Leitsatz (amtlich)
1. Seit Einführung der Versicherungspflicht auf Antrag für Beschäftigung im Ausland (AVG § 2 Abs 1 Nr 10 = RVO § 1227 Abs 1 Nr 8) durch das RVÄndG vom 1965-06-09 sind die aus ihrer Gemeinschaft ausscheidenden Mitglieder geistlicher Genossenschaften auch für Zeiten nachzuversichern, in denen sie im Ausland (für begrenzte Zeit) mit gemeinnützigen Tätigkeiten beschäftigt gewesen sind, wenn die Gemeinschaft der Nachversicherung zustimmt und zur Entrichtung der Beiträge bereit ist.
2. Von Missionaren in sogenannten "unterentwickelten Ländern" geleistete Arbeiten, die den Gemeinschaftsaufgaben der Entwicklungshilfe zuzurechnen sind, erfüllen unmittelbar wichtige nationale Anliegen der Allgemeinheit im Inland; sie sind "gemeinnützige Tätigkeiten" iS von AVG § 9 Abs 5 (= RVO § 1232 Abs 5).
Leitsatz (redaktionell)
Nachversicherung eines Ordensangehörigen nach AVG § 9 Abs 5:
Ein Ordensgeistlicher der in den Jahren 1965 bis 1970 als Seelsorger, überwiegend jedoch mit dem Aufbau und der Betreuung des Schulwesens sowie mit der notwendigen Krankenversorgung der Bevölkerung in Indonesien beschäftigt war, ist, wenn er im Jahre 1970 aus dem Orden und der Tätigkeit ausscheidet und eine Angestelltentätigkeit aufnimmt, nach AVG § 9 Abs 5 für diese Zeit nachzuversichern.
Normenkette
AVG § 9 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1232 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 10 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Juni 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger und dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist - noch - streitig, ob der Kläger für die Zeit von Juli 1965 bis Dezember 1970 nachzuversichern ist.
Der Kläger leitete ab 1959 als Priester des Redemptoristenordens (Ordensprovinz in K) eine Missionsstation in Indonesien. Er widmete sich der Seelsorge, dem Aufbau und der Betreuung des Schulwesens sowie der notwendigen Krankenversorgung der Bevölkerung; ab 1966 war er überdies Sozialdelegierter und Koordinator einer kirchlichen Entwicklungshilfe sowie Mitglied einer sozialökonomischen Kommission. Als Unterhalt erhielt er aufgrund seines Armutsgelübdes nur Naturalien; diese Versorgung war ihm zeitlebens zugesagt. Ende 1970 schied der Kläger aus dem Orden aus und wurde als Angestellter tätig.
Seinen Antrag auf Durchführung der Nachversicherung von 1959 bis 1970 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 3. September 1971 ab. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 1972). Die Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 30. August 1972 abgewiesen, weil das deutsche Sozialversicherungsrecht wegen des Territorialitätsprinzips nicht auf Missionstätigkeiten in Indonesien angewandt werden könne; auch sei die Tätigkeit nicht im Sinne von § 9 Abs. 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gemeinnützig gewesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Provinzialat der Redemptoristen zum Verfahren beigeladen und der Klage für die Zeit ab Juli 1965 stattgegeben. Es hat ausgeführt: Aufgrund der vom Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) 1965 in § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG eingeführten Pflichtversicherung auf Antrag für Deutsche, die für eine begrenzte Zeit im Ausland beschäftigt sind, könne das Territorialitätsprinzip ab Juli 1965 der Nachversicherung nicht mehr entgegenstehen. Die Vorschrift erfasse Missionstätigkeiten im engeren Sinne. Eine Versicherungsfreiheit von Ordensmitgliedern bei Auslandstätigkeiten beruhe seitdem - nur - auf dem vom Orden unterlassenen Versicherungsantrag und nicht - mehr - auf dem Territorialitätsprinzip. Die übrigen Voraussetzungen des § 9 Abs. 5 AVG in der vor dem 1. Januar 1973 geltenden Fassung (aF) habe der Kläger erfüllt; insbesondere sei er in Indonesien gemeinnützig tätig gewesen; auch die Entwicklungshilfe im Ausland sei gemeinnützig.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben.
Sie rügt die Verletzung des § 9 Abs. 5 AVG aF. Nach wie vor sei das Territorialitätsprinzip für die versicherungsrechtliche Beurteilung einer Auslandsbeschäftigung maßgebend. Die Pflichtversicherung auf Antrag ergänze es nur. Ohne solchen Antrag sei das Territorialitätsprinzip nicht zu durchbrechen. Überdies sei der Kläger nicht nur für eine begrenzte Zeit im Ausland beschäftigt gewesen.
Der Kläger ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Sämtliche Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger ab Juli 1965 bis Ende 1970 nachzuversichern ist.
Gemäß § 9 Abs. 5 Satz 1 AVG in der hier maßgeblichen bis zum 31. Dezember 1972 geltenden Fassung (vgl. BSG in SozR 2200 § 1232 Nr. 1) sind Mitglieder geistlicher Genossenschaften, die aus ihrer Gemeinschaft ausscheiden, für die Zeit nachzuversichern, in der sie aus überwiegend religiösen Beweggründen mit Krankenpflege, Unterricht oder anderen gemeinnützigen Tätigkeiten beschäftigt waren, aber der Versicherungspflicht nicht unterlagen (oder nach § 8 Abs. 3 AVG befreit waren). Diese Nachversicherungsvorschrift steht im Zusammenhang mit § 2 Abs. 1 Nr. 7 AVG aF; § 9 Abs. 5 AVG aF soll den Mitgliedern geistlicher Genossenschaften, die während ihrer Mitgliedschaft keinen Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 7 AVG erlangen konnten, nachträglich Schutz im Wege der Nachversicherung verschaffen (vgl. SozR Nr. 6 zu Art. 2 § 3 ArVNG). Im Hinblick auf diesen Zusammenhang soll die Nachversicherung nach § 9 Abs. 5 AVG an sich wohl nur für Beschäftigungszeiten erfolgen, die wegen fehlender oder wegen zu geringer Barbezüge (oder wegen einer Befreiung nach § 8 Abs. 3 AVG) nicht von § 2 Abs. 1 Nr. 7 AVG erfaßt waren; das bedeutet, daß eine Beschäftigung im Ausland hiernach nicht nachversichert werden könnte, weil § 2 Abs. 1 Nr. 7 AVG - aufgrund des Territorialitätsprinzips - nur für Beschäftigungen im Inland gilt.
Mit dem LSG meint jedoch der Senat, daß die durch § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG ab Juli 1965 eingeführte Versicherungspflicht auf Antrag für Beschäftigungen im Ausland eine neue Lage auch hinsichtlich der Auslegung des § 9 Abs. 5 AVG geschaffen hat. Der Wortlaut der Vorschrift setzt ohnedies nur voraus, daß der Ausscheidende "der Versicherungspflicht nicht unterlag"; ein bestimmter Grund ist nicht genannt; der Grund kann daher auch ein unterlassener Antrag nach § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG sein. Für ein solches Verständnis spricht jedenfalls, daß die Versicherungspflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG gerade auch für Mitglieder geistlicher Genossenschaften vorgesehen ist; ein genereller Ausschluß ihrer Auslandsbeschäftigungen von der Nachversicherung nach § 9 Abs. 5 AVG erschiene daher nicht verständlich; ihr nachträglicher Schutz bliebe dann ohne einleuchtenden Grund unvollständig.
Eine solche Nachversicherung muß freilich, um den Zusammenhang mit § 2 zu wahren, voraussetzen, daß nicht nur der Tatbestand des § 9 Abs. 5 AVG, sondern auch der des § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG erfüllt wird; es muß sich also um eine Beschäftigung handeln, in der das Mitglied der Gemeinschaft aus überwiegend religiösen Gründen mit Krankenpflege, Unterricht oder anderen gemeinnützigen Tätigkeiten beschäftigt war (§ 9 Abs. 5 AVG), und diese Beschäftigung muß im Ausland nur für eine begrenzte Zeit ausgeübt worden sein (§ 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG). Außerdem gebietet das Antragsprinzip des § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG die Einschränkung, daß die Nachversicherung nur erfolgen darf, wenn die Gemeinschaft zustimmt und zur Entrichtung der Beiträge bereit ist. In diesem Fall entsteht Niemandem ein Nachteil; vielmehr ist der Sinngehalt des § 9 Abs. 5 AVG für Mitglieder geistlicher Gemeinschaften hiermit erst voll ausgeschöpft.
Nach den Feststellungen des LSG sind diese Anforderungen erfüllt. Der Beigeladene, bürgerlich-rechtlicher Treuhänder des Ordens der Redemptoristen, hat sich gegen das Begehren des Klägers auf Nachversicherung nicht gewehrt; er hat sogar schon einen für die Beitragsentrichtung bestimmten Betrag hinterlegt. Daß der Kläger für dauernd nach Indonesien entsandt worden war, ist nicht festgestellt; § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG fordert nicht, daß die Beschäftigung im Ausland von vornherein auf eine bestimmte Zeit begrenzt ist, es ist auch keine zeitliche Höchstgrenze vorgeschrieben (Verbands-Kommentar, Rand-Nr. 30 c zu § 1227 RVO). Der Kläger war in der streitigen Zeit mit gemeinnützigen Tätigkeiten beschäftigt. Gemeinnützige Tätigkeiten gemäß § 9 Abs. 5 AVG sind Tätigkeiten im sozialen (mitmenschlichen) Bereich, die unmittelbar dem Nutzen der Allgemeinheit dienen (BSG 31, 139, 141). Bei der Auslegung des gleichen Begriffs in § 2 Abs. 1 Nr. 7 AVG hat allerdings der 3. Senat (SozR Nr. 6 zu § 2 AVG) einer Seelsorge durch Missionare für Personen im Ausland die Anerkennung als gemeinnützige Tätigkeit versagt. Ob dem zuzustimmen ist (vgl. dazu § 101 Satz 1 AVG), kann hier offen bleiben. Selbst wenn Tätigkeiten zum Nutzen von "Allgemeinheiten" des Auslands und die Seelsorge als solche nicht als gemeinnützige Tätigkeiten im Sinne des § 9 Abs. 5 AVG aF angesehen werden könnten, hat der Kläger dennoch genügend andere Tätigkeiten zum Nutzen der deutschen Allgemeinheit in Indonesien verrichtet. Nach den Feststellungen des LSG hat er dort auch das Schulwesen mit auf- bzw. ausgebaut und betreut, die Kranken mit dem Nötigsten versorgt und ab 1966 zusätzlich Funktionen in Gremien der kirchlichen Entwicklungshilfe und für den sozialökonomischen Aufbau Indonesiens wahrgenommen. Zumindest diese - gegenüber der Seelsorge nicht zurücktretenden - Tätigkeiten waren gemeinnützig, weil sie zu den Gemeinschaftsaufgaben der Entwicklungshilfe gerechnet werden müssen (s. hierzu SozR Nr. 6 zu § 2 AVG, Aa 9 unten), welche die Industrienationen einschließlich der Bundesrepublik Deutschland und auch die Kirchen im Rahmen ihrer Glaubenslehre weltweit wahrnehmen. Die einschlägige Arbeit der Mitglieder geistlicher Genossenschaften in den sogenannten "unterentwickelten Ländern" ist dem staatlich geförderten Einsatz von Entwicklungshelfern in diesen Ländern gleichzustellen; auch diese "Missionstätigkeit" verbessert die sozialökonomischen Lebensbedingungen der betreuten Personen. Die von Missionaren verrichteten Leistungen dieser Art liegen im allgemeinen politischen, wirtschaftlichen und menschlich-sittlichen Interesse; sie erfüllen damit unmittelbar wichtige nationale Anliegen der Allgemeinheit im Inland. Das kommt auch in der Vorschrift des § 2 Abs. 1 Nr. 10 AVG dadurch zum Ausdruck, daß diese Tätigkeiten auf Antrag in der deutschen Rentenversicherung zu versichern sind.
Hiernach war der Revision der Beklagten der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1651291 |
BSGE, 90 |