Orientierungssatz

Zur Frage, ob die Zeit des Wehrdienstes vom 1934-11-01 bis 1936-09-30 eines 1913 geborenen Versicherten als Ersatzzeit nach AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) vorzumerken ist.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1950-12-20

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.07.1975; Aktenzeichen L 13 An 36/75)

SG Dortmund (Entscheidung vom 20.12.1974; Aktenzeichen S 10 An 62/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Juli 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der im September 1913 geborene Kläger hat nach dem Abitur (März 1934) vom 1. November 1934 bis 30. September 1936 Wehrdienst geleistet. Hierdurch wollte er die Voraussetzung schaffen für seine anschließende Einstellung als Finanzschüler im Dienst der damaligen Reichszollverwaltung.

Streitig ist (noch), ob diese Zeit des Wehrdienstes als Ersatzzeit vorzumerken ist. Die Beklagte hat das durch Bescheid vom 10. September 1973 (Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 1974) abgelehnt, weil dieser Wehrdienst in Anbetracht des Geburtsjahrganges des Klägers nicht auf Grund gesetzlicher Dienst- (Wehr-)pflicht, sondern auf Grund freiwilliger Meldung geleistet worden sei.

Die Klage blieb ohne Erfolg. Auf die Berufung des Klägers verpflichtete das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte, - unter Zurückweisung der Berufung im übrigen - die Zeit vom 21. Mai 1935 bis 30. September 1936 als Ersatzzeit vorzumerken. Für diesen Zeitraum seien die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) erfüllt. Der Kläger habe den militärischen Dienst während dieser Zeit auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet. Mit dem Inkrafttreten des Wehrgesetzes am 21. Mai 1935 sei der vom Kläger zunächst freiwillig geleistete Militärdienst ein solcher auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht geworden (§ 36 Abs. 3 des Wehrgesetzes). Daß der Kläger als Angehöriger des Geburtsjahrganges 1913 nicht zum Wehrdienst einberufen worden wäre, ändere nichts daran, daß er Wehrdienst geleistet habe. Anders als beim Reichsarbeitsdienst habe der Wehrdienst neben dem aktiven Wehrdienst auch den Wehrdienst im Beurlaubtenstand umfaßt. Auf die Einberufung zum Wehrdienst komme es nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht an, ebensowenig darauf, daß der Kläger ohne freiwillige Meldung möglicherweise später nicht zur Ableistung von Pflichtwehrdienst herangezogen worden wäre.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie verurteilt wurde, die Zeit vom 21. Mai 1935 bis 30. September 1936 als Ersatzzeit vorzumerken, und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG.

Das LSG habe verkannt, daß militärischer Dienst auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht nur bei konkreter Verpflichtung zu einer solchen Dienstleistung geleistet worden sei.

Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Das LSG hat die Zulässigkeit der Klage, die darauf gerichtet ist, die streitige Zeit als Ersatzzeit "vorzumerken" zu Recht bejaht (vgl. BSG 31, 226 sowie die Ausführungen des Senats in der mit Urteil vom heutigen Tage entschiedenen Streitsache 11 RA 130/75). Das LSG ist auch zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, daß die Zeit vom 21. Mai 1935 bis 30. September 1936 als Ersatzzeit zu berücksichtigen ist.

Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG sind Ersatzzeiten "Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist". Der in der streitigen Zeit geleistete Dienst des Klägers war militärischer Dienst im Sinne des § 2 BVG; nach dessen Absatz 1 Buchst. a fällt hierunter jeder nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat. Die Frage ist hier nur, ob der Dienst auch auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden ist; insofern weicht § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG von der Fassung früherer Vorschriften ab (vgl. § 1263 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF, danach mußte es sich um Zeiten handeln, "in denen der Versicherte zur Erfüllung der Wehrpflicht eingezogen gewesen ist").

Mit der Frage, wann ein militärischer Dienst auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden ist, hat sich das Bundessozialgericht (BSG) schon mehrfach befaßt. Für den von Berufssoldaten geleisteten Dienst haben der erkennende und der 1. Senat (SozR Nr. 7 und 65 zu § 1251 RVO) einen Dienst auf solcher Grundlage verneint; bei anderen Soldaten hat der 12. Senat (SozR Nr. 54 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr. 8 und Urteil vom 18. Dezember 1975, 12 RJ 130/75) für Zeiten nach dem 20. Mai 1935 militärischen Dienst auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht bejaht, auch wenn der Dienst - gemäß § 8 Abs. 2 des Wehrgesetzes oder sonstwie - freiwillig geleistet worden ist; der 12. Senat hat hierfür genügen lassen, daß der Versicherte den Wehrdienst als Wehrpflichtiger geleistet hat. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis für den vorliegenden Fall an.

Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 (RGBl I 609) hat die Wehrpflicht dahin geregelt, daß jeder deutsche Mann vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März wehrpflichtig gewesen ist, und daß die Wehrpflicht durch den Wehrdienst erfüllt worden ist (§§ 1, 4, 7). Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 bis 4 hat der Wehrdienst a) den aktiven Wehrdienst und b) den Wehrdienst im Beurlaubtenstand umfaßt. Das LSG hat zutreffend ausgeführt, daß der Kläger dem Beurlaubtenstande angehörte; er war Angehöriger der Ersatzreserve (§ 10 Wehrgesetz); als solcher hat er ab 21. Mai 1935 aktiven Wehrdienst im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Wehrgesetzes geleistet, wobei es bedeutungslos ist, daß dieser Dienst zunächst auf ein Jahr beschränkt war und erst später auf zwei Jahre erhöht wurde. Mit diesem Dienst hat der Kläger gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 des Wehrgesetzes "die Wehrpflicht erfüllt". Wehrdienst, durch den die "Wehrpflicht erfüllt" worden ist, muß aber grundsätzlich als "auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet" gelten.

Die Forderung der Beklagten, der Wehrdienst müsse auf Grund einer konkreten Dienstpflicht geleistet sein, findet im Gesetzeswortlaut keine Stütze. Danach kommt es nicht darauf an, ob eine "aktive Dienstpflicht" im Sinne des § 8 des Wehrgesetzes bestand oder bevorstand. Das Gesetz stellt darauf ab, ob die Wehrpflicht die Grundlage des militärischen Dienstes war. Dies war sie aber auch dann, wenn die Dienstleistung neben der Wehrpflicht außerdem auf einem freiwilligen Entschluß des Versicherten beruhte.

Sinn und Zweck des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG gebieten allerdings bei der Anerkennung des von Wehrpflichtigen geleisteten Wehrdienstes als Ersatzzeit Einschränkungen. Im "aktiven Wehrdienst" nach § 7 des Wehrgesetzes standen auch aktive Offiziere, freiwillig länger dienende Unteroffiziere und Mannschaften sowie Wehrmachtsbeamte, die nach Erfüllung der Dienstpflicht als Beamte angestellt wurden (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 3 Nrn. 2 und 3); sie erfüllten mit diesem Wehrdienst gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 des Wehrgesetzes gleichfalls ihre Wehrpflicht. Wie das BSG für Berufssoldaten schon entschieden hat, kann den Friedensdienstzeiten solcher Personen jedoch nicht der Charakter von Ersatzzeiten zugebilligt werden. Wo die Grenze zu ziehen ist, kann hier offen bleiben. Der Kläger hat den Wehrdienst nicht berufsmäßig und nicht über die Zeit einer aktiven Dienstpflicht hinaus geleistet. Aus dem Sinn und Zweck der Ersatzzeitenregelung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG ergibt sich aber kein überzeugender Grund, Wehrdienstzeiten die Anerkennung als Ersatzzeiten bloß deshalb zu versagen, weil der Wehrdienst freiwillig von Personen geleistet worden ist, die wegen ihres Alters (Jahrgangs) zum aktiven Wehrdienst nicht (mehr) herangezogen worden sind oder wären.

Zu Unrecht beruft sich die Beklagte noch auf die Rechtsprechung des BSG zum "freiwilligen Arbeitsdienst" (SozR Nr. 41 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr. 3); diese Rechtsprechung ist hier schon deshalb ohne Bedeutung, weil sie Zeiten betrifft, für die eine Arbeitsdienstpflicht im Sinne der §§ 1, 3 des Reichsarbeitsdienstgesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) noch nicht galt.

Die Revision der Beklagten kann somit keinen Erfolg haben und muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1, Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651136

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