Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Einstufung eines Betonbauers in das vom BSG entwickelte Mehrstufenschema
Orientierungssatz
1. Ein ungelernter Betonbauer, der nach der Tarifgruppe IV (gehobener Baufacharbeiter) der Lohntabelle für das Baugewerbe im Land Niedersachsen beschäftigt worden ist, ist innerhalb des Mehrstufenschemas der Gruppe der angelernten Arbeiter zuzuordnen.
2. Bei der Gruppe der angelernten Arbeiter handelt es sich um eine "inhomogene und vielschichtige Berufsgruppe" (vgl BSG 15.11.1983 1 RJ 112/82 = SozR 2200 § 1246 Nr 109). In diese fallen nicht nur Versicherte, deren Qualifikation bereits durch eine betriebliche Ausbildung von nur drei Monaten gekennzeichnet ist, sondern auch solche, die einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildung bis zu zwei Jahren absolviert haben. Letztere dürfen nicht mehr auf alle Tätigkeiten der unteren Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten verwiesen werden, vielmehr scheiden für eine Verweisung solcher im Arbeitsleben relativ hoch angesiedelter Versicherten ungelernte Tätigkeiten nur ganz geringen qualitativen Werts als nicht mehr zumutbar aus. Die zumutbaren Verweisungstätigkeiten müssen sich durch Qualitätsmerkmale, zB durch das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse auszeichnen. Hierzu muß mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret bezeichnet werden (so auch BSG 28.11.1985 4a RJ 51/84 = SozR 2200 § 1246 Nr 132).
3. Zur Frage der qualitativen Bewertung der Tätigkeit eines Betonbauers.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 13.03.1985; Aktenzeichen L 2 J 364/84) |
SG Braunschweig (Entscheidung vom 18.09.1984; Aktenzeichen S 5 J 337/83) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der im Jahre 1927 geborene Kläger arbeitete nach einer nicht abgeschlossenen Lehre als Fliesenleger als Hilfsarbeiter, Bauarbeiter und seit 1958 als Betonbauer. Zuletzt war er tariflich in die Gruppe IV "Gehobener Baufacharbeiter" eingestuft. Das letzte Beschäftigungsverhältnis endete am 25. August 1982 wegen Arbeitsmangels. Seitdem ist der Kläger arbeitslos.
Seinen im Juni 1983 gestellten Antrag auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 31. August 1983 ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg. In seinem Urteil vom 18. September 1984 ging das Sozialgericht (SG) Braunschweig davon aus, daß der Kläger wie ein gelernter Maurer den Berufsschutz eines Facharbeiters genieße. Zumutbare Verweisungstätigkeiten kämen für ihn wegen seines Alters und seines Gesundheitszustandes nicht mehr in Betracht. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hatte Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Niedersachsen vom 13. März 1985). Das LSG ging davon aus, daß die vom Kläger zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Betonbauers nicht der eines Facharbeiters mit einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von zwei oder mehr Jahren entspreche. Vielmehr habe der Kläger einen Anlernberuf ausgeübt. Dies ergebe sich aus dem Tarifsystem. Als angelernter Arbeiter im Sinne des von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufen-Schemas müsse sich der Kläger auf alle Tätigkeiten eines ungelernten Arbeiters verweisen lassen, sofern diese nicht zu den einfachsten gehörten. Hierzu bedürfe es keiner konkreten Benennung einer zumutbaren Verweisungstätigkeit, auch nicht unter dem Gesichtspunkt, daß der Kläger nach der Qualität der von ihm verrichteten Arbeit einem Facharbeiter nahestehe. Der Kläger habe die Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit bis zu zwei Jahren nicht abgeschlossen und auch eine gleichwertige betriebliche Ausbildung nicht durchlaufen. Die für den Kläger in Betracht kommenden Arbeitsplätze gebe es in hinreichender Zahl.
Gegen die Rechtsauffassung des LSG wendet sich der Kläger mit seiner vom Senat zugelassenen Revision. Er trägt vor, er habe den Beruf eines Betonbauers vollwertig ausgeübt. Hierbei handele es sich um einen anerkannten Lehrberuf. Die gegenteiligen Feststellungen des LSG stützten sich ausschließlich auf eine Arbeitgeberauskunft und seien deswegen verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Die dem Arbeitgeber mitgeteilten Fragen seien weder einschlägig noch vollständig gewesen. Das LSG hätte weiteren Beweis darüber erheben müssen, daß die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten eines Betonbauers denen eines gelernten Betonbauers in jeder Beziehung entsprochen hätten. Aber auch dann, wenn er nur Arbeiten verrichtet haben sollte, die eine abgeschlossene Berufsausbildung von zwei Jahren zur Voraussetzung hätten, gehöre er nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Berufsgruppe der Facharbeiter. Mindestens müsse ihm als angelernten Arbeiter nach dem Urteil des erkennenden Senates vom 28. November 1985 (4a RJ 51/84) eine zumutbare Verweisungstätigkeit konkret bezeichnet werden.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 18.9.1984 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitsrente verneint, weil er als angelernter Bauarbeiter noch zumutbare Verweisungstätigkeiten ausüben könne, die nicht konkret benannt werden müßten. Der Auffassung des LSG kann nicht in allen Punkten gefolgt werden.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt nach Satz 2 aaO "der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist", alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit "zugemutet werden können". Das Gesetz verlangt hiernach von dem Versicherten, daß er, immer bezogen auf seinen "bisherigen Beruf", einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt und sich vor Inanspruchnahme einer Rente mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufrieden gibt (BSGE 41, 129, 131). "Zugemutet werden" iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO können dem Versicherten alle von ihm - nach seinen gesundheitlichen Kräften und seinen beruflichen Kenntnissen und Fertigkeiten - ausführbaren, auch "berufsfremden" Tätigkeiten, die nach ihrer im Gesetz angeführten positiven Kennzeichnung - Ausbildung und deren Dauer und Umfang, besondere Anforderungen, Bedeutung des Berufs im Betrieb -, dh nach ihrer Qualität im bisherigen Beruf nicht zu fern stehen (vgl zB BSG in SozR Nr 22 zu § 45 des Reichsknappschaftsgesetzes -RKG-; BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr 4; BSGE 41, 129, 132 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; SozR § 1246 Nr 27, 29 und ständige Rechtsprechung). Zur praktischen Ausführung dieser Rechtssätze ist das BSG aufgrund einer Beobachtung der tatsächlichen Gegebenheiten der Arbeits- und Berufswelt zu der generellen Feststellung gelangt, daß sich Arbeiterberufe nach ihrer Leistungsqualität in folgende drei hierarchisch geordnete Gruppen aufgliedern: Die unterste Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten, die mittlere Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (mit sonstiger, dh nicht dem Facharbeiter entsprechender Ausbildung) und die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten (Facharbeiter). Darüber steht die zahlenmäßig kleine Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion, dem der besonders qualifizierte Facharbeiter gleichzubehandeln ist ("Vierstufen-Schema", vgl zB BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSGE 45, 276, 278 = SozR 2200 § 1246 Nr 27, 29, 51, 85, 86 und 95 sowie in ständiger Rechtsprechung, vgl etwa SozR 2200 § 1246 Nr 126). Als iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbarer beruflicher Abstieg hat die angeführte Rechtsprechung des BSG jeweils den Abstieg zur nächstniedrigeren Gruppe angenommen. Hiernach kann zB ein Versicherter, der nach seinem bisherigen Beruf in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters fällt, auf Tätigkeiten in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (sonstiger Ausbildungsberuf) verwiesen werden, nicht aber auf die Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten (BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 und 21 und fortan in ständiger Rechtsprechung, vgl zB BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr 107 mit zahlreichen Nachweisen). In die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten fallen Berufe mit einer Regelausbildung "bis zu zwei Jahren"; die Gruppe der Gelernten wird durch eine Regelausbildung von mehr als zwei Jahren, regelmäßig von drei Jahren, gekennzeichnet (vgl aus der jüngeren Rechtsprechung des BSG zB BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr 107; SozR aaO Nr 109 und die Entscheidung des erkennenden Senats vom 4. April 1984 - 4 RJ 111/83 - mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Hiernach ist nicht zu beanstanden, daß das LSG dem Kläger nicht den Status eines Facharbeiters zuerkannt hat. Eine einschlägige Berufsausbildung hat der Kläger nicht durchlaufen. Er hat, wie vom LSG festgestellt und zwischen den Beteiligten unstreitig ist, die Tätigkeiten eines "Gehobenen Baufacharbeiters" der Tarifgruppe IV der Lohntabelle für das Baugewerbe im Land Niedersachsen vollwertig ausgeübt. In diese Tarifgruppe sind Facharbeiter im Sinne des von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Mehrstufen-Schemas, dh Arbeiter mit einer Berufsausbildung von mehr als zwei Jahren nur im ersten Jahr ihrer Berufstätigkeit eingestuft. Weder aus den Feststellungen des LSG noch aus dem Vorbringen des Klägers geht hervor, daß die tarifliche Einstufung nicht der beruflichen Qualifikation oder dem qualitativen Wert der erbrachten Leistungen entsprochen hätte. Insoweit bedurfte es keiner weiteren Sachaufklärung durch das LSG. Die Zuordnung des Klägers zu einer Gruppe des Mehrstufen-Schemas - Facharbeiter oder angelernte Arbeiter - hingegen ist das Ergebnis der rechtlichen Würdigung eines festgestellten Sachverhaltes. Sie geschieht nach den von der Rechtsprechung vorgegebenen Kriterien.
Von der Ausbildung und den Kenntnissen und Fertigkeiten her ist der Kläger kein Facharbeiter iS des Mehrstufenschemas. Nach § 1 Nr 1 Buchst b der Verordnung über die Berufsausbildung der Bauwirtschaft vom 8. Mai 1974 (BGBl I S 1073), zuletzt geändert durch die vierte Änderungsverordnung vom 17. Dezember 1981 (BGBl I S 1480), findet nach einer zweijährigen Ausbildung in der Industrie eine Abschlußprüfung, im Handwerk eine Zwischenprüfung statt (§ 38). Nach Ablegung dieser Prüfung kann die Ausbildung fortgesetzt werden und endet mit der Abschlußprüfung. Erst dadurch wird die Eigenschaft eines Facharbeiters begründet (so Urteil des erkennenden Senates vom 7. August 1986 - 4a RJ 73/84 - zur Veröffentlichung bestimmt). Hiernach gehört der Kläger nicht in die Berufsgruppe der Facharbeiter; denn er hat weder die Abschlußprüfung abgelegt noch (tariflich) gleichwertige Tätigkeiten ausgeübt.
Mit Recht hat daher das LSG den Kläger der Gruppe der angelernten Arbeiter zugeordnet. Hierbei handelt es sich um eine "inhomogene und vielschichtige Berufsgruppe" (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 109 S 347). In diese fallen nicht nur Versicherte, deren Qualifikation bereits durch eine betriebliche Ausbildung von nur drei Monaten gekennzeichnet ist, sondern auch solche, die einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildung bis zu zwei Jahren absolviert haben. Letztere dürfen nicht mehr auf alle Tätigkeiten der unteren Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten verwiesen werden, vielmehr scheiden für eine Verweisung solcher im Arbeitsleben relativ hoch angesiedelter Versicherten ungelernte Tätigkeiten nur ganz geringen qualitativen Werts als nicht mehr zumutbar aus. Die zumutbaren Verweisungstätigkeiten müssen sich durch Qualitätsmerkmale, zB durch das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse auszeichnen. Hierzu muß mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret bezeichnet werden (so Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1985 - 4a RJ 51/84 = SozR 2200 § 1246 Nr 132 S 425).
Die Tarifgruppe IV, in die der Kläger zuletzt eingestuft war, umfaßt ua Arbeitnehmer, die die erste Stufe der Ausbildung erfolgreich absolviert haben, mithin über Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, die nach einer zweijährigen Ausbildung erworben werden. Unangegriffen stellt das LSG fest, daß der Kläger diese Ausbildung nicht durchlaufen, sondern sich die für die Ausübung seines Berufs erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen durch langjährige Tätigkeit als Bauarbeiter angeeignet hat. Hiervon ausgehend hätte das LSG unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG Feststellungen darüber treffen müssen, welche zumutbaren Verweisungstätigkeiten für den Kläger noch in Betracht kommen; es hätte mindestens eine Tätigkeit konkret bezeichnen müssen, um die BU verneinen zu können. Dies ist hier nicht geschehen, so daß die auf tatsächlichem Gebiet liegenden Feststellungen nachgeholt werden müssen.
Nach allem war auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen