Leitsatz (amtlich)
Zum Versicherungsschutz beim Austausch eines Schulbuches außerhalb der Schule zwischen Schülern, denen gemeinsam das Buch von der Schule mit der Anordnung des Austausches zur Verfügung gestellt wurde.
Leitsatz (redaktionell)
Für einen Schüler stellt ein Lesebuch ein Arbeitsgerät dar.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 549 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.01.1983; Aktenzeichen L 3 U 96/80) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 11.03.1980; Aktenzeichen S 4 U 178/79) |
Tatbestand
Der am 10. März 1965 geborene Kläger erlitt am Nachmittag des 29. September 1977 einen Unfall, nachdem er einem Mitschüler ein Schulbuch überbracht hatte. Dieser Unfall hatte eine Schädelimpressionsfraktur sowie ein Gehirntrauma zur Folge.
Der Kläger besuchte während des Schuljahres 1977/78 die 6. Klasse der Hauptschule N.. Da zu Beginn des Schuljahres nicht genügend Lesebücher vorhanden waren, wurde zunächst jeweils zwei Schülern, ua dem Kläger und dem Mitschüler P. M., ein Lesebuch zugeteilt. Die erste Hausaufgabe im Fach "Deutsch" wurde den Schülern am Mittwoch, den 28. September 1977, für Freitag, den 30. September 1977 mit der Maßgabe erteilt, daß das dazu benötigte Lesebuch am Donnerstag, den 29. September 1977 während des Unterrichts innerhalb der eingeteilten Gruppen ausgetauscht werden sollte. Der Gruppe des Klägers und des M. hatte sich ein weiterer Mitschüler, P. L., angeschlossen, da er von seinem Tauschpartner A. A. das Lesebuch nicht erhalten habe. Es konnte nicht mehr aufgeklärt werden, aus welchem Grunde dies nicht geschehen war, aus dem Klassenbuch konnte eine Abwesenheit des A. nicht festgestellt werden. Die drei Mitschüler vereinbarten untereinander, daß zunächst L. das Lesebuch an sich nehmen sollte. Am Donnerstag erhielt es dann der Kläger, der es, nachdem er seine Hausaufgaben angefertigt hatte, am späten Nachmittag seinem Mitschüler M. überbrachte, da dieser das Buch nicht abholen konnte. Auf dem Rückweg von der Wohnung des M. ereignete sich gegen 16.45 Uhr der Unfall.
Der Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab (Bescheid vom 22. Mai 1978). Das Sozialgericht (SG) Regensburg wies die dagegen erhobene Klage ab. Auf die Berufung des Klägers hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das angefochtene Urteil auf und verwies die Streitsache zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das SG Regensburg zurück. Aufgrund der Bekundungen der Lehrerin H. und des Direktors der Hauptschule H. sah es das Gericht als erwiesen an, daß die Lehrerin von diesem Dreiertausch keine Kenntnis hatte. Da somit eine entsprechende Weisung der Lehrerin nicht bestanden hatte, hat das SG einen Unfallversicherungsschutz wiederum verneint und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. März 1980). Die Berufung des Klägers hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 25. Januar 1983). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, daß der Unfall des Klägers zweifelsfrei außerhalb des schulischen Verantwortungsbereichs und damit in der unversicherten privaten Sphäre eingetreten sei. Weder habe ein Auftrag der Schule bestanden, das Lesebuch dem Zeugen M. zur Unfallzeit zu überbringen, noch habe durch den Schulbuchmangel eine Zwangslage bestanden, die eine derartige Verpflichtung herausgefordert habe. Die von der Zeugin H. getroffene Regelung, daß jeweils zwei Schüler ein Buch für die Hausaufgaben benutzen sollten und der Austausch im Unterricht stattfinden sollte, habe gerade Risiken ausschließen sollen, die mit der Zurücklegung von Wegen außerhalb des Unterrichts verbunden sein könnten. Eine einleuchtende Erklärung für die Bildung der Dreiergruppe habe sich nicht finden lassen, da der Mitschüler A. den Unterricht nach Auskunft der Schule während der gesamten Woche besucht habe. Nach Ansicht des Senats erscheine es am ehesten wahrscheinlich, daß das Abweichen von der Regelung der Lehrerin private Gründe gehabt habe. Auch ein Versicherungsschutz gemäß § 549 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nicht gegeben, da dem Kläger das Lesebuch allgemein als Lehrmittel zugeteilt gewesen sei, die Beförderung somit im Zusammenhang mit der Erledigung von Hausaufgaben im häuslichen Bereich erfolgt sei und damit in keinem inneren ursächlichen Zusammenhang mit dem Schulunterricht gestanden habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger habe unter Versicherungsschutz gestanden, als er seinem Mitschüler das Buch überbracht habe. Die Tätigkeit, bei der der Unfall geschehen sei, sei zwar durch die Schule nicht konkret angeordnet worden, der Schüler hätte aber aufgrund der gesamten Umstände und insbesondere aufgrund einer einmal gegebenen "Generalanordnung" damit rechnen können und dürfen, daß im konkreten Fall eine erneute Anordnung durch die Lehrerin bei entsprechender Befragung auch ergangen wäre. Der Kläger habe somit eine schulische Aufgabe verrichtet, der Transport des Buches sei nicht dem Hausaufgabenbereich zuzurechnen gewesen, dem Mitschüler sollte vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, seine Hausaufgaben anzufertigen. Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Versicherungsschutz mangels ausdrücklichen Auftrages der Lehrerin nicht bestanden habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 25. Januar 1983 und des SG Regensburg vom 11. März 1980 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Unfall vom 29. September 1977 als Arbeitsunfall anzuerkennen und ihm die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Der Kläger hat unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden, als er am 29. September 1977 verunglückte.
Der Kläger hat den Unfall bei der im ursächlichen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO) stehenden Beförderung eines Arbeitsgerätes (§ 549 RVO) erlitten. Diese Vorschrift ist auch im Rahmen der Schülerunfallversicherung anwendbar, weil § 549 RVO seiner Zweckbestimmung nach den Versicherungsschutz gerade auf den Bereich der sonst dem Versicherungsschutz entzogenen privaten Lebenssphäre des Versicherten erstreckt (BSG SozR 2200 § 549 Nrn 2 und 6; SozR 2200 § 550 Nr 32; Urteil vom 30. August 1984 - 2 RU 17/83 - zur Veröffentlichung vorgesehen).
§ 549 RVO enthält keine Legaldefinition des Begriffs "Arbeitsgerät". Sein Inhalt muß daher aus dem Sinn und Zweck der Regelung heraus bestimmt werden (BSGE 41, 102, 105; SozR 2200 § 549 Nr 2). Entscheidend ist, daß der Gegenstand hauptsächlich zur Verrichtung versicherter Tätigkeiten gebraucht wird (BSGE 24, 243, 246; 41, 102, 106). Es kommt auf die betriebliche Tätigkeit der versicherten Person und ihrer arbeitsmäßigen Erfordernisse an (BSG Urteil vom 30. August 1984 - 2 RU 17/83 -; Vollmar, SozVers 1958, 322, 323). Für einen Schüler dient ein Lesebuch seiner Zweckbestimmung nach hauptsächlich dem Schulbesuch (vgl BSG SozR 2200 § 549 Nr 6). Vorliegend war das Lesebuch dem Kläger und seinem Mitschüler M. von der Schule zum gemeinsamen Gebrauch zur Verfügung gestellt worden, es stellte somit für beide ein gemeinsames Arbeitsgerät dar.
Allerdings steht die Beförderung eines Arbeitsgerätes nicht schlechthin unter Versicherungsschutz. Weitere Voraussetzung ist, daß die zum Unfall führende Tätigkeit des Klägers im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand.
Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) weder bei Schülern noch bei Lernenden in den im § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b und c RVO aufgeführten Einrichtungen von einem umfassenden Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der jeweiligen Einrichtung ausgegangen werden kann (BSGE 35, 207, 211; 41, 149, 151; 44, 94, 97 und 100, 102; 51, 257, 259; 55, 141, 143; BSG SozR 2200 § 539 Nrn 53, 54; USK 79208; BSG Urteile vom 29. April 1982 - 2 RU 49/80 -, vom 19. Mai 1983 - 2 RU 44/82 - unveröffentlicht und vom 31. Januar 1984 - 2 RU 74/82 - zur Veröffentlichung vorgesehen).
Hier sollte durch das Überbringen des Lesebuches vom Kläger an den Zeugen M. dieser die Möglichkeit erhalten, seine Hausaufgaben für den nächsten Tag anzufertigen. Die Erledigung von Hausaufgaben steht zwar mit dem Besuch einer allgemeinbildenden Schule in einem wesentlichen Zusammenhang (BSGE 41, 149, 151; 55, 141, 143; BSG SozR 2200 § 539 Nr 54 und § 549 Nr 2; vgl auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl S 483n I), jedoch sind Schüler bei diesen Tätigkeiten nicht gegen Arbeitsunfall versichert, sofern sie im privaten (häuslichen) Bereich, also außerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der von ihnen besuchten Schule, verrichtet werden (vgl BSGE aaO Urteil vom 31. Januar 1984 - 2 RU 74/82 -; Brackmann aaO). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Der Austausch des für die Hausaufgaben benötigten Lesebuches diente nicht allein der Erledigung von Schulaufgaben, sondern war von der Lehrerin angeordnet und aus im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule liegenden Gründen erforderlich gewesen. Die Schule hatte, solange Lesebücher nicht für alle Schüler vorhanden waren, die Verantwortung auch für das Anfertigen der Hausaufgaben übernommen, indem die Lehrerin den Austausch der dafür benötigten Bücher regelte. Durch das Hinzutreten eines weiteren Mitschülers zu der Tauschgruppe des Klägers und des Zeugen M. konnte der von der Klägerin beabsichtigte Austausch im Unterricht nicht stattfinden. Die Tatsache, daß die Lehrerin einen Austausch in der Schule angeordnet und von der Bildung einer Dreiergruppe keine Kenntnis hatte und der Grund für die Aufnahme des Mitschülers L. in die Tauschgruppe nicht mehr aufzuklären war, ist für den Versicherungsschutz des Klägers ohne Belang. Der Kläger durfte und mußte subjektiv davon ausgehen, daß er aus im Organisationsbereich der Schule liegenden Gründen verpflichtet war, seinem Mitschüler das Buch, ihr gemeinsames Arbeitsgerät, zur Verfügung zu stellen, da dieser anderenfalls nicht mehr in der Lage gewesen wäre, seine Hausaufgaben anzufertigen. Selbst wenn die Anordnung der Lehrerin, die Bücher in der Schule auszutauschen, zugleich bezweckte, sich nicht zusätzlichen Gefahren auf den Wegen zur Wohnung des anderen Klassenkameraden und zurück auszusetzen, und deshalb ein Gebot zum Austausch der Bücher in der Schule vorgelegen hat, steht dies dem Versicherungsschutz nicht entgegen, da gem § 548 Nr 3 RVO selbst verbotswidriges Handeln einen Arbeitsunfall nicht ausschließt.
Der Kläger stand somit, als er seinem Mitschüler M. das Lesebuch überbracht hat, gemäß § 549 iVm § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Er beförderte ein Arbeitsgerät, da er den Weg nur deshalb zurückgelegt hat, weil er seinem Mitschüler das Buch überbringen wollte (vgl Brackmann aaO S 481 o). Da für den Kläger auf dem Hinweg Versicherungsschutz bestanden hat, galt dies entsprechend dem Grundsatz von der Einheit des Weges (vgl BSGE 8, 53, 55; 51, 257, 258) auch für den Rückweg, auf dem er verunglückte. Der Kläger hat sonach einen Arbeitsunfall erlitten, für dessen Entschädigung der Beklagte zuständig ist (§ 657 Abs 1 Nr 5 RVO).
Ob darüber hinaus Versicherungsschutz auch unter dem Gesichtspunkt des "Betriebsweges" bestanden hat, braucht nicht entschieden zu werden (vgl BSGE 51, 257, 259).
Da der Unfall nach den Feststellungen des LSG eine Schädelimpressionsfraktur und ein Gehirntrauma zur Folge hatte und damit der Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe besteht (s BSGE 13, 178, 181), war der Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger Entschädigung zu gewähren (§ 130 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des SGG.
Fundstellen