Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff der Fachschule

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Fachschulausbildung unter 6 Monaten stellt nur dann eine Ausfallzeit iS von AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b) dar, wenn sie eine Mindestzahl von 600 Unterrichtsstunden umfaßt; beim Zusammentreffen von theoretischer Unterweisung mit praxisbezogenen Ausbildungsformen muß der schulmäßige Unterricht zeitlich überwiegen (Weiterführung von BSG 1980-12-16 11 RA 66/79 = SozR 2200 § 1259 Nr 47 und BSG 1982-04-30 11 RA 36/81 = SozR 2200 § 1259 Nr 62).

 

Orientierungssatz

Der Begriff der Fachschulausbildung ist mangels einer Erläuterung im Gesetz im wesentlichen so auszulegen, wie er in dem vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Fachschulverzeichnis verstanden wird. Danach sind Fachschulen berufsbildende Vollzeitschulen mit einer ein bis sechs Halbjahre umfassenden Ausbildungsdauer, bei kürzerer Dauer von mindestens 600 Unterrichtsstunden.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.07.1981; Aktenzeichen L 6 An 1981/80)

SG Mannheim (Entscheidung vom 31.07.1980; Aktenzeichen S 6 An 596/79)

 

Tatbestand

Streitig ist die Vormerkung einer Ausfallzeit.

Der Kläger hat vom 17. Januar bis 13. April 1946 einen Ausbildungslehrgang für Volksschullehrer an der Hochschule für Lehrerbildung in M. besucht; danach war er als Schulhelfer im Probedienst, nahm daneben an den angeordneten Arbeitsgemeinschaften teil und legte im Juni 1947 erfolgreich die Prüfung zum Schulamtsanwärter ab.

Die Vormerkung der Zeit des Lehrgangs als Ausfallzeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 10. November 1978, Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1979); der dagegen gerichteten Klage gaben die Vorinstanzen statt. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) im Urteil vom 14. Juli 1981 ist in der Zeit vom 17.Januar bis 13. April 1946 der Ausfallzeittatbestand einer Fachschulausbildung iS von § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) erfüllt (Hinweis auf SozR 2200 § 1259 Nrn 42, 47). Nach der Auskunft des Oberschulamts K. vom 10. Juli 1979 habe der Lehrgang die Arbeitskraft der Teilnehmer voll beansprucht. An der Lehrerbildungseinrichtung sei von Dozenten der pädagogischen Hochschule und von erfahrenen Praktikern Montag bis Freitag vor- und nachmittags sowie Samstag vormittags in schulmäßiger Weise theoretisch bzw praktisch unterrichtet worden. Die Voraussetzung eines Stunden- und Lehrplans sei erfüllt gewesen; auch stünden konkrete Leistungskontrollen und die Erteilung von Zeugnissen über den Besuch des Lehrgangs fest. Demgegenüber sei nicht entscheidend, daß möglicherweise 600 Unterrichtsstunden nicht ganz erreicht worden seien. Dieses Erfordernis solle sicherstellen, daß kurzfristige und wenig konzentrierte Ausbildungsgänge nicht unter den Begriff der Ausfallzeit fielen. Der in Rede stehende Lehrgang habe aber äußerst konzentriert das sonst in wesentlich längerer Zeit zu erlangende Grundwissen vermittelt. Er unterscheide sich auch in der Form grundlegend von der in BSGE 35, 52 beurteilten Lehrerausbildung in Niedersachsen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Das LSG habe § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG verletzt. Die Ausbildung des Klägers zum Schulhelfer in einem Lehrgang von 13 Wochen mit 545 Unterrichtsstunden stelle keine Ausfallzeit der Fachschulausbildung dar. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müßten für kurzfristige Ausbildungen, die weniger als ein halbes Jahr dauerten, 600 Stunden vorausgesetzt werden. Eine dahingehende quantitative Abgrenzung sei sinnvoll und für sie, die Beklagte, unverzichtbar. Unterscheidungen anhand von anderen Begriffen führten zu erneuten Auslegungsproblemen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist mit der Maßgabe begründet, daß das Urteil de LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Ob die in Rede stehende Zeit vom 17. Januar bis 13. April 1946 als Ausfallzeit vorzumerken ist, hängt von noch fehlenden Feststellungen ab, die das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG nicht zu treffen vermag.

Nach dem als Rechtsgrundlage allein in Betracht kommenden § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG idF des Rentenreformgesetzes sind Ausfallzeiten auch Zeiten einer abgeschlossenen Fachschulausbildung bis zur Höchstdauer von vier Jahren. Der Begriff der Fachschulausbildung ist mangels einer Erläuterung im Gesetz nach der Rechtsprechung des BSG im wesentlichen so auszulegen, wie er in dem vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Fachschulverzeichnis verstanden wird (BSGE 35, 52, 53 = SozR Nr 49 zu § 1259 RVO; SozR 2200 § 1255a Nr 6 und § 1259 Nrn 42, 47; neuestens Urteil vom 30. April 1982 - 11 RA 36/81 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Danach sind Fachschulen berufsbildende Vollzeitschulen mit einer ein bis sechs Halbjahre umfassenden Ausbildungsdauer, bei kürzerer Dauer von mindestens 600 Unterrichtsstunden.

Den vom BSG unter Zuhilfenahme des dergestalt umschriebenen Begriffs der Fachschulausbildung bislang entschiedenen Streitfällen lagen, soweit ersichtlich, ausschließlich Sachverhalte zugrunde, in denen die Ausbildung sich über die Zeit von einem halben Jahr hinaus erstreckt hatte (SozR aaO; s auch Urteil des 1. Senats vom 22. September 1981 - 1 RA 37/80). Insoweit hat der erkennende Senat in SozR 2200 § 1259 Nr 47 zur sog 600-Stunden- Grenze ausgeführt, mit ihr würden, um einen Vollzeitunterricht annehmen zu können, nicht mindestens 600 Unterrichtsstunden pro Halbjahr vorausgesetzt. Nach Wortlaut und Sinn diene die im Fachschulverzeichnis angegebene Zahl von 600 Unterrichtsstunden vielmehr dazu, kurzfristige Maßnahmen (wie Umschulungs-, Meister- und Ergänzungskurse), soweit sie ein halbes Jahr nicht überstiegen, von einer Fachschulausbildung abzugrenzen; es sei anzunehmen, daß unter sechs Monate liegende Maßnahmen nur bei einem besonders intensiven Unterricht berücksichtigt werden sollten, der nicht nur über eine etwaige (zeitliche) Untergrenze, sondern auch über den normalen Umfang eines Vollzeitunterrichts hinausgehe.

Diese Gedankengänge weisen die Richtung für die Entscheidung des vorliegenden Falles, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die in Rede stehende Ausbildung die Zeit von Mitte Januar bis Mitte April, dh nur etwa 3 Monate und damit weit weniger als ein halbes Jahr umfaßt hat. Bei einer solchen Konstellation ist in erster Linie aus Abgrenzungsgründen auf eine Mindestzahl an Unterrichtsstunden nicht zu verzichten. Die Notwendigkeit hierfür leitet sich aus dem Gesetzeszweck her. Im Hinblick darauf hat das BSG bislang stets betont, daß der Gesetzgeber nur bestimmte Ausbildungen als Ausfallzeiten habe berücksichtigen wollen; daher habe er bewußt davon abgesehen, Ausbildungszeiten schlechthin den Charakter von Ausfallzeiten zu verleihen; hieran könnten Hinweise auf den Wert und die Förderung von Ausbildungen im allgemeinen und auf deren Zweckmäßigkeit, Üblichkeit oder Erforderlichkeit für den späteren Beruf im besonderen nichts ändern (s zB SozR Nr 46 zu § 1259 RVO). Demgemäß wurden eine Zeit des Lehrgangsbesuchs an einer Heimvolkshochschule, der Vorbereitung auf die Zweite juristische Staatsprüfung sowie eine berufliche Umschulungszeit nicht als Ausfallzeit betrachtet (SozR Nrn 23, 30, 38 zu § 1259 RVO). Werden zusätzlich zu diesen Beweggründen noch Gesichtspunkte der finanziellen Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft durch die Anrechnung von beitragslosen Zeiten und solche der Überschaubarkeit und Praktikabilität hinzugenommen, dann muß bei Ausbildungszeiten an Fachschulen unter 6 Monaten eine Mindestzahl von Unterrichtsstunden alles in allem als unumgänglich angesehen werden.

Für die zu fordernde Mindestzahl kommt als Richtschnur das Fachschulverzeichnis in Betracht, das bei einer weniger als ein Halbjahr umfassenden Fachschulausbildung mindestens 600 Unterrichtsstunden aufführt, dh rund 100 Stunden im Monat oder rund 24 Stunden in der Woche. Damit zieht das Fachschulverzeichnis die Grenze bei der in der Regel üblichen durchschnittlichen Unterrichtszeit an einer (Fach-)Schule; auf diese Weise wird es dem Begriff des Vollzeitunterrichts gerecht, wie er für eine Vollzeitschule vorauszusetzen ist. Weniger kann auch für die Fachschulausbildung in § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG nicht angesetzt werden. Denn eine Anrechnung von Zeiten aufgrund dieser Vorschrift aus Gründen des Schutzes des Versicherten vor Nachteilen, die dadurch eintreten, daß er wegen seiner Berufsausbildung unverschuldet gehindert war, einer pflichtversicherten Beschäftigung nachzugehen (vgl dazu BT-Drucks II/2437 S 74; BSGE 41, 41, 49), erfordert es, daß die Ausbildung geeignet war, das für einen künftigen Beruf notwendige Wissen umfassend zu vermitteln. Dazu bedarf es eines Unterrichtsangebots, das nach seinem Umfang dem Bild eines Fachschulunterrichts entspricht; dabei kann die Dauer durch eine besondere Intensität ausgeglichen werden. Bei einer Ausbildungsdauer von weniger als 6 Monaten sind 600 Unterrichtsstunden hierfür aber das Minimum; eine geringere Stundenzahl vermag der Senat lediglich unter dem Gesichtspunkt einer - vom Gesetz nicht erfaßten - anderweitigen "Ausbildung" iS einer Fortbildung bzw Weiterbildung zu sehen. Von einem besonders intensiven Unterricht (innerhalb einer kürzeren als der normalen Ausbildungszeit von wenigstens einem halben Jahr) kann jedenfalls dann nicht mehr die Rede sein (s dazu SozR 2200 § 1259 Nr 47). Handelt es sich jedoch nicht (mehr) um eine - intensive - Wissensvermittlung zum Zwecke der Berufsausbildung, dann stellt die betreffende Zeit keine Ausfallzeit dar.

Liegt die Grenze bei 600 "Unterrichtsstunden", so sind für § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG darunter indessen nicht notwendigerweise ausschließlich schulmäßige Unterrichtsstunden zu verstehen. Es kann der Eigenart auch einer fachschulmäßigen Ausbildung entsprechen, daß die theoretische Unterweisung durch praxisbezogene Komponenten ergänzt wird. Insoweit hat der erkennende Senat in der bereits aufgeführten Entscheidung vom 30. April 1982 - 11 RA 36/81 - es allerdings für unerläßlich angesehen, daß beim Zusammentreffen mit anderen Ausbildungsformen (Formen der Beobachtung praktischer Berufstätigkeit und der Übung eigener praktischer Berufstätigkeit) der schulmäßige Unterricht zeitlich überwiegt. Dies muß auch hier gelten. Denn es ist kein Anhalt ersichtlich, kürzere Ausbildungen in diesem Punkt abweichend zu behandeln; auch bei ihnen kommt der Gedanke zum Tragen, daß Ausbildungsverhältnisse der betrieblichen (berufspraktischen) Ausbildung zuzuordnen sind, wenn auf den schulmäßigen Unterricht weniger als die Hälfte der Ausbildungszeit (der Ausbildungsstunden), zu der häusliche Vor- bzw Nachbereitung des Unterrichtsstoffes in keinem Falle zählt, entfällt.

Ob der vom Kläger vom 17. Januar bis 13. April 1946 durchlaufene Ausbildungslehrgang für Volksschullehrer den Anforderungen im Hinblick auf die Stundenzahl im eben erläuterten Sinne entsprach, hat das LSG nicht festgestellt; nach seiner Ansicht kam der Tatsache, "daß möglicherweise eine Unterrichtsstundenzahl von 600 nicht ganz erreicht worden ist, keine entscheidende Bedeutung zu". Dem vermag der Senat aus den angegebenen Gründen nicht zu folgen. Da er die fehlenden tatsächlichen Feststellungen nicht treffen darf, wird das LSG dies zu tun haben. Nach dem Inhalt der vom Oberschulamt K. unter dem 10. Juli 1979 erteilten Bescheinigung läßt sich nicht ausschließen, daß den Teilnehmern des Lehrgangs mindestens 600 Stunden Unterricht ("Vollarbeitszeit") erteilt worden ist. Sollte dies zutreffen, dann wird es im weiteren darauf ankommen, ob der "theoretische" den "praktischen" Unterricht überwogen hat. Die übrigen im Rahmen von § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen hat das LSG zu Recht angenommen.

Die Sache war nach alledem an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659892

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