Entscheidungsstichwort (Thema)

Silikose als Berufskrankheit. wesentlicher Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

1. Eine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf ist Voraussetzung für die Anerkennung einer Silikoseerkrankung als Berufskrankheit.

2. Wird mit der Revision die Verletzung formellen Rechts gerügt, so kommt es für die Beurteilung, ob das Berufungsverfahren an einem wesentlichen Verfahrensfehler leidet, auf den - richtigen oder unrichtigen - sachlich-rechtlichen Standpunkt des Berufungsgerichts an.

 

Normenkette

BKVO 6 Anl 1 Nr. 34 Fassung: 1961-04-28

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 29.04.1966)

SG Speyer (Entscheidung vom 10.05.1965)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. April 1966 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist die Rechtsnachfolgerin ihres am 27. Dezember 1969 verstorbenen Ehemannes V H. Der Ehemann der Klägerin (H.) war von Beruf Maurer und bezog eine ihm mit Bescheid vom 14. Juni 1961 ab 1. Januar 1961 von der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz bewilligte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Außerdem erhielt er eine Versorgungsrente wegen einer Wehrdienstbeschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H.

Am 26. Oktober 1961 erstattete der Lungenfacharzt Dr. R eine ärztliche Anzeige über das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 35 der Anlage zur 6. Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 28. April 1961 - Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose - und gab dazu an, daß bei H. leichte silikotische Veränderungen und ein positiver Sputumbefund vorlägen. Nach einer Untersuchung und Begutachtung des H. lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. August 1963 eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Sie begründete dies damit, daß nach den klinischen und röntgenologischen Befunden bei H. nur leichte silikotische Veränderungen in der Lunge vorlägen, die keine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung und Kreislauf verursacht hätten. Es bestehe auch kein Anhalt für eine aktive Lungentuberkulose. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht Speyer durch Urteil vom 10. Mai 1965 abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung des H. hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 29. April 1966 zurückgewiesen.

In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Lunge des H. weise Veränderungen auf, die medizinisch den Schluß auf das Vorliegen einer Silikose (Quarzstaublunge) rechtfertigten. Es könne davon ausgegangen werden, daß H. an einer Silikose leide, die von den Sachverständigen teilweise als erstgradig, teilweise als erst- bis zweitgradig bezeichnet werde. Es sei auch die Wahrscheinlichkeit nachgewiesen, daß H. aufgrund seines beruflichen Werdeganges - er habe in den Jahren 1945 bis 1958 als Ofenmaurer mit feuerfesten Steinen gearbeitet -, der Gefahr einer Staublungenerkrankung ausgesetzt gewesen sei und sich die Silikoseerkrankung durch seine Berufstätigkeit zugezogen habe. Dennoch liege bei ihm keine Berufskrankheit vor, da die berufsbedingte Feststellung einer Silikose nicht ausreiche, eine Berufskrankheit im Sinne der Nummern 34 oder 35 der 6. BKVO anzuerkennen. Eine Berufskrankheit nach Nr. 35 der 6. BKVO sei schon deshalb ausgeschlossen, weil hierzu außer der Silikose auch noch eine aktive Lungentuberkulose nachgewiesen werden müsse. Eine solche Krankheit sei jedoch bei H. nicht festzustellen. Aber auch die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit im Sinne der Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO seien nicht erfüllt. Hierzu reiche nicht jede silikotische Veränderung aus. Eine Berufskrankheit sei vielmehr erst dann gegeben, wenn die silikotischen Veränderungen zu einer leistungsmindernden Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf geführt hätten, so daß klinisch an Herz und Lunge ein Befund erhoben werden könne, der einen Krankheitswert habe und eine MdE von mindestens 20 v. H. bedinge. Eine solche Atmung und Herz betreffende, durch Silikose verursachte Leistungsminderung sei bei H. nicht festzustellen. Selbst wenn man davon ausgehe, daß bei ihm ein leichtes Emphysem vorliege, so könne nach den übereinstimmenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. S und Dr. K nicht angenommen werden, daß das Emphysem eine Folge der alten silikotischen Veränderungen sei. Damit lasse sich also, auch wenn man davon ausgehe, daß die Atemfassungskraft des H. vermindert sei, diese krankhafte Veränderung nicht auf die Silikose zurückführen. Jedenfalls lasse sich die Leistungsminderung, die von der Lungenfunktion des H. ausgehe, nicht mit einer MdE von 20 v. H. bewerten. Damit aber fehle es an der Voraussetzung für die Anerkennung einer Berufskrankheit im Sinne der Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO. Aus diesem Grunde könne H. keinen Anspruch auf eine Rente nach § 559 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (RVO aF), dem heute § 581 RVO idF nach dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes entspreche (RVO nF), geltend machen. Auch wenn nach dieser Vorschrift bereits eine Schädigung durch eine Berufskrankheit in Höhe einer MdE von 10 v. H. ausreiche, falls, wie bei H., bereits eine Wehrdienstbeschädigung von 30 v. H. vorhanden sei, so sei dies unerheblich. Eine Silikose im Sinne der Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO sei nämlich erst dann als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn die durch sie bedingte körperliche Beeinträchtigung den Grad einer MdE von 20 v. H. erreiche.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 545, 559 a RVO aF in Verbindung mit Nr. 27 a der Anlage zur 5. BKVO, der §§ 551, 581 RVO nF in Verbindung mit Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO sowie der §§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie führt dazu aus: Zu Unrecht sei das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß eine Silikose im Sinne der Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO (= Nr. 27 a der Anlage zur 5. BKVO) erst dann als Berufskrankheit anerkannt werden könne, wenn die dadurch bedingte körperliche Beeinträchtigung den Grad der MdE von 20 v. H. erreicht habe. Beim Vorhandensein einer Stütz-MdE im Sinne des § 581 Abs. 3 RVO nF könne eine Verletztenrente aufgrund der Staublungenerkrankung auch gezahlt werden, wenn dadurch nur eine MdE von 10 v. H. bedingt sei. Wenn dies jedoch zutreffe, habe das LSG seine Sachaufklärungspflicht nach den §§ 103, 106 SGG und zugleich § 128 SGG verletzt, weil es eine Beweisaufnahme darüber als entbehrlich angesehen habe, ob eine MdE von weniger als 20 v. H. bei dem Ehemann der Klägerin aufgrund der Staublungenerkrankung vorgelegen habe.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Rechtsanwendung durch das LSG für zutreffend und meint im übrigen, daß es auf die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage im vorliegenden Rechtsstreit nicht ankomme. Die Klägerin übersehe nämlich, daß das Berufungsgericht unangefochten und für das Revisionsgericht bindend festgestellt habe, es sei bei H. eine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf überhaupt nicht festzustellen. Angesichts dieser Feststellung komme es daher nicht darauf an, ob beim Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung diese mindestens den Grad einer MdE von 20 v. H. erreicht haben müsse, um als Berufskrankheit im Sinne der Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO anerkannt werden zu können.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

Es kann dahinstehen, ob das LSG, wie die Revision meint, die gesetzlichen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO deshalb verkannt hat, weil es angenommen hat, die leistungsmindernde Beeinträchtigung müsse eine MdE von mindestens 20 v. H. verursacht haben. Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es nämlich auf diese Frage nicht an, weil nach den unangefochtenen und das Revisionsgericht deshalb bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des Berufungsgerichts keine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf durch die silikotischen Veränderungen bei H. nachgewiesen ist. Die Feststellung einer solchen leistungsmindernden Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf ist aber in jedem Fall Voraussetzung für die Anerkennung einer Silikoseerkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO (BSG, SozR Nr. 17 zu § 45 RKG; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. II S. 490 u I ff.).

Das Berufungsgericht hat - entgegen der Auffassung der Revision - festgestellt, daß eine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf nicht vorliege. Dies ergibt sich aus den Ausführungen auf Seite 11 und 12 des angefochtenen Urteils. Im letzten Absatz der Seite 11 wird nämlich ausgeführt, daß zwar der Sachverständige Dr. V aufgrund der von ihm durchgeführten spirometrischen Messungen und des EKG-Befundes in seinem Gutachten vom 30. Mai 1963 eine solche Atmung und Herz betreffende Leistungsminderung habe feststellen wollen, seine Ausführungen hätten jedoch nicht überzeugt, weil sie durch das Gutachten der Sachverständigen Dr. Z, Dr. S und auch die Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearztes Dr. K widerlegt worden seien. Es wird dann auf Seite 12 der Urteilsgründe noch auf die Ausführungen von Dr. Z und Dr. S verwiesen, daß von einer erheblichen Verminderung der Atemfassungskraft bei H. nicht gesprochen werden könne und Dr. Z darüber hinaus der Auffassung sei, daß bei H. überhaupt kein Lungenemphysem vorliege. Danach kommt das LSG zu der Feststellung: "Selbst wenn man aber dieser Ansicht nicht folgt und mit den Sachverständigen Dr. S und Dr. K davon ausgeht, daß bei dem Kläger ein leichtes Emphysem vorliegt, so kann aber nach den übereinstimmenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. S und Dr. K dazu nicht angenommen werden, daß das Emphysem eine Folge der alten silikotischen Veränderungen ist. Damit läßt sich also, auch wenn man davon ausgeht, daß die Atemfassungskraft des Klägers vermindert ist, diese krankhafte Veränderung nicht auf die Silikose zurückführen". Diese Ausführungen lassen erkennen, daß das LSG aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der Beweiswürdigung zu der Feststellung gekommen ist, daß bei H. durch die berufsbedingte Silikose keine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf eingetreten sei. Die weiteren Ausführungen des LSG auf Seite 12 und 13 des angefochtenen Urteils beginnen mit dem Satz: "Jedenfalls läßt sich aber die Leistungsminderung, die von der Lungenfunktion des Klägers ausgeht, nicht mit einer MdE von 20 v. H. bewerten". Sie leiten damit eine Hilfsbegründung ein. Wenn man entgegen den vom LSG getroffenen Feststellungen von einer silikosebedingten Beeinträchtigung der Atmung des H. auszugehen hätte, so erreicht diese nach Auffassung des Berufungsgerichts jedenfalls nicht den Grad einer MdE von 20 v. H. Auf Seite 13 kommt deshalb das Berufungsgericht zu dem Schluß, daß bei H. auf jeden Fall "keine durch die Silikose bedingte Leistungsminderung festzustellen (ist), die den Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. mindern würde". Die weiteren Ausführungen auf Seite 13 und 14 über einen Anspruch auf eine Rente nach § 581 Abs. 3 RVO nF sind auch nur auf der Grundlage der Hauptbegründung des LSG zu verstehen; sie wollen nicht die zuvor getroffene Feststellung in Zweifel ziehen, daß keine Atmung und Kreislauf beeinträchtigende Leistungsminderung vorliege.

Die Feststellung des LSG, daß bei H. keine leistungsmindernde Beeinträchtigung der Atmung oder Kreislauffunktion vorliege, ist gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend, weil die Revision gegen diese Feststellung keine Verfahrensrüge erhoben hat. Soweit sie in anderer Hinsicht die Verletzung formellen Rechts rügt, übersieht sie, daß es für die Beurteilung, ob das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, auf den - richtigen oder unrichtigen - sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG ankommt (BSG 2, 84, 87). Die Klägerin läßt aber in der Revisionsbegründungsschrift, Seite 6 unter III, erkennen, daß sie bei ihren Verfahrensrügen gerade nicht von dem Rechtsstandpunkt des Berufungsgerichts ausgeht, sondern von der nach ihrer Ansicht richtigen Auslegung der Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO. Diese Rügen können deshalb keinen Erfolg haben.

Nach allem kommt es somit auf die von der Revision aufgeworfene Rechtsfrage angesichts der bindenden Feststellungen des LSG nicht an. Da eine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf bei H. durch die berufsbedingte Silikose nicht festgestellt worden ist, kann schon aus diesem Grunde die Revision der Klägerin keinen Erfolg haben.

Ob aufgrund des Obduktionsbefundes des Pathologischen Instituts in K vom 17. Februar 1970 Anlaß zu einer Neufeststellung nach § 627 RVO besteht, hatte das Revisionsgericht nicht zu entscheiden. Dies ist nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens. Hierüber wird auf den von der Klägerin im Schriftsatz vom 4. September 1970 gestellten Antrag hin zunächst die Beklagte zu befinden haben.

Die Revision muß daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654255

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