Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachaufklärung. Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

Begehrt ein Beschädigter vor der Versorgungsbehörde und dem SG die Anerkennung weiterer Leiden neben den bereits anerkannten Schädigungsfolgen verbunden mit einer Erhöhung der MdE, so kann das LSG aus der Tatsache, daß der Kläger diesen Anspruch in der Berufung nicht ausdrücklich benennt, nicht folgern, er habe die Geltendmachung fallen gelassen.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 27.03.1961)

SG Lüneburg (Entscheidung vom 12.09.1960)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. März 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Mit Bescheid vom 16. Juli 1951 - "Umanerkennungsbescheid" - stellte das Versorgungsamt (VersorgA) II Hannover bei dem Kläger "Verlust des rechten Beines im oberen Oberschenkelviertel (Stumpflänge vom Rollhügel gemessen 11 cm)" als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) fest, es bewilligte dem Kläger eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H.

Mit späteren Anträgen begehrte der Kläger die Feststellung, daß auch seine Lungentuberkulose Schädigungsfolge sei, sowie die Gewährung einer höheren Rente und einer Pflegezulage. Die Versorgungsbehörden lehnten diese Anträge mit den Bescheiden vom 26. Januar 1952 und vom 18. September 1952 ab; das Sozialgericht (SG) Lüneburg wies die Klage am 28. Mai 1954 ab; das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen sprach mit Urteil vom 26. Juni 1956 dem Kläger eine Rente nach einer MdE von 90 v.H. zu; im übrigen wies es die Berufung zurück; dieses Urteil wurde rechtskräftig.

Am 2. Mai 1957 beantragte der Kläger erneut, seine Rente zu erhöhen und ihm eine Pflegezulage zu bewilligen, er machte geltend, daß sich sein Leidenszustand durch die anerkannte Schädigungsfolge (Verlust des rechten Oberschenkels) und durch sein Lungenleiden und sein Herzleiden, die ebenfalls Schädigungsfolgen seien, verschlimmert habe. Das VersorgA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 7. November 1958 ab. Der Kläger wandte sich gegen diesen Bescheid mit einer Eingabe vom 14. November 1958 an das Niedersächsische Sozialministerium. Am 21. Dezember 1959 erhob er Klage beim SG Lüneburg. Das SG wies die Klage mit Urteil vom 12. September 1960 ab, weil noch kein Widerspruchsbescheid ergangen sei. Der Kläger legte Berufung ein. Der Beklagte sah nunmehr die Eingabe des Klägers vom 14. November 1958 als Widerspruch an; er wies den Widerspruch mit Bescheid vom 5. Januar 1961 zurück; in diesem Bescheid heißt es u.a., eine Verschlimmerung in den bei dem Kläger anerkannten Schädigungsfolgen (Oberschenkelverlust) sei nicht eingetreten; soweit der Kläger ein Herzleiden als Schädigungsfolge geltend mache, sei darauf hinzuweisen, daß bei der ärztlichen Untersuchung des Klägers im März 1948 kein Herzleiden festgestellt worden sei; sollte sich inzwischen ein Herzleiden entwickelt bzw. verschlimmert haben, so sei dieses Leiden schon deshalb nicht Schädigungsfolge, weil der zeitliche Zusammenhang mit dem Wehrdienst fehle; über die Lungentuberkulose und die Pflegezulage sei bereits durch Urteil des LSG Niedersachsen vom 28. Juni 1956 im verneinenden Sinne rechtskräftig entschieden worden.

Mit Urteil vom 27. März 1961 wies das LSG Niedersachsen die Berufung des Klägers zurück; es führte aus, der angefochtene Bescheid des Beklagten (Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 1961) sei rechtmäßig; der Beklagte habe zu Recht die Voraussetzungen für eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge des Klägers nach § 62 des BVG verneint; eines Beweises darüber, inwieweit eine Änderung des Zustandes in dem anerkannten Versorgungsleiden tatsächlich eingetreten sei, habe es nicht bedurft, da die zulässige Grenze für den Umfang der durch Rentenleistung zu gewährenden Entschädigung durch die zugebilligte Beschädigtenrente nach einer MdE von 90 v.H. bereits erreicht sei; soweit der Kläger in dem bisherigen Verfahren noch weitere Gesundheitsstörungen - Lungen- und Herzleiden - als Schädigungsfolge geltend gemacht habe, ließen seine Schriftsätze vom 31. Januar 1961 und vom 4. Februar 1961 erkennen, daß er den Antrag auf Erhöhung der Versorgungsbezüge darauf nicht mehr stützen wolle, eine Entscheidung sei deshalb insoweit nicht notwendig.

Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 24. April 1961 zugestellt. Der Kläger legte am 23. Mai 1961 Revision ein; er beantragte,

die Entscheidung der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Rente nach einer MdE von 100 v.H. und Pflegezulage zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 27. März 1961 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 22. Juli 1961; er führte aus, das LSG habe nicht genügend geprüft, ob sich sein Leidenszustand wegen des als Schädigungsfolge anerkennten Oberschenkelverlustes inzwischen so verschlimmert habe, daß jetzt die Bewilligung einer Rente nach einer MdE von 100 v.H. und einer Pflegezulage gerechtfertigt seien; es habe auch zu Unrecht keine Feststellungen darüber getroffen, ob seine anderen Gesundheitsstörungen - Herz- und Lungenleiden - mit dem Versorgungsleiden zusammenhingen und inwieweit sie den Leidenszustand des Klägers beeinflußten. Das LSG habe gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen und die Vorschriften der §§ 35 und 62 BVG verletzt.

Der Beklagte stellte keinen Antrag.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

II.

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Der Kläger rügt mit Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln.

Das LSG hat die angefochtenen Bescheide vom 7. November 1958 und 5. Januar 1961, mit denen der Beklagte den Antrag des Klägers auf "Neufeststellung der Versorgungsbezüge" nach § 62 BVG abgelehnt hat, nicht als rechtmäßig ansehen dürfen, ohne über die "weiteren Gesundheitsstörungen" - Lungen- und Herzleiden -, die der Kläger als Schädigungsfolgen geltend gemacht hat, zu entscheiden. Der Kläger hat mit seinem Antrag auf Erhöhung der Rente und Bewilligung einer Pflegezulage auch geltend gemacht, daß sich sein Leidenszustand verschlimmert habe und daß jetzt Hilflosigkeit im Sinne des BVG vorliege, weil sich sein Lungenleiden und sein Herzleiden, die seiner Meinung nach ebenfalls Schädigungsfolgen seien, ausgewirkt hätten. Der Beklagte hat auch in dem angefochtenen Bescheid vom 5. Januar 1961 (Widerspruchsbescheid) die "Neufeststellung der Versorgungsbezüge" nach § 62 BVG deshalb abgelehnt, weil ein Herzleiden bei dem Kläger im Jahre 1948 nicht festgestellt worden sei und, wenn es später entstanden sein sollte, keine Schädigungsfolge sei, und weil außerdem bereits rechtskräftig entschieden worden sei, daß das Lungenleiden des Klägers keine Schädigungsfolge sei. Das LSG hat nicht schon aus den Schreiben des Klägers vom 31. Januar 1961 und 4. Februar 1961 entnehmen dürfen, daß der Kläger das Lungenleiden und das Herzleiden nicht mehr als Schädigungsfolge geltend machen wolle und daß er seinen Antrag auf "Neufeststellung der Versorgungsbezüge" nicht mehr auf diese Gesundheitsstörungen stützen wolle. Der Kläger hat sich in dem genannten Schreiben gegen den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 5. Januar 1961 gewandt, weil darin nach seiner Ansicht zu Unrecht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge abgelehnt worden ist und ihm die Rente nach einer MdE von 100 v.H. sowie die Pflegezulage versagt worden sind; er hat dabei zwar nicht ausdrücklich erwähnt, daß er den angefochtenen Bescheid auch insoweit für unrichtig halte, als dieser Bescheid sich mit seinem Herzleiden und seinem Lungenleiden befaßt hat; er hat aber weder ausdrücklich erklärt, noch auch nur angedeutet, daß er die "Geltendmachung des Herz- und Lungenleidens als Schädigungsfolge fallen lasse" und nur eine neue Beurteilung der bereits anerkannten Schädigungsfolgen begehre. Das LSG hat davon ausgehen müssen, daß der Kläger den Bescheid vom 5. Januar 1961 in vollem Umfange hat anfechten wollen und daß er im Zweifel alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, die nach seiner Ansicht für die Beurteilung seines Anspruchs auf Neufeststellung der Versorgungsbezüge haben bedeutsam sein können, hat geltend machen wollen. Da keine ausdrückliche und keine eindeutige Erklärung des Klägers vorgelegen hat, daß er sein Herzleiden und Lungenleiden nicht mehr als Schädigungsfolgen geltend machen und hierauf seinen Anspruch auf Neufeststellung der Versorgungsbezüge nicht mehr stützen wolle, hat das LSG "eine Entscheidung" insoweit nicht als entbehrlich ansehen dürfen; es hat vielmehr auch insoweit die rechtserheblichen Feststellungen treffen müssen. Das LSG hat danach prüfen müssen, ob sich der Beklagte zu Recht darauf berufen hat, daß der Kläger das Lungenleiden nicht mehr als Schädigungsfolge geltend machen und Pflegezulage nicht beanspruchen kann, weil insoweit bereits rechtskräftig entschieden sei; es hat auch ermitteln müssen, ob der Kläger ein Herzleiden hat, ob dieses Leiden Schädigungsfolge, insbesondere Folge des Oberschenkelverlustes ist und inwieweit der Leidenszustand durch "neue Schädigungsfolgen" beeinflußt worden ist.

Da das LSG dies nicht getan hat, hat es insoweit die Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG); es hat insoweit auch die Pflicht, sich seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden (§ 128 SGG), nicht voll erfüllt. Der Kläger hat den Verstoß gegen diese Verfahrensvorschriften in der nach § 164 Abs. 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist sonach nach § 162 Abs. 1 Kr. 2 SGG statthaft; sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und somit zulässig.

Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG bei der Entscheidung darüber, ob der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid zu Recht eine Änderung der Verhältnisse (§ 62 BVG) verneint hat, zu einem anderen Ergebnis kommt, wenn es auch über die "weiteren Gesundheitsstörungen" des Klägers - Herz- und Lungenleiden - die rechtserheblichen Feststellungen trifft.

Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann, da die tatsächlichen Feststellungen des LSG unvollständig sind, nicht in der Sache selbst entscheiden, die Sache ist vielmehr zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2277275

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