Verfahrensgang
SG Dortmund (Urteil vom 05.02.1975) |
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 5. Februar 1975 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger bezieht wegen Verlustes beider Vorfüße nach Erfrierungen eine Beschädigtenrente. Die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) ist unter Beachtung einer besonderen beruflichen Betroffenheit auf 70 v.H. geschätzt worden. Außerdem erhält der Kläger Berufsschadensausgleich. Im April 1971 wurde der Versorgungsbehörde bekannt, daß der Kläger seit April 1970 von seiner Arbeitgeberin, der Stahlwerke B. AG, eine Werkspension von monatlich 88,– DM bezog. Nach der betrieblichen Pensionsordnung (§ 18) wird diese Leistung nur unter der Bedingung gewährt, daß sie dem Berechtigten persönlich ungekürzt zugute kommt. Weiter heißt es dort: Werde die Werkspension „von irgendeinem Dritten auf eine Rente, Unterstützung usw. angerechnet, auf die der nach dieser Pensionsordnung Bezugsberechtigte ohne Bezug der Versorgungsleistung seitens der Gesellschaft Anspruch haben würde, so ist die Gesellschaft berechtigt, ihre Versorgungsleistungen insoweit zu kürzen oder einzustellen”.
Dessen ungeachtet ermittelte das Versorgungsamt das Bruttoeinkommen des Klägers unter Hinzurechnung der Werkspension und stellte eine Überzahlung von Berufsschadensausgleich von 564,– DM fest (Bescheid vom 30. Juni 1971). Daraufhin stellte die Arbeitgeberin rückwirkend vom 1. April 1970 die Zahlung der Werkspension ein und forderte vom Kläger 647,– DM zurück. Auch danach hielt die Versorgungsverwaltung an ihrer Auffassung fest, daß die Werkspension bei Bemessung des Berufsschadensausgleichs als derzeitiges Einkommen anzusetzen sei (Bescheid vom 25. November 1971; Widerspruchsbescheid vom 7. August 1972). Dazu stützte sie sich auf § 9 Abs. 4 Satz 2 der Durchführungsverordnung (DVO) zu § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 28. Februar 1968 (BGBl I, 194), wonach eine Minderung des derzeitigen Bruttoeinkommens außer acht bleibt, wenn der Beschädigte ohne verständigen Grund Ansprüche auf Geldleistungen aus einer früheren oder gegenwärtigen unselbständigen Tätigkeit nicht geltend macht. Dafür, daß der Beschädigte seine Rechte gegen die Arbeitgeberin mit Erfolg durchsetzen könne, bezog sich die Versorgungsverwaltung auf § 83 BVG, die Vorschrift, mit der untersagt wird, daß Versorgungsbezüge auf das Arbeitsentgelt angerechnet werden.
Vor dem Sozialgericht (SG) schlossen die Beteiligten einen Teilvergleich, in dem der Beklagte sich bereit erklärte, für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1971 Berufsschadensausgleich ohne Rücksicht auf die Werkspension zu gewähren. Der Klage, mit welcher der Kläger nunmehr den ungeschmälerten Berufsschadensausgleich vom 1. Januar 1972 an begehrt, hat das SG stattgegeben (Urteil des SG Dortmund vom 5. Februar 1975). Das SG hat Verständnis dafür, daß der Kläger keinen Prozeß gegen seine Arbeitgeberin führen wolle. Er sei seit langen Jahren bei dieser Firma beschäftigt; mehrere seiner Angehörigen stünden ebenfalls zu ihr in einem Arbeitsverhältnis, er befürchte, wenn auch objektiv unbegründet, von einem Vorgehen im Prozeßwege berufliche Nachteile. Hinzu komme, daß er rechtsunkundig sei und die Erfolgsaussichten eines solchen Prozesses nicht zu überschauen vermöge. Seine inneren. Hemmungen gegen die Anstrengung eines Rechtsstreits gegen die Arbeitgeberin würden auch nicht dadurch überwunden, daß der Beklagte die Kosten eines solchen Prozesses übernehmen wolle.
Der Beklagte hat – mit Übergehung der Berufungsinstanz – die – von dem Vorsitzenden des SG nachträglich durch Beschluß zugelassene – Sprungrevision eingelegt. Er wendet sich gegen die Ansicht, daß die Umstände des Falles, die weitgehend auf die Persönlichkeit des Klägers und seine subjektive Einstellung zurückzuführen seien, den Tatbestand des „verständigen Grundes” (§ 9 Abs. 4 Satz 2 VO aF zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG) erfüllten. Ferner vertritt er die Auffassung, daß die in Rede stehende betriebliche Pensionsordnung nichtig sei, soweit sie die Schmälerung der betrieblichen Leistungen mit Rücksicht auf versorgungsrechtliche Bezüge betreffe (§ 83 BVG, § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuches –BGB–). Im übrigen werde die Werkspension auch nicht in vollem Umfang auf den Berufsschadensausgleich „angerechnet”. Vielmehr werde die betriebliche Leistung von monatlich 88,– DM bloß als Teil des derzeitigen Bruttoeinkommens in Rechnung gestellt, was zu einer Minderung des Berufsschadensausgleichs um monatlich nur 35,– DM führe.
Der Beklagte beantragt,
das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen;
hilfsweise:
die Revision zurückzuweisen.
Zunächst wirft der Kläger die Frage auf, ob die Sprungrevision wirksam durch den Vorsitzenden der Kammer des SG zugelassen werden konnte. Zur Sache vertritt der Kläger die Meinung, daß das Verhalten der Versorgungsverwaltung zur Anrechnung fiktiver Einkommen führe. Dem Arbeitgeber habe es jedenfalls freigestanden, die Gewährung der Werkspension und ihre Voraussetzungen mit dem Kläger so wie geschehen oder auch gar nicht zu vereinbaren.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Das Revisionsverfahren ist dem Beklagten eröffnet, weil das Bundessozialgericht (BSG) an die Zulassung des Rechtsmittels gebunden ist (§ 161 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–). Allerdings ist die Sprungrevision lediglich von dem Vorsitzenden der Kammer des SG zugelassen worden. Dagegen könnte das Bedenken zu erheben sein, daß für die Rechtsmittelzulassung nach § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG das Gericht zuständig ist, also die Kammer in der Besetzung mit dem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig zu werden hatte (§ 12 Abs. 1 SGG). Die Erwägungen dazu sind in dem Urteil des BSG vom 17. Dezember 1975 – 2 RU 77/75 – erörtert worden. Dort ist zugleich dahin erkannt worden, daß wegen der bestehenden Auslegungszweifel die Rechtsmittelzulassung nicht offensichtlich gesetzwidrig sei. Nur wenn es so wäre, könnte aber die Bindung des BSG an den Beschluß des erstinstanzlichen Vorsitzenden in Frage zu stellen sein. Ob diese Bindung nicht sogar ausnahmslos besteht (§ 161 Abs. 2 Satz 2 SGG), könnte dahingestellt bleiben (BSG aaO). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an.
Die somit statthafte Revision ist begründet.
Zu dem Bruttoeinkommen des Klägers, von dem bei Ermittlung des Berufsschadensausgleichs gemäß § 30 Abs. 3 und 4 BVG auszugehen ist, gehört auch die aufgrund einer Betriebsvereinbarung zu gewährende Werkspension (so zur älteren Rechtslage: BSG 2, 10 ff; 3, 246; SozR Nr. 5 zu § 51 BVG). Das Bruttoeinkommen umfaßt nach § 9 Abs. 1 Buchst. a DVO aF zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert aus einer früheren oder gegenwärtigen unselbständigen Tätigkeit. Hierunter fallen nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 der oa VO insbesondere Ruhegelder und andere Bezüge sowie Vorteile aus früheren Dienstleistungen. Von solchen Einkünften ist bei Festsetzung des Berufsschadensausgleichs auch dann auszugehen, wenn ein Anspruch hierauf zwar nicht erfüllt, aber von dem Kriegsbeschädigten ohne verständigen Grund nicht geltend gemacht wird (§ 9 Abs. 4 Satz 2 VO). Mit der Formel vom verständigen Grund wird, wo immer sie im Gesetz gebraucht ist (zB § 44 Abs. 5 Satz 3, § 16 f Abs. 4 Satz 2 BVG, § 1 Abs. 2 Satz 1 VO zu § 33 BVG), eine objektive Betrachtungsweise verknüpft. Diese gebietet eine Abwägung der Belange sowohl des einzelnen als auch der Allgemeinheit, und zwar im Hinblick auf den jeweils mit der maßgebenden Gesetzesnorm verfolgten Zweck (BSG, Urteil vom 11. Juni 1974 – 9 RV 72/73, Urteil vom 8. März 1966 = BVBl 66, 119; BSG 25, 262, 266; Urteil vom 14. Oktober 1970 – 10 RV 336/68 = BVBl 71, 81; speziell in bezug auf den hier anzuwendenden § 9 Abs. 4 DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG: BSG, Urteil vom 22. Oktober 1973 – 10 KV 456/72). Als „verständig” wird ein Beweggrund nicht angesehen, für den allein die Angelegenheiten und Wünsche des einzelnen leitend sind; so wenn er einen eigenen Vorteil wahrnimmt oder sich lediglich vor persönlichen Nachteilen bewahren möchte (BSG in BVBl 1966, 119, 120). Diesen Anforderungen eines „verständigen Grundes” wird das Verhalten des Klägers nicht gerecht. Er fürchtet – übrigens ohne konkreten Anlaß – eine Verärgerung seiner früheren Arbeitgeberin, wenn er seinen Anspruch auf eine Werkspension im Rechtsweg durchsetzte. Außerdem beruft er sich darauf, daß er mangels Rechtskenntnis den Ausgang eines Prozesses gegen die Arbeitgeberin nicht abzuschätzen wisse. Die Argumente, die der Kläger vorbringt, sind ausschließlich von seiner Person her und aus seiner individuellen Situation zu erklären. Es sind keine Gesichtspunkte angeführt, die vernünftigerweise jedermann hindern könnten, Leistungsansprüche der hier in Rede stehenden Art zu verfolgen. Es fehlt also für den durchschnittlichen Betrachter bei objektiver Würdigung am verständigen Grund, ohne daß es auf eine Abwägung der privaten und der allgemeinen Interessen ankommt. Infolgedessen muß der Kläger sich einen solchen Anspruch wie derzeitiges Bruttoeinkommen entgegenhalten lassen. Der durch die wehrdienstbedingte Schädigungsfolge hervorgerufene Einkommensverlust ist demgemäß geringer zu veranschlagen.
Bei der dem Kläger somit zumutbaren Geltendmachung seines Anspruchs auf Auszahlung der Werkspension kann er sich auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu § 83 BVG berufen. Hiernach ist es mit § 83 BVG unvereinbar, daß die dem Kläger zugesagte betriebliche Leistung aus den in § 18 Abs. 2 der Pensionsordnung angeführten Gründen eingestellt wird (BAG 8, 359; BAG, Urteil vom 30. Oktober 1974 – 4 AZR 41/74; ferner für einen Spezialfall: BAG, Urteil vom 9. Mai 1973, AP Nr. 2 zu Art. 47 BayBesG). Von der Weitergewährung der Werkspension ist schon deshalb auszugehen, weil von dieser Leistung und ihrem Umfang die Höhe des Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG abhängt. Durch ein Vorgehen wie das der Arbeitgeberin des Klägers wird das Verhältnis von Arbeitsentgelt und Entschädigung nach dem BVG, so wie dieses Verhältnis vom Gesetz gewollt ist, in sein Gegenteil verkehrt. Mit dem Berufsschadensausgleich soll für den durch die Schädigungsfolge hervorgerufenen Einkommensausfall ein Äquivalent gegeben werden. Dessen bedarf es nicht, sofern und soweit der Beschädigte durch Arbeit Einkünfte erzielt. In diesem Umfang treten eben keine wirtschaftlichen Folgen der Schädigung ein. Andererseits soll die Arbeitsleistung ohne Rücksicht darauf abgegolten werden, was der Beschädigte aus der Kriegsopferversorgung erhält. Wäre es anders, könnten die Einnahmen aus beruflicher Tätigkeit keine Berechnungsgröße für die Bestimmung des Berufsschadensausgleichs sein. Diese Einnahmen können nur dann als Maßstab für die Berechnung der Versorgungsbezüge dienen, wenn sie nicht in ihrem Umfang selbst von diesen Bezügen beeinflußt sind. Arbeitsentgelte sind mithin von Versorgungsbezügen getrennt zu halten; sie dürfen mit diesen nicht verquickt werden (vgl. BAG 8, 359, 360 f.). Sonst würde die im BVG vorgeschriebene Systematik der Gesetzesanwendung gestört und wäre die mit den Versorgungsbezügen verfolgte Zielsetzung nicht erreichbar. Deshalb soll dem Beschädigten das Arbeitsentgelt, das er erhalten würde, wenn er keine Versorgungsbezüge zu bekommen hätte, ganz verbleiben (BAG 8, 361). Von diesem Grundgedanken her ist § 83 BVG zu verstehen und zu interpretieren. Nach dieser Vorschrift dürfen bei Bemessung der Arbeitsentgelte die Versorgungsbezüge nicht zum Nachteil des Beschädigten berücksichtigt werden. Der Ausdruck „Arbeitsentgelt” ist weit auszulegen, nicht nur auf Lohn oder Gehalt zu beschränken, vielmehr auch auf solche Pensionszahlungen zu erstrecken, die mit Rücksicht auf eine frühere Tätigkeit erbracht werden oder zu erbringen wären. Dies folgt einmal aus der Rechtsprechung zum betrieblichen Ruhegeld (BAG 24, 177, 183, BAG, Beschluß vom 22. Juni 1975 – 3 ABR 13/74 –) und ist außerdem in bezug auf den gegenwärtigen Zusammenhang für die hier strittige Zeit vom 1. Januar 1972 an durch Satz 2 des § 83 BVG klargestellt (Art. 1 Nr. 36, Art. 3 § 5 des 3. Anpassungsgesetzes -KOV vom 16. Dezember 1971, BGBl I, 1985). Ob das gleiche auch schon für die Zeit vorher galt (so BAG 8, 359; 362; Urteil vom 30. Oktober 1974 – 4 AZR 41, 74), kann dahingestellt bleiben. „Arbeitsentgelte” sind außerdem nicht nur streng geschuldete, sondern auch sogenannte freiwillige Zuwendungen, die in Ausgestaltung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers vorgenommen werden (BAG 8, 360; Urteil vom 30. Oktober 1974; vgl. auch § 1 Abs. 3 Satz 2 Nr. 6 VO zu § 33 BVG).
Der Anwendung des § 83 BVG auf den gegenwärtigen Streitfall steht nicht entgegen, daß es nicht eigentlich um die „Bemessung des Arbeitsentgelts” und – jedenfalls anfänglich und in erster Linie – nicht um die Anrechnung der Versorgungsbezüge auf die Werkspension ging. Richtig ist, daß – zumindest zunächst – die Werkspension zum Anlaß einer Schmälerung des Berufsschadensausgleichs genommen wurde. Der zu beurteilende Sachverhalt mag auf die Tatbestandsbeschreibung des § 83 BVG nicht buchstäblich passen. Gleichwohl ist die gegenwärtige Sache dieser Norm unterzuordnen. Sinn und Zweck des Gesetzes verlangen dies. Tatsächlich besteht die endgültige Reaktion der Arbeitgeberin denn auch darin, daß sie die Werkspension, und zwar gerade wegen des geringer angesetzten Berufsschadensausgleichs, nicht nur kleiner „bemißt”, sondern überhaupt nicht mehr zahlt. Dieses Handeln mit dieser Begründung verstößt gegen die zwingende Vorschrift des § 83 BVG. Ob das Verhalten der Arbeitgeberin durch die betriebliche Pensionsordnung gedeckt ist, kann hier unbeantwortet bleiben; denn § 83 BVG ist weder tarifvertraglich noch durch eine Betriebs- oder Einzelabrede abzubedingen. Eine § 83 BVG entgegenstehende Vereinbarung ist nichtig (BAG 8, 359, 362 f., zum Verbot der Auszehrung der betrieblichen Altersversorgung im übrigen; § 5 Abs. 2 Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19. Dezember 1974, BGBl I 3610).
Hiernach hat die Versorgungsverwaltung die Werkspension zutreffend als Einkommen des Klägers bewertet und demgemäß den Berufsschadensausgleich festgesetzt. Das dieser Auffassung entgegenstehende Urteil des SG ist aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen