Leitsatz (amtlich)
Nachteile iS des RVO § 581 Abs 2:
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit eines Dozenten an einer Musikakademie (Leiter einer Klavierklasse und eines Seminars für Musikerzieher, Dozent für Klavierliteraturkunde), der nach einem Arbeitsunfall seinen Beruf als Dozent weiterhin ausüben kann, dabei und bei seiner Nebentätigkeit als Solist aber in gewissem Umfang behindert ist, ist nicht gemäß RVO § 581 Abs 2 höher festzustellen.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. Mai 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Kläger ist seit 20 Jahren als Dozent an der Musikakademie H tätig. Am 7. Januar 1971 erlitt er im Gebäude der Musikakademie einen Unfall und brach sich den kleinen Finger der linken Hand.
Nach Beendigung der Heilbehandlung führte Dr. S in seinem Gutachten vom 18. Juni 1971 aus, es bestehe noch eine deutlich erkennbare vermehrte Schwellung am 4. und 5. Finger mit leichter Gewebeverhärtung. Die Spanne vom Daumen bis zum 5. Finger betrage bei der linken Hand des Klägers 18,5 cm und bei seiner rechten Hand 20,5 cm. Mit der Spanne von 18,5 cm könne eine Oktave auf dem Klavier oder auf der Orgel nicht mehr exakt und schnell genug gegriffen werden. In seinem Gutachten vom 30. November 1971 kam Dr. S zu dem Ergebnis, es sei eine geringe Besserung der Beweglichkeit und der Spreizfähigkeit eingetreten. Die Besserung sei aber in dem Beruf des Klägers für den Gebrauch der linken Hand nicht wesentlich. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage weiterhin 20 v. H. Der Kläger könne als Dozent an der Musikhochschule nicht ohne praktisches Vorspielen wirken. Hierbei sei er durch die verbliebenen Unfallfolgen wesentlich behindert.
Mit Bescheid vom 28. Dezember 1971 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente mit der Begründung ab, der Arbeitsunfall habe eine meßbare MdE über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus nicht hinterlassen.
Der Kläger hat gegen diesen Bescheid Klage erhoben und zur Begründung geltend gemacht, die Beklagte habe bei ihrer Entscheidung nicht seine individuelle Sondersituation berücksichtigt. Er sei als Leiter einer Klavierklasse, als Leiter des Seminars für Musikerzieher, als Dozent für Klavierliteraturkunde mit Werkwiedergaben und als Organist der V-kirche in H tätig. Außerdem übe er eine freie pianistische Tätigkeit am Norddeutschen Rundfunk und eine private Tätigkeit als Klavierpädagoge aus. Durch die Verkrümmung des Fingers der linken Hand sei er jedoch nicht mehr in der Lage, bestimmte Literatur wiederzugeben. Die Verkrümmung des Fingers mache einzelne Griffe unmöglich. Dies gelte insbesondere für die moderne Literatur, da er vor allem als Dozent für Klavierliteraturkunde mit Werkwiedergaben demonstrieren müsse.
In einem Teil-Vergleich verpflichtete sich die Beklagte, dem Kläger für die Zeit vom 8. Januar bis zum 28. Februar 1971 eine Rente von 40 v. H. und für die nachfolgende Zeit bis zum 31. Oktober 1971 eine Rente von 20 v. H. der Vollrente zu gewähren.
Durch Urteil vom 5. Juli 1973 hat das Sozialgericht (SG) die Klage auf Rente nach einer MdE um 20 v. H. über den 31. Oktober 1971 hinaus abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente lägen auch unter Berücksichtigung des § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vor.
Der Kläger hat Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 9. Mai 1974 die Berufung zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen u. a. ausgeführt: Nach den Angaben des Klägers wirkten sich die Unfallfolgen dahin aus, daß bestimmte Griffe beim Klavierspiel nicht oder nicht mehr exakt ausgeführt werden können und daß infolgedessen die Wiedergabe bestimmter Teile der Musikliteratur, insbesondere moderner Literatur, nicht mehr möglich sei. Das Gericht habe die Richtigkeit dieser Angaben unterstellt. Die Fähigkeit des Klägers zum Erwerb werde jedoch dadurch nicht meßbar beeinträchtigt. Der Kläger sei seit über 20 Jahren als Dozent an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg tätig. Er wirke dort hauptsächlich als Musikpädagoge. Nach seinen eigenen Angaben und nach den von ihm eingereichten Unterlagen widme sich der Kläger dieser Tätigkeit in erster Linie. Diese sei als sein Hauptberuf anzusehen. Insoweit sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers in der streitigen Zeit nicht betroffen, denn er sei als Dozent in gleicher Weise wie vor dem Unfall tätig. Die Behinderung bei der Gestaltung des Unterrichts durch eigenes Vorspielen könne zwar eine Verminderung der Anschaulichkeit zur Folge haben, jedoch bedeute auch dies keine ins Gewicht fallende MdE. Gerade wegen der hohen künstlerischen Qualifikation und wegen seiner großen beruflichen Erfahrung als Musikpädagoge sei es dem Kläger möglich, seine Tätigkeit trotz der Unfallfolgen fortzusetzen. Eine andere Beurteilung rechtfertige auch nicht der Hinweis des Klägers auf die Wechselwirkung zwischen seinem solistischen Wirken und seiner Arbeit als Hochschullehrer. Die Ausstrahlung für die pädagogische Tätigkeit sei durch das langjährige künstlerische Schaffen des Klägers gewährleistet. Es komme hinzu, daß die Folgen des Unfalls keinesfalls jedes Tätigwerden als Solist ausschlössen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er trägt vor: Bei seiner gesamten beruflichen und künstlerischen Tätigkeit sei er durch die Unfallfolgen im erheblichen Maße behindert. Bestimmte Tastengriffe seien unmöglich geworden, andere vermöge er nicht interpretationsgerecht auszuführen. Sinnfälligster Nachteil sei jedoch die schnelle Ermüdung der verletzten Hand. Er habe seine gesamte berufliche Situation den veränderten Verhältnissen anpassen müssen, was nicht ohne erhebliche Nachteile möglich sei. So habe er als Dozent das Vorspielen und die Wiedergabe von Literaturbeispielen beschränken müssen; an Konzerten könne er nur noch sporadisch unter Einschränkung der künstlerischen Anforderungen teilnehmen, da er den gestellten Anforderungen weder von der Werksauswahl noch von der künstlerischen Qualität nachkommen könne. Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß er 14 Monate vor dem Unfall sein letztes Konzert gegeben habe. Es habe vor allem die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen dem künstlerischen Schaffen und der Tätigkeit als Hochschullehrer verkannt. Es liege in der Natur der Sache, daß derjenige, der an einer Kunsthochschule lehren wolle, zunächst seine Qualifikation durch eigenes künstlerisches Schaffen vorweisen müsse. Gerade in der Kunst sei es aber auch erforderlich, sich dem künstlerischen Zeitgeist nicht nur ständig anzupassen, sondern ihn schöpferisch und selbstgestaltend darzulegen. Das lasse sich bei Tonwerken nur durch die öffentliche, publikumswirksame Wiedergabe erreichen. Da andererseits die Attraktion einer Kunsthochschule von der künstlerischen Qualität der Dozenten unmittelbar abhängig sei, habe seine freiberufliche Tätigkeit unmittelbare Auswirkungen auf sein Lehramt. Er müsse damit rechnen, daß er mit abnehmender Ausstrahlungskraft seines künstlerischen Wirkens von der Hochschule entlassen werde. Er sei schließlich in dieser Hinsicht nicht wie ein beamteter Hochschullehrer gesichert. Gerade diese Gefährdung sei aber bereits ein Nachteil, der sich auf besondere erworbene berufliche Kenntnisse und Erfahrungen beziehe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Änderung des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Juli 1973 und des Urteils des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. Mai 1974 und Aufhebung des Bescheides vom 28. Dezember 1971 zu verurteilen, ihm eine Teilrente in Höhe von 20 % der Vollrente ab 1. November 1971 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Dem Kläger sei es nach der Darstellung in der Revisionsbegründung gelungen, seine gesamte berufliche Situation den veränderten Verhältnissen anzupassen.
II.
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Nach den von der Revision insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG besteht beim Kläger nach der im Rahmen des § 581 Abs. 1 RVO vorzunehmenden Schätzung keine meßbare unfallbedingte MdE. Die Revision meint, ein Rentenanspruch des Klägers bestehe auch für die Zeit nach dem 31. Oktober 1971, weil die Voraussetzungen des § 581 Abs. 2 RVO erfüllt seien und danach die MdE 20 v. H. betrage. Dies hat das LSG jedoch zu Recht verneint.
Nach § 581 Abs. 1 RVO ist dem Verletzten Rente entsprechend dem Ausmaß der MdE zu gewähren. § 581 Abs. 2 RVO verdeutlicht diese Vorschrift dahin, daß bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen sind, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten ausgeglichen werden, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (s. BSG 23, 253, 255; 28, 227, 229; BSG SozR Nr. 9 und 10 zu § 581 RVO; BSG Breithaupt 1966, 392; BSG Urteil vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 169/70), der sich der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) angeschlossen hat (vgl. Urteil vom 22. August 1974 - 8 RU 66/73), hat § 581 Abs. 2 RVO die frühere vom erkennenden Senat weiter entwickelte Rechtsprechung über die Beurteilung der MdE in Fällen besonderer Härte im wesentlichen normiert. Danach kann eine angemessene, nicht etwa die ausschlaggebende Berücksichtigung eines Lebensberufs (BSG 4, 294, 299) bei der Beurteilung der MdE nach den Umständen des Einzelfalles zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt sein. Selbst wenn der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalls seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, hat dies nicht zwangsläufig eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs. 2 RVO zur Folge (BSG 23, 253, 256; BSG SozR aaO; BSG Urteile vom 31. Oktober 1972 und 22. August 1974 aaO). Der Kläger mußte jedoch wegen der Unfallfolgen nicht seine Tätigkeit als Dozent an der Musikhochschule beenden. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt wesentlich von dem, der dem Urteil des erkennenden Senats vom 26. Februar 1957 (BSG 4, 294) zugrunde lag. Dort übte der Kläger seinen Beruf als Musiklehrer nicht mehr aus, und es war noch zu prüfen, ob dies durch die Unfallfolgen mit verursacht war. Der Kläger kann allerdings nach seinen vom LSG als wahr unterstellten Angaben bestimmte Griffe beim Klavierspielen nicht oder nicht mehr exakt genug ausüben. Er ist damit durch die Unfallfolgen stärker getroffen als z. B. in der Regel ein Hochschullehrer für Mathematik, Physik oder für Rechtswissenschaften. Der Grundsatz der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden abstrakten Schadensberechnung (vgl. hierzu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 566 y II ff) stellt es aber grundsätzlich nicht auf die konkrete Beeinträchtigung des Verletzten in seinem Beruf, sondern auf den Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten des Verletzten vor und nach dem Unfall ab (s. BSG 21, 63, 67; Brackmann aaO S. 566 y II). Auch eine höhere Bewertung der MdE im Rahmen des § 581 Abs. 2 RVO setzt deshalb voraus, daß sich die Verletzung, die der Versicherte sich durch den Unfall zugezogen hat, spezifisch auf die Fähigkeit zum Erwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirkt (BSG 23, 253, 255; BSG SozR Nr. 9 zu § 581 RVO; BSG Urteile vom 31. Oktober 1972 und 22. August 1974 aaO). Das ist beim Kläger jedoch auch nach dem vom LSG zugunsten des Klägers unterstellten Sachverhalt nicht der Fall. Ob die MdE des Klägers bei einer - wie die Revision meint - durch eine unfallbedingte "abnehmende Ausstrahlungskraft seines künstlerischen Wirkens" wesentlich vorzeitigen Aufgabe oder wesentlichen Einschränkung seiner Tätigkeit als Dozent höher zu bewerten wäre, kann hier dahinstehen. Die von der Revision aufgezeigte Möglichkeit eines späteren Eintritts dieser Umstände erlaubt es jedenfalls nicht, schon jetzt die MdE entsprechend höher zu bewerten. Die MdE des Klägers ist auch nicht unter Berücksichtigung des § 581 Abs. 2 RVO mit 20 v. H. zu bewerten, weil der Kläger - wiederum nach seinen auch vom Senat als wahr unterstellten Angaben - wegen der Unfallfolgen weniger Konzerte geben kann. Dabei kann der Senat zugunsten des Klägers nach dessen Vorbringen im Revisionsverfahren davon ausgehen, daß der Kläger bis zu seinem Unfall wie in früheren Jahren Konzerte gegeben hat. Den im übrigen nicht wirksam mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG ist nicht zu entnehmen, daß der Kläger durch die Einschränkung seiner Konzerttätigkeit in der Fähigkeit zum Erwerb auf dem hier maßgebenden Gesamtgebiet des Erwerbslebens so spezifisch getroffen ist, daß eine damit verbundene unbillige Härte im Rahmen des § 581 Abs. 2 RVO durch eine Bewertung seiner unfallbedingten MdE mit 20 v. H. angemessen zu berücksichtigen wäre. Dies gilt auch hinsichtlich eines damit verbundenen Minderverdienstes des Klägers. Der Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung bedeutet auch, daß die Verletztenrente nicht den tatsächlichen Minderverdienst ausgleichen soll, was für die Rentenberechtigten - im großen und ganzen - einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bedeutet (s. BSG 28, 227, 229; Brackmann aaO S. 568 k). Diese die Unfallversicherungsrentenbezieher generell begünstigende Tendenz dadurch anzutasten, daß anstelle der abstrakten Schadensbemessung eine mehr auf im Einzelfall feststellbaren konkreten Schaden ausgerichtete Beurteilung der MdE eingeführt wird, wäre mit der - sozial grundsätzlich begrüßenswerten - Wandlung des Entschädigungsbegriffes nicht vereinbar (BSG aaO). Es kann somit dahinstehen, ob eine unfallbedingte Einschränkung der Konzerttätigkeit des Klägers als Nebentätigkeit schon grundsätzlich im Rahmen des § 581 Abs. 2 RVO nicht berücksichtigt werden kann (s. BSG Urteil vom 19. September 1974 - 8 RU 94/73; vgl. aber auch BSG 4, 294, 298).
Das LSG hat somit zutreffend entschieden, daß die unfallbedingte MdE des Klägers auch unter Berücksichtigung des § 581 Abs. 2 RVO nicht über den 31. Oktober 1971 hinaus mit 20 v. H. zu bewerten ist. Die Revision des Klägers war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen