Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Verweisung eines Fliesenlegers auf Werkstattschreiber. Angestelltenberuf. mangelnde Sachaufklärung
Orientierungssatz
1. Eine Verweisung auf berufsfremde Tätigkeiten ist grundsätzlich zulässig und nicht auf den Versicherungszweig beschränkt, in dem der Versicherte im "bisherigen Beruf" versicherungspflichtig gewesen ist (vgl BSG 30.11.1983 5a RKn 28/82 = SozR 2200 § 1246 Nr 110).
2. Das Tatsachengericht verletzt seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dann, wenn von seinem sachlich rechtlichen Standpunkt aus die ermittelten Tatsachen zur Urteilsfindung noch nicht ausreichten und sich das Gericht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen mußte (vgl BSG 20.2.1963 12 RJ 504/62 = SozR Nr 40 zu § 103 SGG).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.08.1984; Aktenzeichen L 2 J 104/84) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 05.11.1980; Aktenzeichen S 6 J 198/78) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit gemäß § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der im Jahre 1935 geborene Kläger war bis 1958 im erlernten Beruf als Fliesenleger tätig. Bis Ende März 1969 erhielt er von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit. Ab März 1972 war er als Rolladenarbeiter beschäftigt. Wegen der Folgen eines im Oktober 1976 erlittenen Verkehrsunfalls gewährte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 22. Februar 1978 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit von 1. Oktober 1977 bis zum 31. Juli 1978.
Im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens hat die Beklagte einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit bis zum 30. September 1978 anerkannt. Die weitergehende Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 5. November 1980). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 25. Januar 1982 die Entscheidung des SG geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Oktober 1978 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Soweit er darüber hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt hat, ist seine Berufung zurückgewiesen worden. Auf die Revision der Beklagten hat der erkennende Senat am 1. Februar 1984 das Urteil des LSG aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen. Nunmehr hat das LSG die Berufung des Klägers, mit der er nur noch Rente wegen Berufsunfähigkeit über den 30. September 1978 hinaus begehrt hat, zurückgewiesen (Urteil vom 13. August 1984). Es ist bei der Prüfung des Rentenanspruchs von einem bisherigen Beruf des Klägers iS des § 1246 Abs 2 RVO als Fliesenleger ausgegangen. Da er noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten ohne langes Gehen und Stehen sowie häufiges Ersteigen von Leitern und Gerüsten, ohne Tragen von Lasten oder in kniender Arbeitshaltung ausführen könne, sei er in der Lage, die Tätigkeit eines Werkstattschreibers zu verrichten. Diese gehöre zur Gruppe der angelernten Arbeiter, so daß sich der Kläger darauf zumutbar verweisen lassen müsse.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 1246 Abs 2 RVO sowie der §§ 103, 128 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts vom 13. August 1984 sowie das Urteil des Sozialgerichts vom 5. November 1980 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 22. Februar 1978 in der Gestalt des Ausführungsbescheides vom 12. Dezember 1980 zu verurteilen, ihm über den 30. September 1978 hinaus Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision hinsichtlich des gestellten Hauptantrags zurückzuweisen.
Hinsichtlich des Hilfsantrags stellt die Beklagte keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
Das angefochtene Urteil kann auf der vom Kläger gerügten Verletzung des § 103 SGG beruhen. Diese Bestimmung schreibt dem Gericht vor, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verletzt das Tatsachengericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dann, wenn von seinem sachlich rechtlichen Standpunkt aus die ermittelten Tatsachen zur Urteilsfindung noch nicht ausreichten und sich das Gericht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen mußte (BSG in SozR Nrn 7 und 40 zu § 103 SGG; SozR 2200 § 160 Nrn 5 und 49). Das ist hier der Fall.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 3. August 1984 im Berufungsverfahren vorgetragen, bei dem Verkehrsunfall vom 17. Oktober 1976 habe er außer den Unfallfolgen auf orthopädischem Fachgebiet noch ein Schädelhirntrauma erlitten. Er leide seitdem sehr stark unter Vergeßlichkeit und unter einer Konzentrationsschwäche. Außerdem träten häufig Kopfschmerzen auf. Bestehe bei ihm eine traumatische Hirnleistungsschwäche als Folge des Verkehrsunfalls, so sei er wohl kaum in der Lage, die Tätigkeit eines Werkstattschreibers zu verrichten. Das LSG ist dem Antrag des Klägers, eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung durchführen zu lassen, nicht gefolgt. Dazu heißt es im angefochtenen Urteil vom 13. August 1984, Hinweise darauf, daß der Kläger als gelernter Facharbeiter, der jetzt erst im 50. Lebensjahr stehe, infolge des 1976 erlittenen Schädelhirntraumas geistig oder psychisch nicht in der Lage sei, die Tätigkeit eines Werkstattschreibers auszuführen sowie die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten innerhalb von drei Monaten zu erlernen, hätten die Ermittlungen nicht ergeben. Der Sachverständige Dr. Sch., von dem im Auftrage des SG ein internistisches Gutachten erstattet worden sei, habe bei seiner Untersuchung des Klägers am Kopf sowie hinsichtlich des Gehörs und der Augenreaktion ebenso regelrechte Befunde erhoben wie bei der grob neurologischen Prüfung des Zentralnervensystems. In psychischer Hinsicht habe der Kläger ein adäquates Verhalten gezeigt. Vergeßlichkeit oder Konzentrationsschwäche seien nicht festgestellt worden. Folglich könne nicht davon ausgegangen werden, daß das Schädelhirntrauma zu einer Verminderung der geistigen Leistungsbreite oder zu psychischen Veränderungen in einem für den Einsatz im genannten Verweisungsberuf maßgeblichen Umfang geführt habe.
Die so begründete Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit des Werkstattschreibers ist, wie der Kläger zutreffend rügt, verfahrensfehlerhaft zustandegekommen. Schon bei der Untersuchung des Klägers durch Dr. Sch., auf der dessen Gutachten vom 3. Juli 1980 beruht, hatte der Kläger über mehrmals pro Woche auftretende Kopfschmerzen im Stirn- und Schläfenbereich sowie über Flimmern vor den Augen geklagt. Dieser Zustand habe sich seit dem Unfall 1976 erheblich verschlimmert. Mit Schriftsatz vom 3. August 1984 hat der Kläger substantiiert bestritten, gesundheitlich in der Lage zu sein, die Tätigkeit eines Werkstattschreibers ausführen zu können. Auch sei er nicht in der Lage, sich die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten in einer Einarbeitungszeit von drei Monaten Dauer anzueignen. Bei dieser Sachlage hätte das LSG sich gedrängt fühlen müssen, die vom Kläger beantragte Beweiserhebung durchzuführen und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Amts wegen einzuholen. Der Hinweis auf das Gutachten von Dr. Sch. ist nicht geeignet, eine weitere Sachaufklärung als überflüssig erscheinen zu lassen. Von diesem Sachverständigen ist ein fachinternistisches Gutachten eingeholt worden. Demzufolge hat er sich auf eine grob neurologische Prüfung des Zentralnervensystems beschränkt und sich in seiner Beurteilung nicht dazu geäußert, inwieweit der Kläger durch gesundheitliche Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet in der Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ist durch eine fachärztliche Untersuchung nicht objektiviert worden, ob die vom Kläger vorgebrachten und auf das im Jahre 1976 erlittene Schädelhirntrauma zurückgeführten Beschwerden tatsächlich bestehen und seine Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben herabsetzen. Das LSG hätte sich daher gedrängt fühlen müssen, dem Beweisantrag des Klägers stattzugeben und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Amts wegen einzuholen.
Auf der gerügten Verletzung des § 103 SGG kann das Urteil des LSG beruhen. Wenn sich bei weiteren Ermittlungen ergeben hätte, daß der Kläger in seiner geistigen und psychischen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist, dann hätte er möglicherweise nicht auf die als angelernt qualifizierte Tätigkeit des Werkstattschreibers verwiesen werden dürfen. Die gebotene Sachaufklärung wird das LSG daher noch durchzuführen haben.
Kommt das LSG erneut zu dem Ergebnis, daß der Kläger noch als Werkstattschreiber eingesetzt werden kann, so scheitert eine solche Verweisung nicht an den vom Kläger dagegen vorgebrachten Bedenken. Er meint, eine Verweisung auf die Tätigkeit des Werkstattschreibers komme schon deshalb nicht in Betracht, weil dieser nach § 3 Abs 1 Nr 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu den Angestellten gehöre. Ein bislang nur als Arbeiter versicherungspflichtig Beschäftigter dürfe nicht im vorgerückten Alter auf einen Angestelltenberuf verwiesen werden. Wie der 5a Senat bereits entschieden hat (BSGE 56, 64, 66f = SozR 2200 § 1246 Nr 110), ist eine Verweisung auf berufsfremde Tätigkeiten grundsätzlich zulässig und nicht auf den Versicherungszweig beschränkt, in dem der Versicherte im "bisherigen Beruf" versicherungspflichtig gewesen ist. Zwar wird der Versicherte bei einem berufsfremden Einsatz häufig überfordert sein. Das ist aber allein eine Frage tatsächlicher Feststellungen und es muß - wie immer - geprüft werden, ob der Versicherte die in Aussicht genommene Tätigkeit aufgrund seines Gesundheitszustandes sowie seines Wissens und Könnens nach kurzer Einarbeitung verrichten kann. Im übrigen hat das LSG hier den Kläger nicht auf einen Angestelltenberuf verwiesen, denn es hat sich ausdrücklich auf den Werkstattschreiber im Rahmentarifvertrag der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen bezogen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen