Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für die Zeit eines Vorpraktikums
Orientierungssatz
1. Auch Vorpraktika, die in der Ausbildungsordnung für den angestrebten Beruf nicht vorgesehen sind, können Ausbildungscharakter haben, wenn die dort zu erwerbenden Kenntnisse und Fertigkeiten notwendige fachliche Voraussetzung für die eigentliche Ausbildung und damit für den angestrebten Beruf sind, wenn sie als Teil der Ausbildung im weiteren Sinne angesehen werden müssen (vgl BSG vom 29.1.1985 10 RKg 16/84 = SozR 5870 § 2 Nr 41).
2. Der Ausbildungswillige muß das Vorpraktikum im Hinblick darauf absolvieren, daß er anschließend eine bestimmte Ausbildungsstätte besuchen will, die ein Vorpraktikum verlangt, wünscht oder empfiehlt. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn bei Beginn des Vorpraktikums ein Ausbildungsvertrag mit einer solchen Ausbildungsstätte vorliegt oder eine Zusage erteilt ist. Erfolgt der Abschluß des Ausbildungsvertrages erst während des Vorpraktikums oder wird die Zusage erst während der Ableistung des Vorpraktikums erteilt, so kann nur die nachfolgende Zeit kindergeldrechtlich berücksichtigt werden. Außerdem hängt trotz Vorliegens einer entsprechenden Zusage oder eines Ausbildungsvertrages der Anspruch auf Kindergeld ferner davon ab, daß die Ableistung eines Vorpraktikums für den angestrebten Beruf in nennenswertem Umfang (gemessen an der Zahl der Ausbildungsplätze) von Ausbildungsstätten verlangt, gewünscht oder empfohlen wird (vgl BSG vom 3.11.1987 10 RKg 13/86 = BSGE 62, 239 = SozR 5870 § 2 Nr 53).
3. Kindergeld kann nach § 2 Abs 2 S 1 Nr 1 BKGG lediglich für die angemessene Dauer eines Vorpraktikums gewährt werden. Als angemessen ist die Zeit eines Vorpraktikums anzusehen, die im Durchschnitt auch von den anderen Ausbildungsstätten für den jeweiligen Beruf verlangt oder empfohlen wird (vgl BSG vom 3.11.1987 10 RKg 13/86 = BSGE 62, 239 = SozR 5870 § 2 Nr 53).
Normenkette
BKGG § 2 Abs 2 S 1 Nr 1
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 10.11.1987; Aktenzeichen L 2 Kg 3/86) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 14.12.1985; Aktenzeichen S 11 Kg 30/84) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte ihre Entscheidung über die Bewilligung des Kindergeldes für die Tochter Monika des Klägers ab August 1984 aufheben durfte.
Monika besuchte bis einschließlich 4. Juli 1983 die zweijährige Sozialpflegeschule in M. . Vom 1. August 1983 bis zum 31. Juli 1984 leistete sie im Hospital St. N. in W. ein freiwilliges soziales Jahr. Am 20. Juli 1984 teilte der Kläger der Beklagten mit, daß seine Tochter beabsichtige, ab 1. August 1984 ein weiteres freiwilliges soziales Jahr im Wohnheim für Behinderte in D. abzuleisten. Seine Tochter wolle den Beruf einer Altenpflegerin erlernen. Mit Bescheid vom 8. August 1984 hob die Beklagte ihre Entscheidung über die Bewilligung des Kindergeldes gemäß § 48 Abs 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) ab August 1984 teilweise auf. Monika könne nicht mehr berücksichtigt werden, da sie bereits das 16. Lebensjahr vollendet habe und die in § 2 Abs 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) genannten Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Ein weiteres soziales Jahr dürfe nicht berücksichtigt werden, da die Dauer des freiwilligen sozialen Jahres nach § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 4 des Gesetzes über die Förderung des sozialen Jahres auf längstens 12 Monate begrenzt sei. Das dem Kläger bis dahin gezahlte Kindergeld kürzte die Beklagte um 220,-- DM monatlich.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, Monika für die Zeit ihres Praktikums im Heim für Behinderte in D. bei der Gewährung des Kindergeldes zu berücksichtigen. Auf die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Mit dem Beginn des Praktikums im Wohnheim für Behinderte in D. sei am 1. August 1984 eine wesentliche Änderung iS von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten. Denn die Voraussetzungen für die weitere kindergeldrechtliche Berücksichtigung der Tochter Monika seien entfallen. Nach § 2 Abs 1 Satz 2 Nr 1 BKGG in der am 1. Januar 1982 in Kraft getretenen Fassung könnten Kinder, die das 16. Lebensjahr vollendet hätten, nur berücksichtigt werden, wenn sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befänden. Entgegen der Auffassung des Klägers gehöre das von seiner Tochter absolvierte Praktikum jedoch nicht zur Berufsausbildung. Es sei keine zwingende Voraussetzung für die angestrebte Ausbildung zur Altenpflegerin. Für die Aufnahme in die Fachschule für Altenpflege des Caritas-Verbandes S. und Umgebung seien Aufnahmevoraussetzungen ua eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine dreijährige hauptberufliche Tätigkeit, davon mindestens ein Jahr mit hauswirtschaftlichen oder sozialpflegerischen Inhalten. Monika hätte nach dem Besuch der sozialen Pflegeschule somit noch einer zweijährigen Berufsausübung bedurft. Sie hätte also durchaus eine andere Berufstätigkeit ausüben können. Von der Fachschule für Altenpflege sei nur wegen "der augenblicklichen Arbeitsmarktlage" das Praktikum des Kindes als Berufstätigkeit iS der Voraussetzungen für die Aufnahme in die Pflegeschule anerkannt worden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG und macht geltend, das LSG habe die neueste Rechtsprechung des erkennenden Senats, ua das Urteil vom 3. November 1987 - 10 RKg 13/86 - nicht beachtet. Bei Beginn der Ableistung des weiteren freiwilligen sozialen Jahres vom 1. August 1984 sei von dem Ausbildungsträger das Vorpraktikum zur Erlangung des Ausbildungsplatzes empfohlen worden. Dem geltend gemachten Anspruch stehe nicht entgegen, daß die Zugangsvoraussetzungen für die angestrebte Berufsausbildung auch durch den Abschluß einer anderen Berufsausbildung oder einer zweijährigen Berufstätigkeit habe erfüllt werden können. Hierbei handele es sich auch nur um Vorpraktika.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 10. November 1987 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 4. Dezember 1985 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie macht geltend, der erkennende Senat habe in seinem Urteil vom 3. November 1987 - 10 RKg 13/86 - daran festgehalten, daß ein Vorpraktikum nur dann kindergeldrechtlich berücksichtigt werden könne, wenn es als Teil der Berufsausbildung Ausbildungscharakter habe. Es müßten danach in erster Linie berufsspezifische Vorkenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, auf die die Ausbildung in der vorgeschriebenen Ausbildungszeit entweder aufbaue oder die von der Ausbildungsstätte als notwendig oder zweckmäßig angesehen würden. Im vorliegenden Falle habe die Fachschule für Altenpflege aber gerade nicht ein Vorpraktikum verlangt, in dem berufsspezifische Vorkenntnisse und Fertigkeiten vermittelt würden, sondern eine hauptberufliche Tätigkeit irgend einer Art von mindestens zweijähriger Dauer.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz. Die Tatsachenfeststellungen des LSG reichen nicht aus, um über den geltend gemachten Anspruch zu entscheiden.
Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen könnte seit der Bewilligung des Kindergeldes dadurch eingetreten sein, daß die Tochter Monika des Klägers am 1. August 1984 mit der Ableistung eines weiteren freiwilligen sozialen Jahres begonnen hatte. Dies hängt davon ab, ob die Tätigkeit im Wohnheim für Behinderte in D. Teil der Berufsausbildung im Sinne von § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG war.
Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl SozR 5870 § 2 Nrn 32, 39 und 41), daß eine Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG nur dann vorliegt, wenn die Ausbildung Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln soll, die die Ausübung des zukünftigen Berufes ermöglichen (vgl dazu Schroeter, BKGG, Kommentar, § 2 Anm 11; Wickenhagen/Krebs, BKGG, Kommentar, § 2 Rz 84 f, insbesondere Rz 88). Auch Vorpraktika, die in der Ausbildungsordnung für den angestrebten Beruf nicht vorgesehen sind, können, wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 29. Januar 1985 (SozR 5870 § 2 Nr 41) ausgeführt hat, Ausbildungscharakter haben, wenn die dort zu erwerbenden Kenntnisse und Fertigkeiten notwendige fachliche Voraussetzung für die eigentliche Ausbildung und damit für den angestrebten Beruf sind, wenn sie als Teil der Ausbildung im weiteren Sinne angesehen werden müssen (so auch im Anschluß an den erkennenden Senat BVerwG, NJW 1987, 1566; Wickenhagen/Krebs aaO, § 2 Rz 112). In seinem Urteil vom 3. November 1987 (BSGE 62, 239, 241), das dem LSG bei seiner Entscheidung noch nicht bekannt sein konnte, hat der Senat unter teilweiser Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, daß Kindergeld für die Zeit eines Vorpraktikums unter folgenden Voraussetzungen zu gewähren ist.
Der Ausbildungswillige muß das Vorpraktikum im Hinblick darauf absolvieren, daß er anschließend eine bestimmte Ausbildungsstätte besuchen will, die ein Vorpraktikum verlangt, wünscht oder empfiehlt. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn bei Beginn des Vorpraktikums ein Ausbildungsvertrag mit einer solchen Ausbildungsstätte vorliegt oder eine Zusage erteilt ist. Erfolgt der Abschluß des Ausbildungsvertrages erst während des Vorpraktikums oder wird die Zusage erst während der Ableistung des Vorpraktikums erteilt, so kann nur die nachfolgende Zeit kindergeldrechtlich berücksichtigt werden. Außerdem hängt trotz Vorliegens einer entsprechenden Zusage oder eines Ausbildungsvertrages der Anspruch auf Kindergeld ferner davon ab, daß die Ableistung eines Vorpraktikums für den angestrebten Beruf in nennenswertem Umfang (gemessen an der Zahl der Ausbildungsplätze) von Ausbildungsstätten verlangt, gewünscht oder empfohlen wird.
Das LSG hat - aufgrund der früheren Rechtsprechung zu Recht - die hierzu notwendigen Tatsachenfeststellungen nicht getroffen. Es wird dies - nach der Zurückverweisung - nachholen müssen.
Der kindergeldrechtlichen Berücksichtigung steht auch nicht - wie das LSG meint - entgegen, daß nach den Aufnahmebedingungen der von der Tochter des Klägers besuchten Altenpflegeschule ua eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine dreijährige hauptberufliche Tätigkeit, davon mindestens ein Jahr mit hauswirtschaftlichen oder sozialpflegerischen Inhalten, genügt. Zwar verlangen die Aufnahmebedingungen nicht eine abgeschlossene Ausbildung in einem bestimmten Beruf, so daß der Erwerb spezifischer Fähigkeiten und Kenntnisse vor Beginn der Ausbildung in der Altenpflegeschule nicht vorausgesetzt wird. Offensichtlich geht die Altenpflegeschule aber davon aus, daß die mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung erworbenen allgemeinen Kenntnisse und Fähigkeiten der Ausbildung zum Altenpfleger förderlich sind. Das schließt es gedanklich nicht aus, anstelle einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder einer dreijährigen hauptberuflichen Tätigkeit ein Vorpraktikum anzuerkennen, das bereits berufsspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten für den Beruf des Altenpflegers vermittelt und deshalb auf diese Weise der späteren Ausbildung auf der Altenpflegeschule zugute kommt. Es bestehen keine sachlich einleuchtenden Gründe dafür, die Gewährung des Kindergeldes davon abhängig zu machen, ob eine Altenpflegeschule ausschließlich ein Vorpraktikum mit Ausbildungscharakter oder daneben alternativ eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine dreijährige hauptberufliche Tätigkeit verlangt. Die Eltern eines Vorpraktikanten, der später eine Altenpflegeschule besuchen will, die ein Vorpraktikum alternativ neben einer abgeschlossenen Berufsausbildung verlangt, können nicht schlechter gestellt werden. In beiden Fällen ist das Vorpraktikum Teil der Ausbildung.
Nach den bisherigen Tatsachenfeststellungen läßt sich noch nicht beurteilen, ob die von der Tochter des Klägers besuchte Fachschule für Altenpflege anstelle einer dreijährigen hauptberuflichen Tätigkeit oder einer abgeschlossenen Berufsausbildung nur ein Vorpraktikum anerkennt, das für den Beruf des Altenpflegers berufsspezifische Fähigkeiten und Kenntnisse vermittelt. Insoweit wird das LSG noch entsprechende Tatsachenfeststellungen nachholen müssen.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß nach der Entscheidung des erkennenden Senats vom 3. November 1987 (BSGE 62, 239, 242) Kindergeld nach § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG lediglich für die angemessene Dauer eines Vorpraktikums gewährt werden kann. Als angemessen ist die Zeit eines Vorpraktikums anzusehen, die im Durchschnitt auch von den anderen Ausbildungsstätten für den jeweiligen Beruf verlangt oder empfohlen wird. Auch insoweit bedarf es noch weiterer Feststellungen des LSG.
Da die Beklagte die Kindergeldbewilligung mit Bescheid vom 8. August 1984 ab August 1984 aufgehoben hat, handelt es sich bei der Entscheidung teilweise - nämlich für den Monat August 1984 - um eine Aufhebung für die Vergangenheit. Dabei ist zu beachten, daß die Beklagte insoweit möglicherweise eine Ermessensentscheidung (§ 48 Abs 1 Satz 2 SGB X: "soll"; vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 19 = BSGE 59, 111) zu treffen hatte.
Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen