Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisungstätigkeit. rechtliches Gehör
Orientierungssatz
Werden die Beteiligten - (hier: bei Verweisung eines Kunststoffschlossers auf Tätigkeit als Auslieferungsfahrer) - mit einer Tatsachenwürdigung überrascht, für die bisher keine Hinweise vorhanden waren, so ist das rechtliche Gehör verletzt (so auch BSG vom 15.10.1986 5b RJ 24/86 in SozR 1500 § 62 Nr 20).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2; SGG § 128 Abs 2, § 62
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 04.07.1988; Aktenzeichen L 2b J 287/87) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 22.10.1987; Aktenzeichen S 4 J 235/86) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger, dem bis Ende Februar 1986 Rente auf Zeit gewährt worden ist, darüber hinaus Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.
Der im Jahre 1948 geborene Kläger hat von 1965 bis 1968 den Beruf eines Kunststoffschlossers erlernt und darin bis 1981 gearbeitet. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 18. April 1983 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 6. Januar 1982 bis zum 28. Februar 1986. Die im Dezember 1985 beantragte Weitergewährung dieser Rente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Juni 1986 ab. Trotz der beim Kläger festgestellten Erkrankung des Zentralnervensystems könne er in vollen Schichten leichte Arbeiten im Sitzen und Stehen ohne Nacht- und Wechselschicht sowie ohne besonderen Zeitdruck verrichten. Bei der Prüfung des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ging die Beklagte von einem bisherigen Beruf des Klägers als Kunststoffschlosser aus, den er noch verrichten könne.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Oktober 1987). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 4. Juli 1988 die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. März 1986 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Hinsichtlich des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ist die Berufung zurückgewiesen worden. Das LSG hat ausgeführt, der Kläger leide wahrscheinlich an einer Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose), die erstmals 1981 diagnostiziert worden und seither nicht fortgeschritten sei. Die objektiven Befunde ließen keine gravierenden neurologischen Ausfälle erkennen. In psychischer Hinsicht sei eine Fixierung auf das Beschwerdebild unverkennbar. Der Kläger sei nicht gehindert, leichte Arbeiten im Sitzen fortgesetzt, im Stehen mit Unterbrechungen ohne Nacht- oder Wechselschicht, besonderen Zeitdruck sowie ohne besondere Anforderungen an das Farbsehen und das Hörvermögen in vollen Schichten zu verrichten. Ausgehend von einer bisherigen Berufstätigkeit als Facharbeiter sei der Kläger berufsunfähig.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine unrichtige Anwendung des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und eine Verletzung der §§ 136 Abs 1 Nr 6, 128 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 sowie 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht zu.
Das LSG ist bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO von einer bisherigen Berufstätigkeit des Klägers als gelernter Kunststoffschlosser ausgegangen und hat ihn der durch den Leitberuf des Facharbeiters gekennzeichneten Berufsgruppe zugeordnet. Das beanstandet die Beklagte. Sie streitet nicht ab, daß der Kläger den Beruf des Kunststoffschlossers erlernt und diese Ausbildung mit einer Prüfung erfolgreich abgeschlossen hat. Bis zu seiner Erkrankung ist er als Facharbeiter eingesetzt und entlohnt worden. Die Beklagte selbst hat ihm im angefochtenen Bescheid den Facharbeiterstatus zugestanden und sich im Berufungsverfahren nicht gegen die damit übereinstimmende Beurteilung des SG gewandt. Gleichwohl, so führt die Beklagte nun zur Begründung der Revision aus, hätte das LSG sich gedrängt fühlen müssen, den beruflichen Status des Klägers näher abzuklären.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung die tarifliche Einstufung als zuverlässiges Indiz für die Qualität einer Tätigkeit angesehen (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 140 und 129 mwN). Im allgemeinen ist bei einem nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrag davon auszugehen, daß die tarifliche Einstufung auf der Qualität der Tätigkeit beruht. Bei hinreichenden konkreten Anhaltspunkten, die im Einzelfall für eine Einstufung aufgrund von qualitätsfremden Merkmalen sprechen, können sich die Tatsachengerichte zu Ermittlungen über die Qualität der vom Versicherten ausgeübten Tätigkeit gedrängt fühlen. Ist eine Tätigkeit tariflich erfaßt, dann ist eine von der Einstufung abweichende Bestimmung des qualitativen Werts nur zulässig, wenn feststeht, daß die tarifliche Einstufung dem qualitativen Wert nicht entspricht (so Urteil des erkennenden Senats vom 3. Oktober 1984 aaO Nr 123 mwN). Weder das Vorbringen der Beklagten noch die Feststellungen des LSG im angefochtenen Urteil lassen solche Anhaltspunkte für eine unrichtige tarifliche Einstufung der Tätigkeit des Klägers erkennen. Die Tatsache, daß der Kläger seinen bisherigen Beruf schon vor dem Inkrafttreten der Verordnung über die Berufsausbildung zum Kunststoffschlosser vom 21. Juli 1976 (BGBl I 1877) ausgeübt hat, ist nicht geeignet, die Indizwirkung der tariflichen Einstufung in Frage zu stellen.
Da der Kläger seinen bisherigen Beruf als Kunststoffschlosser aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten kann, hat das LSG geprüft, ob er auf eine andere Tätigkeit verweisbar ist und dazu den Fahrer im Arzneimittel- oder Tabakwarengroßhandel sowie in anderen vergleichbaren Bereichen in Erwägung gezogen. Die Möglichkeit einer solchen Verweisung hat das Berufungsgericht jedoch verneint. Es hat ausgeführt, bei der genannten Tätigkeit handele es sich arbeitsrechtlich um eine Anlerntätigkeit, die nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel in Schleswig-Holstein in der Lohngruppe V eine Stufe unter den Facharbeitern vergütet werde. Diese Gruppe erfasse Tätigkeiten, die den Facharbeitern gleichzusetzende Fertigkeiten und Kenntnisse erforderten. Um die Arbeit eines Warenausfahrers zu verrichten, sei jedoch eine echte betriebliche Ausbildung von wenigstens drei Monaten Dauer nicht erforderlich. Nicht wegen ihrer Qualität werde die Tätigkeit tariflich wie ein sonstiger Ausbildungsberuf bewertet. Sie sei rasch erlernbar und jedem zugänglich, der den Führerschein besitze und über eine normale Intelligenz verfüge. Dies schließe eine Qualifikation als sonstiger Ausbildungsberuf (angelernte Tätigkeit) aus.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sind Facharbeiter auf Tätigkeiten verweisbar, die zu den sonstigen, staatlich anerkannten Ausbildungsberufen - mit Ausnahme also der Facharbeiter - gehören oder eine echte betriebliche Ausbildung von wenigstens drei Monaten Dauer erfordern oder wegen ihrer Qualität wie sonstige Ausbildungsberufe bewertet werden (vgl BSG aaO Nrn 16, 17, 21, 109, 147). Die tarifliche Einstufung des Warenausfahrers spricht dafür, daß diese Voraussetzungen erfüllt sind. Die entsprechende Indizwirkung hat das LSG jedoch als widerlegt angesehen. Allerdings hat es seine Erkenntnis, die Tätigkeit werde nicht wegen ihrer Qualität tariflich wie ein sonstiger Ausbildungsberuf bewertet, nicht näher begründet. Bei einer Eingruppierung eine Stufe unter den Facharbeitern und bei Tätigkeitsmerkmalen, die die Gruppe allgemein kennzeichnen und die den Facharbeitern vergleichbare Fertigkeiten und Kenntnisse verlangen, hätte die relativ hohe Einstufung praktisch ohne Ausbildung näher geprüft und erläutert werden müssen. So ist die angefochtene Entscheidung des LSG nicht nachprüfbar.
Das Berufungsgericht hat die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit eines Warenausfahrers noch mit einer weiteren Begründung verneint. Der Auslieferungsfahrer müsse sein Fahrzeug selbst beladen. Die Lieferungen könnten teilweise auch mittelschwere Lasten umfassen. Solche Arbeiten seien dem Kläger nicht zuzumuten. Diese Feststellungen hat das LSG aufgrund der Aussage des berufskundlichen Sachverständigen K. getroffen. Zu Recht rügt die Beklagte, daß dieser sich nicht zum Schweregrad der Arbeiten eines Auslieferungsfahrers geäußert hat. Seine Aussage lautet ausweislich der Niederschrift vom 4. Juli 1988: "Die in der ersten Instanz benannte Tätigkeit als Warenausfahrer kann ich bestätigen". Dann folgen Angaben zu Einarbeitungszeit, zu Vorkenntnissen und dem erforderlichen Führerschein, nicht aber darüber, ob der Auslieferungsfahrer mittelschwere Arbeiten verrichten muß. Auf die Aussage des Sachverständigen K. läßt sich die Feststellung des LSG bezüglich der vom Auslieferungsfahrer zu leistenden mittelschweren Arbeiten nicht stützen. Da der Sachverständige beim Gabelstaplerfahrer ausdrücklich auf derartige Belastungen hingewiesen und diese Tätigkeit folglich für den Kläger abgelehnt, andererseits aber den Warenausfahrer bejaht hat, konnten die Beteiligten nicht damit rechnen, daß das LSG zu den von ihm getroffenen Feststellungen gelangen würde. Der Beklagten ist, wie sie zu Recht rügt, das rechtliche Gehör versagt worden (§ 62 SGG). Dieser Grundsatz soll gewährleisten, daß den Beteiligten von Amts wegen die Möglichkeit gegeben wird, sich zu jedem tatsächlichen Vorbringen und zu allen Beweisergebnissen zu äußern (§ 128 Abs 2 SGG). Werden die Beteiligten - wie hier - mit einer Tatsachenwürdigung überrascht, für die bisher keine Hinweise vorhanden waren, so ist das rechtliche Gehör verletzt (so Urteil des erkennenden Senats vom 15. Oktober 1986 in SozR 1500 § 62 Nr 20).
Das LSG wird demnach noch zu prüfen haben, aus welchen Gründen der Auslieferungsfahrer tariflich relativ hoch eingestuft ist, ob dabei qualitätsfremde Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben und welches körperliche Leistungsvermögen für diese Tätigkeit notwendig ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen