Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Mai 1966 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Ersatzkasse (EK) dem klagenden Land die von ihm getragenen Aufwendungen für die Krankenhausbehandlung des bei der EK familienversicherten Kindes Gernot St… (St.) zu erstatten hat.
Das 1962 geborene Kind ist seit der Geburt mißgebildet, beide Hände sitzen unmittelbar an den Schultern. Es wurde deswegen am 18. Juni 1963 in die Krankenanstalten Wesermünde, Krankenhaus Seepark, Debstedt bei Bremerhaven, auf Grund der Einweisungsbescheinigung des prakt. Arztes Dr. … aufgenommen. Nachdem die EK den Krankenhaus-Einweisungsschein mit der Bitte um Kostengarantie erhalten hatte, lehnte diese durch Bescheid vom 1. August 1963 gegenüber dem Versicherten St.… die Übernahme der Krankenhauskosten unter Hinweis darauf ab, daß bei seinem Kind eine Körperbehinderung i.S. des § 39 Abs. 1 Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vorläge, jedoch keine krankenhausbehandlungsbedürftige Krankheit nach § 184 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Eine Abschrift dieses Bescheides ging dem Kläger zu. Den Bescheid focht der Versicherte nicht an, er stellte vielmehr einen Antrag auf Sozialhilfe bei der Sozialabteilung des Landkreises Rotenburg/Hann. Der Kläger übernahm vorläufig die Kosten und machte nach § 1531 RVO einen Ersatzanspruch bei der EK über die Pflegekosten für das Kind Gernot in der Zeit vom 18. Juni bis 21. September 1963 in Höhe von 2.016,– DM geltend. Diesem Ersatzanspruch fügte er eine ärztliche Bescheinigung des Landesarztes für Körperbehinderte, Chefarzt Dr. M…, Debstedt, vom 12. November 1963 bei. Die Beklagte lehnte diesen Ersatzanspruch ab. Daraufhin hat der Kläger Klage erhoben und Kostenersatz auch für weitere stationäre Behandlung des Kindes in der Zeit vom 26. Oktober bis 19. Dezember 1964 sowie vom 15. Februar bis 9. April 1965, außerdem Kosten für die durchgeführte “Mütterschulung” für die Zeit vom 15. bis 19. Dezember 1964 geltend gemacht, und zwar nunmehr insgesamt 4930,– DM Krankenhausbehandlungskosten für das Kind Gernot und 165,60 DM Kosten der stationären Mütterschulung.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen.
Zur Begründung hat es ausgeführt, daß die Bindungswirkung des den Leistungsanspruch ablehnenden Bescheides vom 1. August 1963 keine erneute Prüfung zulasse, ob dem Versicherten St.… ein Anspruch gegen die EK zustehe.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Krankenhausbehandlungskosten für das Kind Gernot St.… in Höhe von 4.930,– DM zu ersetzen. Die weitergehende Berufung hat es als unzulässig verworfen: Der Kläger stütze seinen Ersatzanspruch gegen die Beklagte auf § 1531 RVO, er mache mithin einen originären Anspruch geltend, der neben den Leistungsanspruch des Versicherten trete. Der EK stehe kein Recht zur Leistungsverweigerung wegen Verzögerung der Aufnahmemitteilung und wegen verspäteter Unterrichtung durch den Kläger zu; denn sie hätte ermessenswidrig gehandelt, wenn sie allein deswegen, weil nicht schon vor der beabsichtigten Einweisung ihre Zustimmung eingeholt worden sei, den Ersatz der Aufwendungen des Klägers ablehnen würde. Nach den eingeholten fachorthopädischen Äußerungen hätten sich durch die stationäre Behandlung des Kindes Gernot die Klumpstellung der Hände mit je zwei Fingern ausgleichen und die Hände, in Mittelstellung bringen lassen. Das Kind sei in die Lage versetzt worden zu gehen, und bestehende Gleichgewichtsstörungen hätten beseitigt werden können. Weiter sei es durch die intensive physikalische sowie krankengymnastische und beschäftigungstherapeutische Behandlung möglich gewesen, das Kind zum Spielen zu bringen. Durch die späteren Behandlungen sei eine weitere Kräftigung der Muskulatur sowohl des Rumpfes als auch der Arme erreicht worden, und durch die stationäre Behandlung vom 26. Oktober bis 19. Dezember 1964 habe das Kind mit einer pneumatischen Prothese, mit Greifarm links und einem Kleinkinderhook nicht nur versorgt werden können, sondern es habe auch gelernt, die Funktion ausgezeichnet zu beherrschen. Danach sei die Notwendigkeit der stationären Krankenhausbehandlung des Kindes Gernot in den Zeiträumen vom 18. Juni bis 21. September 1963, vom 26. Oktober bis 19. Dezember 1964 und vom 15. Februar bis 9. April 1965 zu bejahen. Die EK hätte die Krankenhaus pflege nicht verweigern dürfen, ohne die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens zu überschreiten. Mithin sei ein Anspruch i.S. des § 1531 RVO gegeben; das bedeute, daß sie verpflichtet sei, dem Kläger in voller Höhe die tatsächlichen Kosten zu ersetzen. Hinsichtlich der aus der stationären Mütterschulung entstandenen Ausbildungs- und Lebenshaltungskosten der Mutter des Kindes Gernot hat das LSG die Berufung nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), als unzulässig verworfen, da der Beschwerdewert mit 165,60 DM unter 500,– DM liege.
Gegen dieses Urteil hat die EK die zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung geltend gemacht, es habe nicht die Gefahr einer Verschlimmerung des Krüppelzustandes oder die Notwendigkeit der Behebung von Beschwerden bestanden, so daß sie nicht verpflichtet gewesen sei, dem Kind Gernot stationäre Behandlung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der beklagten EK ist unbegründet.
Die Revision kann nicht schon deswegen Erfolg haben, weil die EK den von dem Versicherten St.… erhobenen Leistungsanspruch durch Bescheid vom 1. August 1963 ihm gegenüber bindend abgelehnt hatte. Der Kläger stützt seinen Ersatzanspruch gegen die EK auf § 1531 RVO. Er macht keinen übergegangenen – abgetretenen – Anspruch aus § 182 ff RVO geltend, sondern einen selbständigen – originären – Anspruch, der neben den Leistungsanspruch des Versicherten tritt (BSG 3, 57; BSG v. 22. Mai 1969 in SozR Nr. 24 zu § 1531 RVO Bl. Aa 21 f). Es kann dahinstehen, ob eine Bindungswirkung des Bescheides vom 1. August 1963 für den Ersatzanspruch des Klägers schon deswegen ausscheidet, weil der Kläger nicht in einem Unterordnungsverhältnis zur Beklagten steht; jedenfalls hat der Bescheid der EK, der an den Versicherten St.… gerichtet war und lediglich durch- schriftlich an das Landessozialamt gesandt wurde, nicht in die Rechtssphäre des Klägers eingegriffen und demnach keine Bindungswirkung für den Anspruch des Klägers auf Ersatz seiner Aufwendungen gehabt (vgl. BSG 24, 155, 156; auch Urteil des Senats vom 18. Juni 1968 in SozR Nr. 2 zu § 1509a aF, Urteil des Senats vom 22.11.1968 – 3 RK 20/66 – sowie BSG vom 22. Mai 1969 aaO).
Wie der Senat schon wiederholt entschieden hat, kann das Gebrechen eines Körperbehinderten (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 BSHG, früher § 1 Abs. 1 und 2 KBG) zugleich eine Krankheit i.S. des Versicherungsrechts sein (BSG 13, 134, 136; 16, 177, 178; 20, 129, 131). Das Gebrechen ist dann eine Krankheit, wenn und soweit es als regelwidriger Körper- oder Geisteszustand einer Heilbehandlung zugänglich und bedürftig ist; Behandlungsbedürftigkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn der Leidenszustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann (vgl. Urteile des Senats vom 17. Oktober 1969 sowie vom 18. November 1969, SozR Nr. 36 und 37 zu § 182 RVO). Eine Verschlimmerungsgefahr braucht dabei nicht in der Weise “unmittelbar” zu drohen, daß ohne sofortige Behandlung mit dem alsbaldigen Eintritt einer wesentlichen Verschlimmerung zu rechnen ist. Es genügt vielmehr, daß sich das Gebrechen, wenn es unbehandelt bliebe, mit Wahrscheinlichkeit verschlimmern würde und daß dem Eintritt einer solchen Verschlimmerung am besten, d.h. mit der größten Aussicht auf Erfolg, durch eine möglichst frühzeitige Behandlung entgegengewirkt wird (vgl. das zuletzt genannte Urteil des Senats unter Hinweis auf Peters, Festschrift für Bogs 1959, S. 292, 298 f; zur Behandlung im Frühstadium vgl. auch BSG 13, 136 und zur Frage der Verschlimmerungsgefahr bei Dauerleiden BSG 26, 240, 443).
Das LSG hat auf Grund der eingeholten fachorthopädischen Äußerungen des Chefarztes Dr. M…, der Ärztin Dr. G… und des Arztes Dr. B… festgestellt, daß bei dem Kind Gernot St.… durch die ihm zuteil gewordene stationäre orthopädische Behandlung nicht nur eine spätere Verschlimmerung verhindert, sondern vor allem eine Besserung des Leidenszustandes erreicht worden ist, obwohl der Grunddefekt (Eingliedrigkeit der Arme, Dysplasie beider Schultergelenke, Fehlen des Ellenbogengelenks, Hand mit lediglich zwei Fingern) selbst nicht zu beheben war. Die genannten Sachverständigen haben nämlich ausgeführt, daß sich durch die intensive physikalische, krankengymnastische und beschäftigungstherapeutische Behandlung die Klumpstellung der Hand ausgleichen und die Hand in Mittelstellung bringen ließ, so daß sich die Finger vor der Brust gerade berühren konnten. Durch die Behandlung ist Gernot St.… ferner zum Gehen gekommen; Gleichgewichtsstörungen, die infolge des Fehlens der Arme bestanden, konnten beseitigt werden. Auch ist er jetzt in der Lage, mit den Fingern gegenseitig Gegenstände zu halten. Durch eine der Art des Leidens angepaßte Heilbehandlung, zu der auch ein Prothesentraining gehören kann, wie es in der Zeit vom 26. Oktober bis 19. Dezember 1964 im wesentlichen durchgeführt wurde, ließ sich mithin eine nicht unwesentliche Besserung der Körperfunktion erzielen. Schon das genügt für die Annahme von Behandlungsbedürftigkeit (vgl. SozR Nr. 37 zu § 182 RVO). Gernot St.… litt somit zu der fraglichen Zeit an einer behandlungsbedürftigen, nur durch stationäre Behandlung beeinflußbaren Krankheit, deren Kosten die EK bei richtiger Ausübung ihres Verwaltungsermessens hätte übernehmen müssen und die sie deshalb dem – vorläufig eingetretenen – Kläger nach §§ 1531, 1533 Nr. 2 RVO in vollem Umfang zu erstatten hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Unterschriften
Spielmeyer, Schroeder-Printzen
Senatspräsident Dr. Langkeit ist beurlaubt und kann deswegen nicht unterschreiben.
Fundstellen