuchungshaft im eigentlichen Sinne (§ 112 StPO) ist eine prozeßsichernde Maßnahme (vgl Wendisch aaO, vor § 112 RdNr 3 und 4) und als solche weder mit einer Freiheitsstrafe noch mit einer Maßregel der Besserung und Sicherung vergleichbar. Sie mußte daher ausdrücklich neben den anderen Ruhenstatbeständen genannt werden. Die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO stellt dagegen nur eine vorweggenommene Unterbringung nach § 63 StGB dar. Die Zwecke beider Maßnahmen sind im wesentlichen gleichgerichtet, wenn auch unter Umständen bei der endgültig angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus der Zweck der Besserung und bei der einstweiligen Unterbringung der Zweck der Sicherung im Vordergrund stehen mag. Hinsichtlich der Untersuchungshaft wird in § 216 Abs 1 Nr 1 RVO ebenfalls keine Differenzierung vorgenommen, obwohl es auch hier erhebliche Unterschiede im strafrechtlichen Sinne gibt (Haft nach § 112 StPO wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr, Untersuchungshaft im eigentlichen Sinne, und Haft nach § 112a StPO wegen Gefahr der Tatwiederholung, Sicherungshaft, die der Gesetzgeber als Untersuchungshaft behandelt; vgl Wendisch aaO, § 112a RdNr 9 ff).
Der Einwand des Klägers, in den §§ 136 ff StVollzG sei von einer Anwendung des - die Krankenpflege im Strafvollzug regelnden - § 58 StVollzG nicht die Rede, bezieht sich nicht unmittelbar auf die hier umstrittene Frage. Im vorliegenden Fall geht es darum, ob eine einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO eine Maßregel der Besserung und Sicherung im Sinne des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO ist. Die §§ 136 ff StVollzG bestimmen, welche Vorschriften für die Maßregeln der Besserung und Sicherung gelten. Es trifft allerdings zu, daß § 216 Abs 1 Nr 1 RVO den Doppelbezug von Krankenhilfeleistungen ausschließen soll und daß § 58 StVollzG nicht auf die freiheitsentziehenden Maßregeln im Sinne der §§ 63 und 64 StGB Anwendung findet (§§ 137, 138 StVollzG). Trotzdem bestehen gegen die vom Gesetzgeber vorgenommene Einbeziehung aller freiheitsentziehenden Maßregeln in die Ruhensregelung des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO keine Bedenken aus rechtlich übergeordneter, insbesondere verfassungsrechtlicher Sicht. Die ärztliche Versorgung der Untergebrachten ist auch sichergestellt, soweit § 58 StGB nicht zum Zuge kommt. Außerhalb des Geltungsbereichs des StVollzG ist der Vollzug der Unterbringung durch Landesrecht zu regeln (§§ 136 bis 138 StVollzG; vgl Schwindt/Böhm, StVollzG, Großkommentar, 1983, Anm zu § 138; zur Verpflichtung einer gesetzlichen Regelung vgl BVerfGE 33, 1; 40, 276). Bezüglich der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO ist die entsprechende Anwendung von Vorschriften über den Vollzug der Untersuchungshaft vorgeschrieben (§ 126a Abs 2 iVm § 119 StPO). Unabhängig von ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen ist das Recht des Untersuchungsgefangenen auf ärztliche Betreuung anerkannt (BGH MDR 1982, 463).
Ein Verstoß gegen verfassungsrechtliche Grundsätze (insbesondere gegen die Eigentumsgarantie, das Rechtsstaatsgebot, das Sozialstaatsgebot und den Gleichheitssatz) kann schließlich nicht darin gesehen werden, daß die Ruhensvorschrift des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO sich auf den Krankengeldanspruch erstreckt und als einzige Ausnahme die Krankengeldgewährung an vom Versicherten unterhaltene Angehörige vorsieht. Das Krankengeld ist zwar eine Lohnersatzleistung, die grundsätzlich jedem arbeitsunfähigen Versicherten zusteht (§ 182 Abs 1 Nr 2 RVO). Diesem Anspruch liegt aber die Annahme zugrunde, daß dem Versicherten Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen wegen der Arbeitsunfähigkeit entgangen ist (vgl § 182 Abs 4 Satz 1 RVO). In den Fällen des § 216 Abs 1 Nr 1 RVO ist der Versicherte aber schon aufgrund der Haft bzw Unterbringung an einer gewöhnlichen Erwerbstätigkeit gehindert. Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Versicherte, für den im Rahmen der Haft bzw Unterbringung ausreichend gesorgt wird und der Angehörige bisher nicht unterhalten hat, keine Lohnersatzleistungen wegen Arbeitsunfähigkeit erhält. Die Lohnfortzahlung nach dem Lohnfortzahlungsgesetz (LFZG) setzt ebenfalls voraus, daß der Arbeiter durch Arbeitsunfähigkeit und nicht bereits aus anderen Gründen an seiner Arbeitsleistung verhindert ist (§ 1 Abs 1 Satz 1 LFZG; vgl BAG 20. März 1985 - 5 AZR 229/83 - AP § 1 LFZG Nr 64 mwN).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen