Entscheidungsstichwort (Thema)
Verjährung von Rentenansprüchen. Verjährungseinrede als Ermessenentscheidung
Orientierungssatz
1. Die Fälligkeit von Rentenleistungen iS des § 29 Abs 3 RVO tritt in der Regel mit der Entstehung des Rentenanspruchs ein, so daß auch die vierjährige Verjährungsfrist nach dieser Vorschrift mit der Entstehung des Anspruchs beginnt (vgl BSG 1971-12-21 GS 4/71 = BSGE 34, 1).
2. Ist der Versicherungsträger nicht aus vorangegangenem eigenen Tun an der Erhebung der Verjährungseinrede verhindert, so kann diese Ermessensentscheidung im Rechtswege nur darauf geprüft werden, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 27.07.1971) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. Juli 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten besteht Streit, ob der Klägerin die Witwenrente nach § 1268 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch für die Zeit von Januar 1957 bis September 1965 zusteht.
Die Klägerin beantragte im September 1969 die Gewährung von Witwenrente aus der Versicherung ihres bereits im Jahre 1939 verstorbenen Ehemannes. Die Beklagte bewilligte die Rente für die Zeit von Oktober 1965 an und berief sich hinsichtlich des Rentenbeginns auf die Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 RVO (Bescheid vom 18. November 1969). Die dagegen erhobene Klage wurde nach Erteilung eines ablehnenden Widerspruchsbescheides wieder zurückgenommen. Bereits vorher hatte die Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1970 erneut Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte zur Zahlung der Witwenrente auch für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. September 1965 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage des Eintritts der Fälligkeit i.S. des § 29 Abs. 3 RVO. Danach habe die Verjährungsfrist erst mit der Antragstellung im September 1969 zu laufen begonnen. Die von der Klägerin seit der Entstehung des Rentenanspruchs am 1. Januar 1957 (Art. 2 § 25 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -ArNVG-) begehrten Leistungen seien deshalb nicht verjährt (Urteil vom 27. Juli 1971).
Anstelle der vom SG zugelassenen Berufung hat die Beklagte unter Vorlage einer Einwilligungserklärung der Klägerin Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 29 Abs. 3 RVO und des § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Entgegen der Auffassung des SG beginne die Fälligkeit der Rentenansprüche i.S. des § 29 Abs. 5 RVO mit der Entstehung des jeweiligen Anspruchs (Hinweis u.a. auf den Vorlagebeschluß des 5. Senats des BSG vom 29. Juli 1971 - Az. 5 RJ 63/70). Ein Verfahrensmangel liege insofern vor, als das SG von einer rechtswirksamen Zurücknahme der Klage gegen den Bescheid vom 18. November 1969 ausgegangen sei, obwohl vor der Rücknahmeerklärung der Widerspruchsbescheid nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden sei. Für eine neue Klage gegen den Widerspruchsbescheid sei daher kein Raum gewesen. Die Verfahrensweise des SG beschwere die Beklagte in gebührenrechtlicher Hinsicht.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 18. November 1969 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1970 zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten i.S. des § 166 Abs. 2 SGG vertreten.
II
Die nach § 161 i.V.m. § 150 Nr. 1 SGG zulässige Sprungrevision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das SG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden muß.
Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente seit 1. Januar 1957 besteht. Dagegen steht der Rechtsauffassung des SG, daß die seitdem bis zum September 1965 entstandenen Einzelansprüche nicht verjährt seien, die Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 21. Dezember 1971 (GS 4/71) entgegen. Danach tritt die Fälligkeit i.S. des § 29 Abs. 3 RVO in der Regel mit der Entstehung des Rentenanspruchs ein, so daß auch die vierjährige Verjährungsfrist nach dieser Vorschrift mit der Entstehung des Anspruchs beginnt.
Die Erhebung der Verjährungseinrede steht im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers (vgl. BSG in SozR Nr. 16 zu § 79 SGG). Allerdings sind Fälle denkbar, in denen für die Ausübung des Ermessens kein Raum ist (vgl. hierzu Urteil des 5. Senats vom 23.3.1972 - Az.: 5 RJ 63/70). Gegenüber der Einrede der Verjährung käme eine unzulässige Rechtsausübung aber nur dann in Betracht, wenn die Beklagte eine Tätigkeit entfaltet oder Maßnahmen getroffen hätte, welche die Klägerin veranlaßt hätten, verjährungsunterbrechende Schritte zu unterlassen (vgl. BVerwG-Urteil vom 26.1.1971 in Samml. BVerwG Nr. 4 zu 232 § 155 BBG). An einem derartigen eigenen Tun der Beklagten fehlt es indes gerade. Vielmehr ist die verspätete Antragstellung - wie sich aus einem Schreiben der Klägerin an den Beschwerdeausschuß des Bayerischen Landtags ergibt - allein darauf zurückzuführen, daß die Klägerin von ihrer Anspruchsberechtigung erst durch Presseartikel erfahren hat.
War somit die Beklagte nicht gehindert, ihr Ermessen bei der Erhebung der Verjährungseinrede auszuüben, so kann diese Ermessensentscheidung im Rechtswege nur darauf geprüft werden, ob die Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das SG hat in Anbetracht seiner abweichenden Rechtsauffassung nicht geprüft, ob die Beklagte bei der Erhebung der Verjährungseinrede die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten hat. Da diesbezügliche Feststellungen fehlen, kann das Revisionsgericht nicht selbst entscheiden. Das SG wird nunmehr die Ermessensentscheidung der Beklagten unter Beachtung der Ausführungen im Beschluß des Großen Senats aaO, wonach u.a. bloße Rechtsunkenntnis des Beklagten der Verjährungseinrede nicht entgegensteht, noch zu prüfen haben.
Da die Sprungrevision bereits wegen der vom SG zugelassenen Berufung (§ 150 Nr. 1 SGG) gemäß § 161 SGG statthaft und nach den angeführten Gründen die Zurückverweisung des Rechtsstreits geboten ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), kann offen bleiben, ob auch der von der Revision gerügte wesentliche Verfahrensmangel vorliegt. Im übrigen besteht für die Beklagte die Möglichkeit, hinsichtlich der geltend gemachten Beschwer "in gebührenrechtlicher Hinsicht" eine Entscheidung nach § 190 SGG herbeizuführen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen